23. Strand
Genervt betrachtete ich mein Handy, aus welchem zuvor noch die Stimme eines Mitarbeiters von mir erklang. Wie ich es gesagt hatte, hatte ich mich danach erkundigt wie es so lief und obwohl ich gebetet hatte, dass es nicht so war, war einem meiner Mitarbeiter ein Ausrutscher passiert und unser neues Produkt wurde von einer potenziellen Partnerfirma abgelehnt, wodurch wir einen großen Verlust gemacht hatten. Panisch hatte er sich bei mir entschuldigt und mich angefleht ihn nicht rauszuschmeißen, es tat ihm leid und ich hatte ein wenig Zeit gebraucht, blieb jedoch ruhig, so wie es sich für einen guten Chef gehörte und erklärte, dass das schon in Ordnung war. Es war ernüchternd zu wissen, dass ohne mich einfach nichts so recht funktionierte und eigentlich war das für mich das Zeichen, dass ich es mir nicht erlauben konnte meine Firma für längere Zeit unbeaufsichtigt allein zu lassen, aber ich durfte keine große Sache daraus machen, schließlich war es nur ein Fehler und das konnte jedem Mal passieren. Natürlich hätte ich genau so etwas vermeiden können, indem ich die Personen ihren Job machen ließ, welche ich dafür eingestellt hatte, aber jeder hatte eine Chance verdient sich zu beweisen und ich gab diese Chancen gerne, auch wenn es manchmal nicht die beste Entscheidung von mir war. Es passierte nicht oft, dass mich jemand enttäuschte und ich vergab auch jedem, wenn der Fehler nicht zu schwerwiegend war und so tat ich es auch dieses Mal, einfach weil es Weihnachten war.
Ich wollte am liebsten nach Berlin fahren, dort befand sich der Hauptsitz meiner Firma, doch ließ ich es Patrick zuliebe bleiben und entschied mich stattdessen dazu wieder runterzugehen, um ein leeres Wohnzimmer vorzufinden. Verwirrt zog ich eine Augenbraue hoch und machte mich auf in die Küche, welche jedoch ebenso leer war wie das Wohnzimmer. Draußen konnte auch niemand sein, da sowohl Patricks als auch Maurices Jacke noch am Haken hingen und da die letzte Möglichkeit ihres Aufenthalts mein früheres Arbeitszimmer war, begab ich mich dorthin. Kein einziges Geräusch war von drinnen zu vernehmen und erst dachte ich, dass auch hier niemand war, aber als ich vorsichtig die Tür öffnete, sah ich etwas unglaublich niedliches. Ganz klein zusammengekugelt saß Maurice auf einem der zwei Sessel, die vor dem Fenster standen und schlief ruhig, so wie ich ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte. Vor ihm auf dem Boden saßen Malu und Patrick, beide malten mit Pinseln auf einer kleinen Leinwand und ich staunte nicht schlecht darüber was da vor Patrick lag, denn das war nicht einfach nur ein einfaches, schlichtes Bild, sondern ein echtes Kunstwerk. Ich wusste nicht was ich von einem Jungen erwartete, welcher sein ganzes Leben lang von Kunst umgeben war und eine ganze Menge darüber lernte, aber das was er da aus dem nichts erschuf war unglaublich schön. Eine friedliche Landschaft mit einem Meer im Hintergrund und der Sonne am Himmel war zu sehen, es sah idyllisch aus und ich war erstaunt was dieser Junge noch alles konnte, von dem ich nichts wusste.
