20. Flügel
Niedergeschlagen lief ich in mein Zimmer, um die Bücher zu nehmen, welche ich bisher gelesen hatte und sie wegzubringen, dorthin, wo Manuel sie her hatte. Noch immer hallten Milos Worte in meinem Kopf wieder, ich hörte ihn klar und deutlich sagen, dass ich seinen Vater allein lassen sollte und das würde ich nun auch tun, auch wenn es mir schwerer fiel als gedacht. Ich war schon viel früher aufgewacht als der Grünäugige, um seine Temperatur noch einmal zu messen und als er sich irgendwann kleingemacht hatte, um sich selbst schutzsuchend an mich zu drücken, da war es um mein Herz geschehen und es lief bis zum Mond und wieder zurück. Es war unglaublich, dass sich dieser Mann in meiner Nähe so wohlfühlte und mir vertraute, ganz ohne mich auch nur ein bisschen zu kennen, so hatte noch nie jemand in meiner Gegenwart gehandelt. Mein Vater sagte mir immer nur was ich tun sollte, er unterhielt sich nicht einmal wirklich mit mir und jemand anderen kannte ich nicht, welcher mich so an sich heranließ wie Manuel. Ebenfalls unterschied sich sein Umgang mit mir von allen anderen Menschen, denn er ließ mich immer ausreden, nahm sich meine Tipps zu Herzen und hörte sich an was ich zu sagen hatte, auch wenn er vielleicht anderer Meinung war als ich. So sanft behandelt wurde ich noch nie in meinem Leben und ich wollte das nicht verlieren, aber ich musste, schließlich hatte ich Ziele.
Auch, wenn ich noch nichts gegessen hatte an diesem Morgen, führte mich mein Weg direkt zu der kleinen Bibliothek, aus welcher Manuel die Bücher vor einigen Tagen genommen hatte. Alles stand noch so da, wie ich es das letzte Mal gesehen hatte, nur hier und da erkannte ich ein paar Lücken bei den Büchern, doch sie mit den Büchern füllen, welche ich in den Händen hielt, würde ich mich nicht einmal im Traum wagen. Vielleicht hatte der Brünette ja irgendein System und ich würde es durcheinander bringen, das wollte ich nicht, besonders, nachdem er mich so lieb vor seinem Sohn verteidigt hatte. Es war komisch zu hören, dass es tatsächlich eine Person auf der Welt gab, welche mich mochte und das trotz dessen, dass ich diese Person erst wie Dreck behandelt hatte, ich schämte mich im Nachhinein dafür es getan zu haben. Manuel war ein wunderbarer Mann mit einem großen Herz und eine unglaublich liebe Person, ich konnte gar nicht so recht glauben, dass er mich nach all meinen Meutereien ihm gegenüber noch mochte und vielleicht war es wirklich besser morgen zu gehen, dann bestand keine Möglichkeit mehr, dass ich ihm erneut Leid zufügen konnte. Der Größere wollte mich bei sich behalten und auch ihm würde es am morgigen Tag schwer fallen mich gehen zu lassen, das wusste ich schon jetzt, aber weiterbringen würde ihn das ganz sicher nicht. Ich war nicht gut für ihn und würde ihn nur traurig machen, sowie seinen Sohn und das wollte ich nicht, die beiden sollten ein Lächeln auf ihren Lippen tragen. Warum nur mochte mich niemand außer Manuel hier? War ich eine so schreckliche Person? Wahrscheinlich.
Mit Tränen in den Augen ließ ich mich auf den Schemel vor dem Flügel nieder, so wie das erste Mal. Ich brauchte unbedingt eine Ablenkung von allem und als mir ein kleines Heft mit Noten ins Auge fiel, ignorierte ich den Fakt, dass Manuel eigentlich nicht wollte, dass ich hier war und begann zu überlegen wie man nochmal Noten las. Noch nie hatte ich ein Instrument gespielt, geschweige denn mich wirklich intensiv mit Musik auseinandergesetzt, aber je länger ich da saß und mich damit beschäftigte, desto klarer schien ich das alles zu verstehen. Meine Finger drückten nach und nach die Tasten, von denen ich dachte, dass die Noten sie meinten und ich war viel zu langsam, brauchte Ewigkeiten um herauszufinden wie genau man das alles spielen musste, aber gut klang es deswegen noch lange nicht. Musik war etwas was ich wohl nie so richtig hinbekommen würde, mir fehlte einfach die Fingerfertigkeit dazu und es tat mir leid für den Flügel, dass ich ihn gerade so benutzte um mich selbst von dem Fakt abzulenken, dass ich eine unglaublich beschissene Persönlichkeit hatte, aber ich brauchte das. Vielleicht war das hier das letzte Mal, dass ich die Möglichkeit hatte auf einem Flügel zu spielen und diese Chance wollte ich unbedingt nutzen, so lange ich es konnte. Auch, wenn ich niemals der beste im spielen sein würde, so hatte ich dennoch ein wenig Spaß dabei, auch wenn ich das hier nicht als Musik betiteln würde.
