Kapitel 92

Sonntag, 31. Dezember

Ich habe überhaupt keine Motivation, heute mit meiner Familie rauszugehen. Wieso können wir nicht einfach zu Hause bleiben? Es ist kalt. Ich war früher schon fast besessen von Feuerwerkskörpern, gar pyromanisch, aber mit siebzehn Jahren ändert sich da schon so einiges. Meine Cousinen machen sich fertig, dabei haben wir gerade erst 23:37 Uhr. Ich hingegen liege bequem in meinem Bett und stalke oberkörperfreie Jungs auf Instagram. Wieso sollte ich mich jetzt fertig machen, wenn ich noch dreiundzwanzig Minuten habe?

'Du liegst ja immer noch im Bett', snapt mir Ramazan, der geschockt auf dem Foto aussieht.

'Was soll ich sonst machen?'

'Keine Ahnung, was ihr Mädchen halt so macht. Schminken? Party?'

'Keins von beiden mache ich und das solltest du wissen', schreibe ich auf das Foto, auf dem ich lächelnd meine Augen verdrehe.

'Gut. Wenn du in einen Club gegangen wärst, müsste ich dich ausspionieren, damit keiner auf falsche Ideen kommt', steht auf dem Foto seines Bizeps.

'Natürlich', schicke ich, lächelnd auf dem Foto.

"Willst du dich nicht fertig machen?", fragt meine Mutter, als sie die Zimmertür aufreißt. "Nein." Wieso sollte ich auch? Es ist dunkel und kalt. Meinen Pyjama wird man nicht wirklich sehen. "Schmink dich doch etwas." Gott, bitte nicht schon wieder! "Nein, Mama", gebe ich mit etwas Druck von mir, was bei ihr ankommt und sie dann aus dem Zimmer geht. Ich hasse diese Eigenschaft an meiner Mutter. Sie will, dass ich mich wie das netteste und süßeste Mädchen der Welt benehme. Immer feminin und adrett gekleidet und ab und zu geschminkt. Wieso sollte ich? Ich habe keine Lust darauf. Ich kann und will mich nicht schminken. Für wen soll ich diesen Aufwand machen, der sowieso beschissen aussehen wird, wenn man irgendwo drankommt? Ich bleibe so wie ich bin und Punkt! Ich kann nicht in diesen engen Hemden herumlaufen, da sie einfach hässlich aussehen. Lieber greife ich nach einem Paar zerrissenen Jeans und einem lockeren Oberteil. Ich lege mein Handy weg und strecke mich seufzend, nehme dann wieder mein Handy in die Hand, als es anfängt zu vibrieren.

'Schau um 00:00 Uhr auf dein Handy', schreibt Can. Was hat er vor?

'Und dann?', schreibe ich zurück und muss ein kleines bisschen schmunzeln. Wir haben sehr lange nicht mehr miteinander geschrieben.

'Das wirst du dann erfahren', schreibt er und schickt mir im nächsten Moment Screenshots.

'Das sind die wichtigsten Beweise. Du hast dich nicht mehr gemeldet deswegen.'

'Ich weiß', schreibe ich und warte, bis die Bilder laden.

'Wieso?' Was soll man darauf antworten? Ich wollte Abstand von dir? Meine Laune fällt ein wenig.

'Ich brauchte Zeit.'

'Zeit wofür?'

'Es gab da so ein Thema, welches mir nach einer langen Zeit wieder in den Sinn kam. Ich musste immer daran denken.'

'Hast du nun damit abgeschlossen?' Ich blühe bei jedem Satz, den er mir gerade schreibt, mehr und mehr auf.

'Ich weiß es nicht.' Ich lese mir die Verläufe durch. Man merkt, dass Elif auf Can steht, denn sie schreibt immer mit Herzen und so ausgedehnt, widerlich. Sie haben sich anscheinend noch einmal getroffen und darüber geschrieben. Ich habe keine Lust mehr zu lesen und beschließe einfach, Can zu fragen, was passiert ist.

'Ihr wart also wieder gemeinsam draußen?'

'Ja, waren aber nicht essen.'

'Anscheinend hatte sie beim ersten Mal Mundgeruch', schreibe ich grinsend.