„Hey ihr zwei, das sieht ja toll aus! Darf ich mitmachen?", fragte ich die beiden lächelnd, während ich mich in den Schneidersitz zu ihnen setzte und erschrocken von Patrick angeguckt wurde, dessen Wangen einen rötlichen Schimmer annahmen und welcher ganz schnell wieder wegguckte, als wäre es ihm peinlich. Fröhlich hielt mir meine Tochter ihr Kunstwerk hin, sie hatte mühevoll zwei Personen auf die Wand gebracht und ihnen beiden einen Hut auf den Kopf gemalt, einen in rot und den anderen in blau, was mich grinsen ließ. Es war unglaublich schön zu sehen wie Patrick versuchte etwas mit der Blonden zu machen und sie mit etwas beschäftigte, was nicht elektronisch war. Lobend tätschelte ich mein Mädchen drei Mal auf den Kopf und nahm mir ebenfalls eine noch unbenutzte Leinwand, um auch etwas malen zu können. „Manu?", fragte mich mein neuer Mitbewohner jedoch nur leise, was mich ihn aufmerksam mustern ließ. Seit ich ihn gestern angefleht hatte hier wohnen zu bleiben war er fast schon handsam geworden, er hatte nicht mehr bei mir mit im Bett geschlafen und wirkte viel ruhiger, fast schon ängstlich und ich mochte das nicht, kein bisschen. Mir fehlte der Kleinere hinter mir, wenn ich die Augen aufschlug und sein freches Grinsen vermisste ich auch, welches er mir noch schenkte, bevor ich seine Klamotten bestellt hatte, aber vielleicht brauchte er auch nur ein wenig Zeit um damit klarzukommen, dass er nun hier wohnte und die würde ich ihm auch geben. So lange wie er sich hier wohlfühlte und nicht dachte, dass er irgendwann wieder zurück zu seinem Vater musste, war für mich alles in bester Ordnung. „Maurice hat gesagt, dass du es nicht magst, wenn jemand in diesem Raum ist außer dir...ist es für dich überhaupt in Ordnung, wenn ich hier dauernd herkomme?"
Erstaunt sah ich den Jüngeren an, bevor mein Blick auf den Koch schwenkte. Ich hatte schon lange niemandem mehr erlaubt diesen Raum überhaupt zu betreten, für gewöhnlich kam ich immer nur dann hier her, um einmal in meinem Leben zu entspannen und nichts zu hören, keines meiner Kinder nach mir schreien zu vernehmen oder um nicht mehr zu arbeiten, aber auch das hörte ich irgendwann auf, ich wusste nicht wieso. Mir war einfach nicht danach diesen Raum zu betreten und deshalb befahl ich Michael hier einmal in der Woche Staub zu wischen, damit hier alles so aussah, als wäre niemals etwas passiert und diesen Job machte er wirklich gut. Erst seit Patrick bewusst oder unbewusst hier hineingelaufen war kam ich wieder hier her, der Brünette hatte mich sogar nach Jahren wieder dazu gebracht auf dem Flügel zu spielen und obwohl ich es eigentlich nie mehr wieder tun wollte, fühlte es sich richtig an in diesem Moment es zu tun. Ich hatte den Blick des Braunäugigen auf mir genossen und auch seine vorsichtige Suche nach Nähe danach kam mir gelegen, da vergaß ich glatt, dass ich ihm doch eigentlich gesagt hatte, er solle sich von hier fernhalten. „Ja, das ist völlig in Ordnung, keine Angst! Ich wollte ursprünglich bloß vermeiden, dass du oder meine zwei äußerst neugierigen Kinderchen hier reinkommen und die Fotos sehen, die du gefunden hast, aber da ich die Bilder an einen sicheren Ort gebracht habe, kannst du herkommen wann immer du willst! Das einzige wofür ich dir sehr dankbar wäre ist, wenn du das angefangene Bild dort in Ruhe lassen würdest, ja? Die ganzen Bücher hier darfst du gerne lesen und am Flügel darfst du auch spielen, aber das Bild dort ist mir sehr wichtig und ich möchte, dass es so bleibt wie es ist!"