Tränen der Verzweiflung rannen mir meine Wangen hinunter, ich konnte jedoch nicht so recht sagen ob es daran lag, dass ich es einfach nicht schaffte gut zu spielen oder daran, dass ich gemerkt hatte, dass mich niemals jemand lieben würde, bis sich auf einmal zwei grazile Hände neben meine gesellten und ebenfalls zu spielen begannen, jedoch so viel schöner und sanfter als ich. Erschrocken zog ich meine Hände zu mir und sah Manuel neben mir sitzen, erkannte ein sanftes Lächeln und sofort erkannte ich die einzelnen Töne, der Ältere spielte das, woran ich mich gerade so verzweifelt versucht hatte, die Mondscheinsonate von Beethoven. Geübt sah mein Gastgeber aus, er schien schon ewig dieses Instrument zu spielen und das merkte man auch, denn während er spielte, schlossen sich seine Augen langsam und er schaffte es auch, dass ich langsam ruhiger wurde, einzig und allein mit seiner Musik. Ich hatte nicht gedacht, dass er derjenige war, welcher dieses Instrument so schön spielen konnte und je länger er seine Finger über die Tasten gleiten ließ, desto sicherer schien er zu werden, ich konnte es einfach nicht fassen. Er sagte rein gar nichts, saß einfach nur neben mir und spielte, bis das Lied schlussendlich sein Ende fand. Erst dann war es mir wieder möglich mich zu bewegen, ich sah einfach nur in die sanften Augen meines Nebenmanns, erkannte Liebe und Zuneigung, statt Hass oder Wut, und während ich mit tränenden Augen den Kopf senkte, schlossen sich auch schon zwei dünne Arme um mich und schenkten mir Zuneigung. Schluchzend gab ich nach, ließ all meine Gefühle raus und ließ mir ohne mich zu beschweren durch das Haar streichen, der Grünäugige hätte in diesem Moment alles tun können. Stattdessen jedoch saß er einfach nur da, hielt mich und hauchte mir einen sanften Kuss auf den Haarschopf, welcher mich an das Ende meiner Kräfte brachte. Ich fühlte mich endlich nicht mehr ganz allein auf der Welt, nur durch ihn, weil er mich ohne zu zögern festhielt.
„Es wird alles wieder gut, Patrick, ja? Milo hat das gar nicht so böse gemeint, wie du es aufgefasst hast, da bin ich mir ganz sicher...er kennt es nicht anders, als mich allein zu sehen und deswegen ist er eifersüchtig auf dich, weil du gerade mehr Aufmerksamkeit von mir bekommst als er! Nimm es ihm bitte nicht böse, er wird sich an dich gewöhnen, wenn du ihm ein wenig mehr Zeit gibst! Es tut ihm auch leid, dass du wegen ihm traurig bist und mit Michael werde ich mich auch nachher noch Mal unterhalten, in Ordnung? Ich weiß, dass du gerade ganz traurig bist und ich verstehe dich, Milo hat sich falsch verhalten, aber ich verspreche dir, dass er sich auch noch gut mit dir verstehen wird, so wie Malu! Gib ihm nur etwas mehr Zeit...", murmelte der Grünäugige, dabei drückte er mich sicher an sich und ließ mich in seinen Pullover greifen, irgendwie den Halt nehmen, welchen ich dringend brauchte, aber anstatt laut zu werden wie ich es in so einem Moment eigentlich geworden wäre, schüttelte ich nur schwach den Kopf. Der Schwarzhaarige hatte recht mit seiner Aussage, ich nahm ihm seinen Vater weg und das war das letzte was ich wollte, besonders da Manuel ein wunderbarer Vater war. Meiner war im Gegensatz zu ihm ein einziger Witz, er gab immer nur Befehle und kümmerte sich einen Dreck darum ob ich weinte oder nicht, mein Gastgeber hingegen spendete selbst mir stets Trost und kümmerte sich voller Liebe um seine Kinder und auch um mich, da wäre ich auch eifersüchtig, wenn ein dahergelaufener Idiot mir meinen Vater streitig machen würde. Manu war eben ein wirklich toller Mensch, da hatte ich nicht einfach in sein Leben einzudringen und das hatte ich nun auch eingesehen.