'Nein, das nicht. Sie wollte einfach raus, aber mit dem Auto.' Was soll der Scheiß? Das regt mich total auf!

'Ist sie nur auf dein Auto fixiert oder was?', tippe ich genervt, weswegen meine ältere Cousine fragt, was los sei, woraufhin ich antworte, dass mich jemand nervt.

'Weiß ich nicht. Jedenfalls habe ich ihr gesagt, dass das nicht geht. Sie war etwas beleidigt, aber da ich so ein Charmeur bin, habe ich sie schnell aufgeheitert.' Ich verdrehe meine Augen.

'Und wie hast du das geschafft? Ihr einen Kuss gegeben?', schreibe ich. Wehe, er hat sie geküsst!

'Nein, ich hab ihr ein paar Komplimente gemacht und schon war sie mir wieder verfallen.' Arschloch.

'Dummes Mädchen. Was habt ihr gemacht?'

'Wir sind einfach etwas spazieren gegangen und haben geredet. Es ist echt schwer bei so einer wie Elif geduldig zu bleiben. Sie redet von sich, stellt dir tausend Fragen und redet dann wieder über sich. Am Ende meinte ich, dass ich nach Hause muss.' Ich muss lächeln.

'Du kannst auch ruhig aufgeben, wenn es dir zu schwer wird', schreibe ich und füge den Heiligenschein-Emoji hinzu.

'Das hättest du wohl gerne, nicht wahr?'

'Sehr sogar.'

'Frage: Wann darf ich anfangen dir Befehle zu erteilen?'

'Wenn du gewinnst', antworte ich schlicht.

'Darf ich mir aussuchen, in welchem Monat ich das tun darf?'

'Wenn du gewinnst, dann ja.' Ich will nicht wissen, was für Ideen dieser Junge hat.

'Sehr schön.'

"Shana, du sollst dir deine Jacke anziehen. Wir gehen jetzt raus", informiert mich meine jüngere Cousine und zieht ihre Jacke an. Ist es schon so spät? Ich schaue auf mein Handy und sehe, dass wir schon 23:51 Uhr haben. Schnell schlüpfe ich in meine Schuhe, dann in meine Jacke und stecke eine Münze in meinen Schuh, da es Glück bringen soll. Ich bin sehr abergläubisch und glaube an alles, was mir Glück bringen kann, Ich habe sogar extra eine rote Unterhose angezogen, damit ich Glück in der Liebe habe. Man sollte immer schön vorbereitet sein. Wir laufen die Treppen mit meiner Mutter, kleinen Schwester, Tante, Cousins und Cousinen runter und laufen zur Kirche, wo sich viele versammeln und jetzt schon anfangen ihre Böller und Raketen anzuzünden. Schau um 00:00 Uhr auf dein Handy!, erinnere ich mich selbst, woraufhin mein Herz schneller schlägt. Was er wohl schreiben wird? Wir haben 23:58 Uhr, in zwei Minuten muss ich lesen, was er mir schreibt. Ich schaue auf meine Handyuhr und beobachte den Sekundenzeiger, bis er eine Minute umrundet hat. Danach packe ich mein Handy weg und warte diese Minute, die mir wie eine Stunde vorkommt ab. Meine jüngere Cousine fängt an, den Countdown zu zählen, was mich zittern lässt. Ich unbedingt wissen, was Can schreiben wird! "Drei, zwei, eins!", ruft sie und schon beginnen alle, abzugehen und die Raketen anzuzünden. Schnell hole ich mit einem wachsenden Grinsen mein Handy aus meiner Jackentasche und erstarre, als ich die Nachricht lese. Nein, das kann nicht sein.

'Elif und ich sind zusammen.'

Ich vergesse für einen Moment die ohrenbetäubenden Geräusche und muss kräftig Schlucken. Er und Elif sind zusammen. Sie sind zusammen und es stört mich. Ich weiß nicht wieso, aber es bedrückt mich. Ich kann nicht anders, als auf die Nachricht zu starren.

'Frohes neues Jahr', wünscht er mir, doch das neue Jahr wurde mir direkt verdorben.

