Kapitel 82
Ich kann meinen Ohren einfach nicht glauben. Mein Körper ist betäubt. Mein Herz schlägt schneller, als jemals zuvor. Das kann nicht wahr sein.
"Shana?" Im Hintergrund höre ich weitere Menschen, wahrscheinlich Polizisten.
Ich kann nicht einmal antworten und lege deswegen auf. Sie hatten einen Autounfall. Sofort springe ich aus dem Bett, kralle mir die nächstbeste Jacke und renne in Hausschuhen zu Tür. "Mama, Ranja ist im Krankenhaus! Ich muss zu ihr!", sage ich mit zittriger Stimme. Mein Herz pocht. Meiner Mutter steht besorgt auf. "Bleib hier, bitte." Ich reiße die Tür sofort auf und renne los. Ich habe mir nicht einmal die Mühe gemacht die Tür zu schließen. Ich renne die Treppen runter, da mir der Aufzug zu lange dauern würde, währenddessen rufe ich Ranja an.
"Ja?", fragt sie gut gelaunt.
"Ranja?", sage ich mit brüchiger Stimme und springe die letzten vier Treppenstufen der fünften Etage runter.
"Shana? Was ist los?", fragt sie besorgt.
"Du bist mein Alibi", flüstere ich, lege mit diesem kryptischen Satz auf und konzentriere mich darauf, nicht hinzufliegen, als mir meine Tränen die Sicht versperren.
Sie hatten einen Autounfall. Ich weiß doch, dass Can diese Angst, dieses Trauma besitzt. Genau das macht mir umso mehr Angst. Und genau diese Angst lässt mich schneller rennen. Ich ignoriere das Brennen in der Lunge, das Ziehen in meinen Waden und das Stechen in meinen Seiten. Diese fünf Minuten muss ich es durchziehen! Wie es ihnen wohl geht? Ich bete, dass ihnen nichts schlimmes passiert ist. "Bitte, Gott!" Ich blinzle die Tränen weg und renne durch die Drehtür direkt auf die Pforte zu. "Hier wurden zwei Jugendliche hergebracht. Can Jamil und Malik Mahir. Wo befinden sie sich?", rattere ich schnell runter. Die Frau schaut schnell und mitleidig nach, bevor sie mit einem aufmunterndem Lächeln zu mir sieht. "Auf der Unfallstation in der dritten Etage, Zimmer 14B." Ich murmele die Etagenzahl und das Zimmer einmal vor mich hin und bedanke mich, bevor ich wieder losrenne. Ich nehme wieder die Treppen und spüre einen Krampf in meiner Leiste, weswegen ich keine andere Wahl habe, als langsamer zu rennen. Hechelnd überspringe ich immer drei Treppenstufen, bevor ich die schwere Tür mit der großen drei öffne und auf die B Seite das Zimmer 14 suche. Ich renne den Gang runter und finde endlich das Zimmer. Die Tür steht offen. Can steht mit dem Rücken zu mir und lehnt seine Ellbogen gegen die Fensterbank, da er seinen Kopf auf eine Hände abgestützt hat. Wie er wohl gleich auf mich reagieren wird? Ich setze schluckend einen Schritt in das Zimmer und warte auf Cans Reaktion. Er scheint mich zu bemerken, denn er dreht sich zu mir um und sieht mich an. Als ich sein Gesicht sehe japse ich erschrocken nach Luft. Eine aufgeplatzte Lippe und eine Schnittwunde am Auge verzieren sein Gesicht. Um seinen linken Unterarm befindet sich ein Verband und erst jetzt fällt mir die Kochsalz-Infusion auf, die mit seinem rechten Arm verbunden ist. "Shana", flüstert er rau und schaut mich mit gemischten Gefühlen an. Seine Augen zeigen so viel Angst. Ich gehe langsam drei Schritte auf ihn zu bevor ich wieder renne und mich in seine Arme schmeiße. Ich kann nicht anders und verliere stumm einige Tränen. Ich