„Milo hat recht, ich sollte wirklich gehen und nie mehr wieder kommen! Seit ich hier bin mache ich nur Ärger und ich passe hier einfach nicht rein, das habe ich jetzt verstanden. Es ist besser, wenn ich einfach gehe und euch wieder allein lasse, dann muss Milo auch nicht mehr darum bangen zu wenig Liebe und Aufmerksamkeit von dir zu bekommen! Das alles hier war eine so dumme Idee und ich bereue es...aber zumindest weiß ich jetzt, dass ich wohl einfach niemand bin, den man mögen kann, es hat sich also doch irgendwie gelohnt...", sagte ich niedergeschlagen und schlussendlich versuchte ich mich sogar an einem Lächeln, versagte jedoch kläglich und schmiegte mich noch viel näher an den Größeren heran, dessen Herz für einen kurzen Moment auszusetzen schien. Er kannte mich nur als den starken Patrick, welcher sich nichts sagen lassen wollte und der unüberlegt handelte, kannte meine mehr als nur sentimentale Seite nicht, bis zu diesem Moment. Ich hasste es anderen meine Schwäche zu zeigen, besonders Menschen welche stärker als ich waren und doch versuchte ich es nun nicht einmal mehr, da ich wusste, der Grünäugige würde es nicht wagen mich für meine Gefühle auszulachen, so schätzte ich den Älteren einfach nicht ein. Bisher war er immer ganz ruhig geblieben, wenn ich ihm etwas nicht so schönes erzählt hatte und auch das erste Mal, als ich in meinem Zimmer vor ihm geweint hatte, ließ er nicht zu, dass ich ihn auch nur irgendwie von mir stoßen konnte, sondern war für mich da. Auch, wenn mich jeder andere ignorant und genervt betrachtete, von oben auf mich herab sah und mich klein redete, der Millionär stellte sich auf eine Ebene mit mir.
„Milo hat überhaupt nicht recht, Patrick! Du bist ein toller, wunderbarer Kerl und ich bin einfach nur dankbar dafür dich kennengelernt zu haben! Es ist eine der besten Entscheidungen überhaupt in meinem Leben gewesen dich hier aufzunehmen und bei dieser Aktion zu ersteigern, ja, mir hätte nichts besseres passieren können als dich da zu sehen! Ich weiß, wir hatten nicht den besten Start und mein Sohn mag dich vielleicht nicht unbedingt, aber ich habe dich verdammt noch Mal gerne und will nicht, dass du gehst! Maurice mag dich auch sehr gerne und Malu liebt dich, das glaubst du gar nicht...ich weiß nicht wie ich es dir anders sagen soll, aber...bitte Patrick, bleib bei mir!", flehte mich der Brünette an, was mich ihn mit großen Augen ansehen ließ. Noch nie hatte mich jemand derart angesehen und darum gebeten, dass ich bei ihm blieb, niemand anderes hielt das für nötig, schließlich war ich, abgesehen von meinen sehr guten Sprachkenntnissen für die meisten Menschen nutzlos, aber Manuel versuchte wirklich mit allen Mitteln mich bei sich zu behalten, obwohl ich ihm nichts zu bieten hatte. Ich besaß kein Geld und hatte keine Familie, existierte einfach nur, ganz ohne Grund, wieso kämpfte der Millionär dann so um mich? Ich war wertlos und doch mochte mich der Grünäugige, er schenkte mir sogar eine gewisse Art von Zuneigung, nahm die meine gerne an, fühlte sich wohl in meiner Gegenwart. Ihm war es sogar egal, dass sein eigener Sohn mich nicht mochte, er wollte mich trotzdem bei sich haben und doch konnte ich einfach nicht hierbleiben, schließlich wollte ich studieren gehen. Irgendwie musste ich Geld verdienen gehen, um mir eine eigene kleine Wohnung mieten zu können und dann zumindest einmal im Leben zu wissen wie es war für mich selbst zu sorgen, das konnte ich nicht hier erfahren. Manuel würde mir alles bezahlen, oder zumindest mit bezahlen und so könnte ich doch niemals wirklich etwas selbst schaffen.
„Ich kann nicht bleiben, Manu, versteh doch! Ich möchte mein eigenes Geld verdienen und nicht mehr von irgendjemandem abhängig sein! Hier kann ich das nicht machen und studieren kann ich hier auch nicht, ich bin ja noch nicht Mal fertig mit der Schule...ich muss also wieder zurück zu meinem Vater, zumindest bis ich mein...mein Abitur habe und dann auch studieren gehen kann. Du musst dich schon um Milo und Malu kümmern, da brauchst du mich nicht auch noch irgendwie durchfüttern, Manu...", lehnte ich sein Angebot ab, da ich genau wusste, ich hatte gar keine andere Wahl als zurück zu meinem Vater zu gehen. Es war nur noch ein einziger Monat, dann war ich volljährig und der Ältere konnte mir nicht mehr sagen was ich zu tun und zu lassen hatte, dann war ich für mich selbst verantwortlich, konnte hingehen wohin ich wollte, aber bis dahin war ich ebenfalls dazu gezwungen wieder zu meinem Vater zu gehen, schließlich besaß er all meine wichtigen Akten und würde sie mir auch nicht geben, da war ich mir sicher. Ich musste nicht länger bei ihm bleiben als das, dann war ich ihn los und würde nie wieder freiwillig irgendein Kunstwerk analysieren oder auf eine Veranstaltung gehen, um Kunst begeisterte Menschen kennenzulernen, welche nur daran interessiert waren ein möglichst teures Werk zu finden, um es für teuer Geld zu verkaufen. Mir war klar, dass ich Manuels liebevolle Stimme vermissen würde, wenn ich von hier wegging und auch seine unglaublich tolle Art mit mir umzugehen, wenn ich wieder einmal wütend wurde, aber vielleicht würde es den Grünäugigen ja freuen, wenn ich ihm irgendwann noch Mal einen kleinen Besuch abstatten würde und ihm zeigte, dass es mir gut ging.