'Wünscht du mir etwa kein frohes neues Jahr?', fragt er und fügt einen traurigen Emoji hinzu, der perfekt zu meiner Stimmung passt.

'Ich will Beweise', ist das Erste, was ich ihm in diesem Jahr schicke, was er dann auch sofort tut. Ich bringe es nicht übers Herz, mir mit meiner Internetflat dieses Bild runterzuladen. Dafür ist es viel zu wertlos.

'Wünscht du mir jetzt ein frohes neues Jahr?'

'Dir auch ein frohes neues Jahr, Can', schreibe ich mit einem alexithymischen Blick und packe sofort mein Handy weg, bevor ich seufze.

"Was ist los?", fragt mich meine Cousine, die im selben Alter ist, wie ich. "Nichts", streite ich ab und gehe nach vorne. Ich bin sauer. Ich bin sauer und traurig und könnte jetzt sogar vor Wut anfangen zu weinen. Ich dachte, dass ich dieses Silvester bei guter Laune bleibe, da es mir sonst nie geglückt ist - keine Ahnung warum -, aber auch diesmal bin ich bedrückt und das nur wegen einer Nachricht. Ich habe doch gesagt, dass dieses Jahr etwas passieren wird, aber das ist nicht das Schlimme. Das Schlimme kommt noch, das spüre ich. Ich hoffe, dass meine Glücksbringer für heute mir etwas Glück beschaffen werden. Mein Handy vibriert wieder.

'Dreh dich mal zur Richtung U-Bahn', schreibt Can mir nun, was ich auch tue und dort ihn, Ramazan und Malik sehe. Ramazan und Malik winken wie wild, was mich schwach lächeln lässt und ich ihnen dann zurück winke, doch als ich zu Can blicke fällt mein Lächeln.

'Ramazan will, dass du kurz zu uns rüber kommst.'

'Ich kann nicht, meine Familie ist hier.' Ich will nur wegen dieser Nachricht nicht zu ihnen - eigentlich zu Can. Er würde meine Laune nur noch weiter hinunterziehen. Ramazan ruft mich an, wodurch ich etwas schmunzeln muss.

"Shana, kommt bitte zu uns, bitte! Wir gehen auch hinter die Kirche, damit uns keiner sieht, okay?", ruft er ins Telefon.

Ich schaue kurz zu meiner Familie, die abgelenkt scheint und willige ein. Schnell sage ich meiner Cousine Bescheid, dass sie mich anrufen soll, falls jemanden etwas auffällt, renne hinter die Kirche und warte, bis Ramazan auf mich zugerannt kommt und mich eine kräftige Umarmung zieht. Das brauche ich jetzt. "Frohes neues Jahr", wünscht er mir. "Dir auch ein frohes neues Jahr." Dank Ramazan hebt sich meine Laune etwas. "Ich habe dich ein ganzes Jahr nicht gesehen", schluchzt er und lässt mich los, woraufhin Malik dieselbe Prozedur bei mir macht. Ich löse mich lächelnd von ihm und schaue automatisch zu Can, der genau wie ich steif da steht. Wir schauen uns einfach nur an, dabei wird mein Blick kalt. "Jetzt stellt euch nicht so an!", ruft Malik und schubst Can zu mir, während Ramazan mich zu Can schubst. Langsam werde ich nicht mehr kalt sondern schüchtern, was Can bemerkt und deswegen anfängt zu schmunzeln. Er breitet seine Arme aus und beugt sich etwas zu mir runter, damit sein Kopf in der Reichweite meines Ohres ist, bevor er mich umarmt. "Auf ein neues Jahr", raunt er mir zu und berührt mit seinen Lippen mein Ohr, was mir eine Gänsehaut bis zum Rücken verleiht, und das Zudrücken seiner großen Hand auf meinem Rücken lässt diese Stelle kribbeln, die er berührt. Sein herber Duft ist plötzlich so intensiv, dass ich gar nicht aufhören will ihn ein zu inhalieren. Ich löse mich aber dann von ihm sehe, wie etwas in seinen Augen aufblitzt. Ich muss die Contenance behalten. "Geht ihr gleich feiern?", frage ich laut und schaue zu Ramazan und Malik. "Ja, aber gleich erst", antwortet Malik. "Aber es können doch Unfälle passieren", kommt es etwas besorgt von mir. War ich gerade nicht noch bedrückt? "Wir nehmen ein Taxi", informiert mich Malik und lächelt mich warm an. Ich spüre, wie etwas rhythmisch in meiner Jackentasche vibriert und verabschiede mich zügig von den Jungs, als ich den Namen meiner Cousine lese. Bei meiner Familie angekommen, sage ich, dass da Freundinnen von mir waren und dann weggefahren sind. Wir bleiben noch eine halbe Stunde, bis wir dann endlich nach Hause laufen und ich mich dann direkt in mein Bett schmeiße. Er und Elif sind zusammen, wow. Ich weiß nicht wieso es mich bedrückt und will auch wirklich keine schlechte Laune haben, doch leider spielen meine Gefühle nicht mit. Wie das wohl jetzt immer ablaufen wird? Wenn die sich die ganze Zeit vor meinen Augen küssen, dann kriegen die Ärger. Wie wohl Aleyna darauf reagieren wird? Und vor allem, wie stolz wird Elif sich fühlen? Sie wird nur noch grinsen, die Aufmerksamkeit genießen und mir zeigen wollen, dass Can nun ihr gehört. Soll sie ihn doch haben, ich werde mich daran amüsieren, dass sie verarscht wird. Sie soll bloß nicht hoffen, dass ich ihretwegen weine. Oh nein! Wenn, dann wird sie weinen. Mir egal, wie ich das hinkriege. Ich dachte, dass Aleyna das einzige Problem wäre, aber da wusste ich nicht, dass eine Göre, namens Elif existiert. Ich werde sie meinen Hass spüren lassen, von mir aus involviere ich auch Aleyna, wenn Elif irgendeine Scheiße abzieht. Ob Can trotzdem mit irgendwelchen Weibern schläft? Wir haben diesen Punkt nicht wirklich angesprochen, weswegen ich ihn anschreibe.