drücke ihn ganz fest an mich was ihn dazu bringt noch fester zuzudrücken. Seinen schnellen Herzschlag spüre ich, genau so müsste er meinen rasenden Herzschlag spüren - wenn nicht sogar hören - müsste. Ich stelle mich auf meine Zehenspitzen, damit er sich nicht noch mehr belasten muss, als er seinen Kopf in meine Halsbeuge legen will. Heimlich ziehe ich seinen wunderbaren Duft an, der mich etwas beruhig. "Was ist passiert?", flüstere ich brüchig und fange wieder an zu zittern. Seine Arme drücken sich fester um mich. Auch er fängt an zu zittern und krallt seine Hände in meine Seiten. "Malik wird operiert. Unfall, Unfall, Autounfall", gibt er brüchig von sich. Mein Herz zieht sich bei seiner Stimme zusammen. "Es ist alles nur meine Schuld." "Nein", flüstere ich und fahre ihn über seinen Hinterkopf. "Es ist meine Schuld", wiederholt er. "Hör auf das zu sagen", versuche ich mit fester Stimme rauszubringen, doch der Befehl kommt brüchig raus. "Was habe ich getan?" Er zittert stärker. "Beruhige dich, Can." "Shana, sag mir, was habe ich getan?", flüstert er. Ich spüre etwas kleines, nasses in meine Halsbeuge fallen. "Shana, es ist alles meine Schuld." Er weint. Er weint vor mir. Ich habe Can noch nie so gesehen, noch nie. Ich habe gedacht, dass er so verhärtet ist, dass ihn nichts und niemand zum Weinen bringen kann, doch ich habe vergessen, dass er seine Freunde wirklich liebt. "Das kann ich mir niemals verzeihen. Er wird wegen mir operiert." Er fängt unkontrolliert an zu zittern und verliert immer mehr Tränen, doch ein Schluchzen höre ich nicht. Er verliert stumm seine Tränen. "Hör auf zu weinen!", sage ich weinerlich, da ich nicht standhaft bleiben kann und mir ebenfalls die Tränen über die Wangen rollen. Ich fahre ihm durch seine Haare und halte mich an ihnen fest. "Ich habe so Angst um ihn. Er ist doch mein Bruder!" Ich schließe ganz fest meine Augen. In dieser Situation ist er so unschuldig, das komplette Gegenteil von heute morgen. Er ist ein verängstigter Junge, der Angst um seinen Freund hat. "Shana, ich will in seiner Lage sein", murmelt er von Schuld geplagt und schüttelt den Kopf. "Hör auf damit", bekomme ich schluchzend raus und ziehe sanft an seinen Haaren. Für manche erscheint unsere Situation als Widerspruch, und ja verdammt! Es ist auch ein Widerspruch. Ich habe heute zu ihm gesagt, dass ich ihn hasse, dass ich noch nie jemanden so sehr gehasst habe, wie ihn und jetzt? Jetzt liege ich in seinen Armen und weine mit ihm. Für mich kann es nur ein Zeichen Gottes sein. Schicksal. Trotz unseres Zorn gegenüber dem anderen verbindet uns was. Wir können einander nicht los lassen. "Wird es ihm wieder gut gehen?" Wieder füllen sich meine Augen mit Tränen. Er hört sich so unschuldig an, so verletzlich. Er möchte nur zu seinem Freund gehen. "Es wird ihm wieder gut gehen, inshallah." Ich bin nicht wirklich die religiöseste, doch erkenne meinen Glauben an und kann das Gebet praktizieren, als beschließe ich heute für Malik zu beten. "Ich habe ihn noch nie so gesehen. Er hat am Kopf geblutet", erzählt er mir zitternd. Voller Trauer schließe ich meine Augen. Dieser Tag ist so grausam! Ich gehe langsam auf meine Knie und ziehe ihn mit, da ich nicht riskieren will, dass er umfällt.