Nickend sah mich mein Mitbewohner nun wieder an, ein vorsichtiges Lächeln schmückte seine Lippen und zeigte mir, dass er verstanden hatte, was mich beruhigte. „Gut, ich wollte nur nicht, dass du mir deswegen böse bist...", meinte der Jüngere, während er seinen Pinsel in hellblaue Farbe tunkte und einen Strich auf seiner Leinwand zog. „Meinst du, dass dieser Hintergrund hier schön ist, Manu?", fragte mich Patrick gleich darauf, dabei guckte er ein wenig schüchtern und machte große Augen, welche mich sanft zu ihm blicken ließen. Ich fand es toll, dass er meine ehrliche Meinung hören wollte und sich traute danach zu fragen, schließlich war es für viele Personen schon schwer überhaupt die Motivation zu finden jemanden so etwas zu fragen, da es viele Personen auf dieser Welt gab, die mit Kritik nicht so gut umgehen konnten. „Ja, sehr schön sogar! Hast du den Strand abgemalt oder frei aus dem Kopf heraus gemalt? Der sieht unglaublich realistisch aus!", wollte ich wissen und da das Glitzern der Augen meines Mitbewohners nur noch an Stärke zunahm, wusste ich, dass es ihm gefiel so gelobt zu werden. Aus seinen Erzählungen und meiner Recherche zu ihm wusste ich bereits, dass er von seinem Vater noch nie so viel Aufmerksamkeit bekommen hatte und auch mit Lob schien er eher knauserig umgegangen zu sein, deswegen suchte der Franzose nun bei mir danach, weil er wusste, er würde es bekommen. Der Kleine brauchte Liebe und Zuneigung, wollte, dass jemand stolz auf ihn war und ich würde ihm dieses Gefühl vermitteln, egal wie lange es brauchen würde.
„Als ich so vier oder fünf Jahre alt war, da war ich mit meiner Mutter zusammen Mal am Strand in Spanien! Es ist eine der ersten Erinnerungen die ich habe und ich habe es so gut es ging versucht nachzumalen, aber ich war noch ein wenig zu jung um mir alles genau merken zu können, deswegen ist ein wenig davon nur ausgedacht. Du meintest, dass deine Mutter gebasteltes gerne mag und da ich im basteln eine absolute Niete bin, habe ich mir gedacht, dass ich ihr doch einfach etwas malen könnte! Ist vielleicht nicht wirklich weihnachtlich, aber Malu wollte einen Strand und wenn ich fertig bin, darf sie noch etwas drüber malen, das macht das ganze vielleicht ein wenig besser für deine Mutter! Es ist vielleicht nichts großes, aber ich wollte es zumindest versuchen...", erzählte mir Patrick, was mein Herz zum schmelzen brachte. Ich konnte nicht glauben, dass dieser Junge sich wirklich so viele Gedanken darüber machte wie er einen guten ersten Eindruck bei meiner Mutter machen konnte und auch, dass er dieses Meisterwerk einfach aus dem Kopf erschaffen hatte beeindruckte mich sehr, es ließ mich den Kleinen noch einmal in einem komplett anderen Licht erblicken. Er konnte so vieles, hatte eine Begabung für alles was elektronisches anging, er war künstlerisch sehr begabt, beherrschte eine Menge Sprachen und war kinderlieb, dazu besaß er einen stark ausgeprägten Beschützerinstinkt und wurde trotzdem so fertig gemacht von seinem Vater, er hatte etwas besseres verdient als das. Hätte man ihn richtig seinen Interessen und Talenten nach gefördert, wer wusste was aus ihm hätte werden können, was ihm nun verwehrt wurde. Ich sah seine Mühe und seinen Mut, er wusste selbst, dass etwas falsch lief und war deswegen von seinem Vater abgehauen und auch, wenn ich es zu Anfang noch für falsch hielt, schließlich konnte man über alles reden, war es für Patrick das richtige gewesen. Wäre er nicht weggelaufen, wären wir uns unter Umständen niemals begegnet und was auch immer noch passieren würde, ich würde ihn von nun an fördern, egal in welcher Hinsicht und was ich dafür tun musste.