'Wirst du trotzdem mit anderen Mädchen schlafen?', schreibe und warte ab.

Er ist doch feiern, stimmt. Ich gehe aus dem Chat raus, gehe wieder rein und lade dann den Screenshot runter. Ich warte ab, bis der Kreis zu Ende geladen ist und lese mir den Chat durch. Elif hat zuerst geschrieben, dass sie in ihn verliebt ist. Ich verdrehe meine Augen. Anscheinend hat Can einfach da den Impuls gehabt und ihre Liebe angeblich erwidert. Daraufhin schreibt Elif einen ganzen verdammten Roman. Ein Wunder, dass der Text auf den Screenshot gepasst hat. Dort schreibt sie, dass sie schon seit dem ersten Tag etwas gefühlt hat und ihn wunderschön findet. Mal ehrlich, wer nennt einen Jungen wunderschön? Oder denke ich das bloß, weil ich sie hasse? Was hat sie denn noch geschrieben? Hier steht noch, dass ihre Gefühle für ihn sehr stark sind und dass sie total glücklich ist, dass er sie ebenfalls liebt, bla, bla, bla. Dieser Text lässt mich irgendwie schmunzeln, aber natürlich verdrehe ich meine Augen auch. Sie ist so dumm. Ich lege das Handy wieder weg und schaue durch das Dachgeschossfenster. Ich sehe es einfach positiv, ich habe jetzt wieder etwas Spannendes in der Schule. Stimmt, Streitereien sind immer lustig. Wie Can sich wohl in der Beziehung schlagen wird? Ich muss unwillkürlich lächeln, obwohl ich immer noch dieses bedrückende Gefühl in mir trage. Er kann nicht mehr frei herum prahlen und muss sich so einiges in unterdrücken. Außerdem ist Elif total penetrant, vor allem ihre ständige Fragerei. Am Ende verbietet sie ihm noch Sachen. Mein Handy vibriert, weswegen ich danach schnappe und die Nachricht auf dem Sperrmodus lese.

'Weiß ich nicht, aber für dich beherrsche ich mich', steht dort mit einem Kusssmiley am Ende. Ich antworte nicht und schaue wieder in den Himmel, bis ich irgendwann einschlafe.

Das wird ein interessantes Jahr.

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