"Herr Jamil, Ihre Eltern wurden Informiert", sagt die Krankenschwester zögernd und schüchtern, da sie sieht, dass sie im falschen Moment reingekommen ist. Mit einem kleinen Nicken danke ich ihr und sehe, wie sie mit einem traurigen Lächeln die Tür schließt. "Es wird alles wieder gut", flüstere ich ihm zu und fahre beruhigend über seinen Hinterkopf, während im gleichen Moment aus meinen und seinen Augen wieder Tränen fließen und unserem Gegenüber auf die Schulter fallen. Er fängt deine Tränen auf. Ich weiß nicht einmal wieso ich weine. Ist es die Tatsache, dass die beiden einen Autounfall hatten und Malik schwer verletzt ist oder, dass Can vor mir steht und mir eine Seite zeigt, die er nicht jedem zeigt? Ist es die Angst, die er hat und die ich mitfühle, obwohl ich sonst so unemphatisch bin? Ich tröste ihn gerade, obwohl ich total schlecht in sowas bin. Ich müsste eigentlich erstarren und nichts rauskriegen, außer vielleicht ein Stottern, aber gerade tue ich das komplette Gegenteil. Ich löse mich von ihm, um ihm ins Gesicht zu schauen. Seine Augen sind gereizt und seine unteren Augenlider deutlich geschwollen. Ich wische ihm mit einem kleinen Lächeln seine Tränen weg, was mir noch mehr Tränen in die Augen jagt. Ihn so aufgebracht, verletzt und ängstlich zu sehen geht mir sehr nahe, obwohl es nicht so sein sollte. Ich habe ihm heute gesagt, dass er sich fern von mir halten soll und jetzt wische ich ihm seine Tränen weg. Ironie des Schicksals. Ich wische mir schnell meine Tränen weg und schaue mir seine Brust an. Sein weißes T-Shirt hat Blutflecken und ist an der Brust ausgeleiert. Dort sehe ich einige Kratzer und Hämatome. Das T-Shirt ziehe ich etwas weiter runter und sehe dort ein steriles Großpflaster, welches einen Teil seines Bauches bedeckt. Schockiert halte ich mir eine Hand vor dem Mund und schaue ihn an. Oh mein Gott! "Du musst dich hinlegen!", befehle ich brüchig und will ihn hochziehen, doch er schüttelt nur den Kopf. "Du darfst dich nicht überanstrengen", flüstere ich und schaue gequält in seine wunderschönen Augen. Er schüttelt leicht lächelnd den Kopf, wischt mir die zwei Tränen weg, die rausgekullert sind und beugt sich nach vorne, greift mit seinen großen Händen vorsichtig nach meinem Kiefer, um mich dann zu sich zu ziehen, damit er dann sanft und langsam meine Stirn küssen kann. Als wäre es ein Reflex, halte ich mich an seinen Handgelenken fest und genieße diesen Moment. Dieses Gefühl, welches sich in meinem Bauch ausbreitet ist unbeschreiblich, genau sowie die Gänsehaut, die meinen Körper übermannt. Meine Augen sind geschlossen, um diesen Moment intensiver aufzunehmen und ich könnte schwören, dass ich - wenn meine Augen offen wären - weitere Tränen verloren hätte. Wenn ich einmal sentimental bin, dann hält es lange an. Als er seine weichen Lippen von meiner Stirn löst, schaut er mir tief in die Augen, fährt mir mit seinen Daumen liebevoll über meine Wangen und umarmt mich dann wieder. "Danke", flüstert er und hält meinen Hinterkopf in seiner Hand. Ich bebe innerlich.
Die Tür geht schnell auf, wo ich die besorgen Gesichter seiner Eltern und Ramazan sehe, weswegen ich mich schnell von Can trenne und ihm aufhelfe. "Can!", flüstert seine Mutter erschrocken, als sie sein Gesicht erblickt und umarmt ihren Sohn unter Tränen. Ramazan kommt zu mir und nimmt mich kurz in den Arm. Zum Glück ist ihm nichts passiert. "Mein armer Sohn. Wo ist Malik?", fragt sie besorgt, wischt sich die Tränen weg und inspiziert besorgt Can Körper. Cans Kiefer spannt sich an und er fängt wieder an zu zittern, weswegen ich schnell seine stark zitternde, linke Hand nehme und ihm zum Bett begleite. "Er wird operiert", flüstere ich und schaue mit einem gezwungenem Lächeln zu seinen Eltern. "Und wie geht es dir? Ist dir etwas passiert, mein Kind?", fragt die Mutter mich besorgt und nimmt mich in den Arm. "Den Umständen entsprechend gut und nein, mir ist nichts passiert. Wie geht es dir?", versichere ich ihr mit einem kleinen Lächeln. "Ich bin einfach nur froh, dass Can nichts Schlimmeres passiert ist. Wir waren bei Verwandten in Wuppertal, als wir das erfahren haben und haben uns sofort auf den Weg