„Patrick, bitte geh nicht zurück zu deinem Vater! Du siehst seit du hier bist viel glücklicher aus und ich bin dazu bereit dich hier aufzunehmen und werde auch gerne einen Privatlehrer für dich engagieren oder du kannst hier irgendwo im Umkreis zur Schule gehen, aber zu deinem Vater möchte ich dich nicht gehen lassen. Ich habe das Geld dazu und möchte mich um dich kümmern, bis du wirklich dazu bereit bist auf eigenen Beinen zu stehen! Wenn du willst, dann kannst du dich gerne an der Miete beteiligen oder sonst irgendwas machen, wir finden schon etwas, und dann könntest du mein neuer Mitbewohner sein! Das wäre doch eine tolle Idee, was hältst du davon? Willst du hier bleiben? Ich würde mich unglaublich darüber freuen...", sprach der Besitzer dieser Villa auf mich ein, während er mich mit großen, bittenden Augen ansah und allein durch diese Worte wusste ich, dass Manuel der beste Mensch im ganzen Universum war. Er bot mir an mich hier aufzunehmen und für mich zu sorgen, obwohl er es definitiv nicht musste, es war nicht seine Aufgabe und verdammt, wie könnte ich nur zu diesem Mann nein sagen? Der Größere bemühte sich um mich und ich spürte genau, dass er mich wirklich mochte, er genoss meine Nähe und Zuneigung, so wie ich die seine genoss und das wollte ich auch unbedingt weiterhin tun, nun wo ich mich so sehr daran gewöhnt hatte. Ich würde Manuel missen, ginge ich zurück zu meinem Vater und ich würde es bereuen von hier weggegangen zu sein, den einzigen Ort verlassen zu haben, wo es eine Person gab die mich mochte und mir das Gefühl von Liebe gab.
Schniefend löste ich mich von dem Größeren. „Du bist dann für mich da?", fragte ich den Älteren hoffnungsvoll, dass er mich vielleicht nicht von sich wegstoßen würde, wenn ich Mal ein wenig Zuneigung brauchte und sofort wurde ich sanft an den Brünetten gedrückt, gehalten und war ruhig. Manuel war ein wundervoller Vater, der sich von diesem Tag an auch um mich kümmern würde und doch wollte ich ihn nicht als eine Art Ersatzvater sehen, sondern nur als meinen Mitbewohner. Er konnte mir ein guter Freund werden, genau wie Maurice und ich wusste, dass ich mich wahrscheinlich erst einmal daran gewöhnen musste hier wirklich zu leben, aber mit der Hilfe des Grünäugigen würde das sicher ganz schnell gehen. „Aber natürlich, wir alle sind dann für dich da! Du gehörst dann zur Familie und wir kümmern uns hier alle umeinander! Ich kümmere mich um dich, genau wie jetzt gerade auch...", antwortete mir Manuel, was mir wieder Tränen in die Augen steigen ließ. Familie, er nahm mich tatsächlich in seine kleine Familie auf und wollte für mich da sein, wann immer ich es auch brauchte. Ich wusste nichts zu sagen, hatte keine Vorstellung davon wie schön es war diese Worte zu hören und zu wissen, dass es tatsächlich einen Ort gab, wo man hingehörte und gemocht wurde, ganz ohne Zwang oder Wut. Hier ging es mir gut, ich fühlte mich das erste Mal in meinem Leben, seit dem Tod meiner Mutter wirklich sicher und gewollt, es war doch klar, dass ich bleiben würde und das für eine etwas längere Zeit. „In Ordnung, ich möchte bei dir bleiben!"
Freudig hauchte mir Manuel einen Kuss auf die Stirn und zeigte mir, dass er mich hier offiziell in seiner Familie akzeptiert hatte.
~2820 Worte, geschrieben am 04.04.2021, hochgeladen am 15.04.2021
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