„Patrick, dieses Bild dort ist perfekt und zwar so wie es ist. Hättest du mir dieses Kunstwerk dort zu Weihnachten geschenkt, hätte ich es direkt irgendwo aufhängen lassen und zwar mit und auch ohne etwas, das Malu noch dazu gemalt hat! Meine Mutter wird dich und dieses Bild lieben, versprochen...mach dir nicht so viele Gedanken darum wie du einen guten Eindruck bei meiner Mutter machen kannst, ja? Sei einfach du selbst, dann wird sie dich genauso mögen wie ich...", sprach ich auf den Jüngeren ein, während ich ihn aus sanften Augen ansah und ihn am liebsten umarmen wollte, mich aber nicht traute ihn darauf anzusprechen. Er sollte von allein auf mich zukommen und mit mir kuscheln, ich wollte ihn nicht dazu zwingen oder ihn nötigen mir näherzukommen, allein weil er allein entscheiden sollte was er tat. Dass er als ich krank war bei mir war hieß nicht zwingend, dass er es auch nun noch war, wenn ich gesund war und ich musste das akzeptieren, schließlich wollte ich nicht, dass er sich unwohl in meiner Nähe fühlte oder mich vielleicht sogar nicht mehr mochte. Von Anfang an meinte der Brünette, dass er Körperkontakt zu anderen verabscheute und ich hatte ihn unbewusst dazu genötigt bei mir zu bleiben, das wollte ich nicht mehr tun, nie mehr wieder wollte ich das. „Das Bild ist nicht perfekt, Manu...keine Kunst kann jemals perfekt sein, wie soll das denn funktionieren? Wenn etwas perfekt ist, dann kann niemand mehr etwas daran aussetzen und das ist einfach etwas, was nicht möglich ist. Es wird immer jemanden geben, der sich darüber beschwert wie ich den Pinsel geführt habe oder dass ich es so gemalt habe wie ich es nun mal getan habe und deswegen wird es niemals irgendetwas geben, das perfekt ist. Eigentlich ist es also egal was ich mache, oder?"
Mit fragendem Blick wurde ich gemustert, so als würde der siebzehnjährige tatsächlich wollen, dass ich ihm eine Antwort darauf gab. Natürlich war mir klar, dass es so etwas wie Perfektion nicht geben konnte, denn irgendwo auf der Welt beschwerte sich immer jemand über etwas, was ein anderer tat und doch schien es mir so, als würde er damit sein Werk herunterreden wollten, wenn auch nicht wirklich merklich. Der Kleine dachte gar nicht darüber nach, dass es jemanden gab, der ihn wirklich mochte und es schön fand was er tat, der ihn dafür bewunderte wie stark er war und ihm das auch zeigte. Ich kannte seinen Vater nicht persönlich und wusste nur das, was mein Mitbewohner mir sagte, aber vielleicht konnte ihm sein Vater einfach nur nicht richtig zeigen, was er eigentlich von ihm hielt und deswegen kam es zu Missverständnissen zwischen den beiden, das war gut möglich. „Da hast du recht, nichts kann wirklich perfekt sein, Patrick, aber für mich ist dieses Bild dort perfekt und ich würde mich richtig darüber freuen es geschenkt zu bekommen, wäre ich meine Mutter! Du hast das toll gemacht und solltest deswegen nicht so sehr darüber nachdenken wem gefällt was du machst und wem nicht! Sei ruhig ein wenig stolz darauf, ja? Ich wäre froh so malen zu können wie du...", murmelte ich zum Ende hin und tatsächlich leuchteten die Augen des Franzosen bei meinen Worten auf, was mich glücklich machte. Er sah nun ganz schüchtern weg und lächelte sanft, legte seinen Pinsel beiseite auf ein Taschentuch, um sich meine noch unbenutzte Leinwand zu nehmen und die seine wegzulegen, sodass die Farbe trocknen konnte. Verwundert sah ich ihm dabei zu, wie er sich einen unbenutzten Pinsel nahm und mich anguckte.
„Sag mir was ich dir malen soll, Manu! Ich muss dir auch noch ein Geschenk machen!"
~2300 Worte, geschrieben am 10.04.2021, hochgeladen am 27.04.2021
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