gemacht. Ich muss nur noch wissen, ob es Malik gut geht, sonst kann ich heute nicht schlafen", erzählt sie mir und schaut mich dann mit gekrauster Stirn an. "Sicher, dass es dir gut geht? Du hast da Blut an der Stirn und deine Augen sind etwas geschwollen." Sie schaut sich mein Gesicht näher an, während ich innerlich bete, dass ich nicht rot geworden bin. Ich fahre mir über meine Stirn, die sich sehr warm anfühlt und schiele kurz zu Can, der mit seinem Vater redet und kurz schmunzelt. "Es war sehr emotional", murmele ich schniefend und sehe, wie sich ein sanftes Lächeln auf ihren Lippen bildet. Anscheinend hat sie wohl verstanden, was los war. "Shana, wenn du willst können wir dich gleich nach Hause fahren", bietet der Vater mir mit einem warmen Lächeln an. "Das ist nicht nötig. Ich wohne fünf Minuten vom Krankenhaus entfernt, aber danke." Ich lächele schüchtern und fahre mir noch einmal über meine Stirn, um sicherzugehen, dass da kein mehr Blut klebt. "Ich gehe kurz nachfragen, ob es neues über Malik gibt", informiert uns Ramazan. "Ich komme mit." Ich verlasse mit Ramazan schüchtern den Raum und laufe mit ihm zum Informationssekretariat der Station, wo sich viele Krankenschwestern befinden und sofort zu Ramazan schauen, als sie ihn wahrnehmen. "Kann mir einer sagen, ob es Informationen gibt, die sich auf den Patienten Malik Mahir beziehen? Er wurde heute operiert, als er wegen eines Autounfalles eingeliefert wurde", zieht Ramazan die ganze Aufmerksamkeit auf sich. "Wir können ja mal auf Station fünf anrufen", sagt eine braunhaarige Schwester und stellt verstohlen grinsend ihren Kaffeebecher hin, bevor sie das Stationstelefon greift und die Nummer der fünften Station wählt. "Ich bräuchte einmal die aktuelle Lage des Patienten: Malik Mahir", sagt sie in den Hörer und schielt kurz zu Ramazan. "Sehr schön, dann schicke ich später zwei nach oben." Sie legt auf. "Er wurde vor einer viertel Stunde zu Ende operiert und befindet sich gerade im Aufwachraum. Die Narkose soll wohl noch zwanzig Minuten halten und dann wird er hier hin transportiert", informiert sie uns. "Und in welches Zimmer wird er gebracht?", frage ich nach. "Voraussichtlich in das Zimmer 14B." Das ist nicht gut. "Könnten Sie ihn in ein anderes Zimmer legen?" Die Schwester schaut mich etwas überrascht an. "Wieso denn das, wenn ich fragen darf?" "Sein Freund liegt im Zimmer 14B und würde sich noch schlechter fühlen, als sonst, allein da er gerade ein posttraumatisches Erlebnis hatte. Es würde ihm sehr zu gute kommen, wenn Malik nicht im selben Zimmer ist." Sie schaut einmal zu ihren Kolleginnen. "Ist in Zimmer 8B nichts frei geworden?", fragt sie. "Doch, der Patient wurde vor wenigen Stunden entlassen", antwortet eine andere Krankenschwester. "Dann verlegen wir ihn dorthin. Kann ich sonst noch was tun?" Ich weiß, dass sie damit Ramazan meint und mich vollkommen ausblendet. "Nein. Das war's auch, danke", bedankt Ramazan sich und läuft mit mir zurück. Auf dem Weg seufzt er und fährt sich über sein Gesicht. "Alles okay?", erkundige ich mich und fahre über seinen Rücken. "Ich muss wissen, wie es Malik geht", seufzt er. "Dir ist nichts passiert?" "Ich war kurz ohnmächtig, nach einer Untersuchung wurde nichts festgestellt." Ich nicke. Zum Glück. Langsam laufen wir ins Zimmer zurück.
"Soll ich dir sonst noch was holen?", fragt Cans Mutter und steht auf. "Nein, das war's." Sie fährt über Cans Wange und küsst seine Stirn. "Ich komme dann in zehn Minuten wieder." Sie läuft mit ihrem Mann auf uns zu und lächelt. In ihren Augen blitzt etwas auf, als sie mich erblickt. "Braucht ihr etwas? Soll ich euch Brote machen?", fragt sie und gibt Ramazan und mir einen Kuss auf die Wange. "Nein, brauchst du nicht, Yemma", sagt Ramazan. "Und du?" Ich schüttele den Kopf. "Danke, Tante." Sie verlässt gemeinsam mit Cans Vater den Raum, sodass nur noch Ramazan, Can und ich im Raum sind. "Wie geht's dir?", fragt Ramazan Can und nimmt zwei Stühle, bevor er sich vor Cans Bett setzt. "Solange ich nicht weiß wie es Malik geht, geht es mir beschissen", seufzt er. Ihn plagen immer noch die Schuldgefühle und gerade jetzt, wo Malik wieder angesprochen wurde, fühlt er sich wieder so schuldig. Das sieht man in seinen Augen. "Er wurde meinetwegen verletzt, meinetwegen operiert. Alles meinetwegen!", zählt er zitternd auf und schlägt mit seiner rechten Faust auf seinen Nachttisch, weswegen ich zusammenzucke. "Beruhige dich. Es ist nicht deine Schuld", sagt Ramazan ruhig und umarmt Can brüderlich. "Doch, ist es", murmelt Can kopfschüttelnd und fährt sich durch seine Haare. Er sagt leise die Wörter Unfall, Unfall, Autounfall. Er wurde sicherlich zurück in sein Trauma geschleudert. Wir verfallen in ein Schweigen für mehrere Minuten, bis die Tür wieder von Cans Mutter geöffnet wird, die mit einer großen Tasche reinkommt. "Hier sind Schlafsachen, Zahnbürsten, Essen, Trinken und dein Ladekabel drinnen. Brauchst du noch was?", fragt seine Mutter ihn fürsorglich und küsst seinen Kopf. "Nein, alles bestens. Geh nach Hause und leg dich schlafen. Du siehst kaputt aus", sagt Can geschwächt und küsst die Wange seiner Mutter, bevor sie sich von uns verabschiedet und geht. "Wissen Maliks Eltern nicht Bescheid?", frage ich. "Ja. Das Problem ist, dass die Mutter für einige Tage ist München sein musste und jetzt auf dem Weg ist. Sie wird ihn dann erst morgen besuchen können, wo Malik sich morgen erholt hat", informiert Ramazan mich. "Mach die Tasche auf und hol das Essen raus", bittet Can Ramazan, der die große Sporttasche öffnet und drei Tupperdosen rausholt. "Wie süß. Sie hat für uns alle etwas zu Essen gemacht", lächelt Ramazan und küsst die Tupperdose. "Meins soll für Malik bleiben", meint Can monoton. "Deine Mutter hat eine Dose für Malik befüllt." Ich muss lächeln, da Cans Mutter so aufmerksam und so süß ist und fange mit den beiden anderen an schweigend zu essen, da keiner von uns wirklich in der Lage ist eine richtige Konversation zu starten. Ich kann es immer noch nicht glauben. Wir haben uns heute angeschrien. Heute habe ich ihm gesagt, dass er sich fernhalten soll und jetzt ist diese Katastrophe passiert. Ich sollte das nächste Mal gewähltere Worte benutzen. Es wird an der Tür geklopft, bevor die Krankenschwester von vorhin reinkommt. "Ihr Freund wurde gerade ins Zimmer gebracht", informiert sie uns. "Geht es ihm gut?", fragt Can sofort und steht auf. "Ja, aber er braucht Ruhe." "Hat er nach keinem von uns gefragt?", fragt Can besorgt. Diese Seite von ihm finde ich so faszinierend und so süß, da man sowas von Can niemals erwartet hätte. Wenn man ihn sieht, denkt man, er wäre kalt und aggressiv, dabei liebt er seine Freunde mehr als alles andere. Aber auch wegen seines Verhaltens, welches eher unempathisch und halt typisch Bad-Boy ist, würde man es nicht erwarten. Wäre der Unfall nicht gewesen, hätte ich mir niemals einen Can in dieser Lage vorstellen können. "Doch. Er hat gefragt, ob seine Freunde hier sind." "Darf einer von uns zu ihm?", fragt Ramazan und setzt sein charmantes Lächeln auf, weswegen ich heimlich den Kopf schüttele. Wir drei wissen, dass die Krankenschwester Ramazan nichts abschlagen kann. "Na gut, aber nur einer." Can und Ramazan schauen sich gegenseitig an. "Geh du. Ich kann ihn in diesem Zustand nicht sehen", nuschelt Can wieder schuldbewusst und will die Tasche greifen, was ich schnell für ihn übernehme. Er soll sich nicht überanstrengen. "Hol bitte die Tupperdose raus", bittet er mich. Ich greife schniefend nach der blauen Dose und reiche sie Ramazan, der sich auf den Weg zu Malik macht und die Tür schließt.
Nun sind wir beide wieder alleine im Raum. Leise flüstert Can wieder die Worte Unfall, Unfall, Autounfall und schaut danach, wie ich, stumm zu Boden. Na ja, ich schaue stumm zu Boden, da ich Cans Blick auf mir spüre. Mir fällt wieder unsere heutige Auseinandersetzung ein, was mir etwas unangenehm ist, wenn man bedenkt, dass ich ihn erst einmal angebrüllt habe, später dann wie eine verrückte hierhin gerannt bin und mehrere Minuten in seinen Armen lag. Diese Erinnerung bereitet mir Gänsehaut und als ich wieder an den Stirnkusse denke, überkommt mich ein wohliger Schauer. Unser Verhältnis ist sehr speziell, voller Emotionen und versteckter Gedanken, die der Gegenüber wohl niemals herausfinden wird. Ich richte mich auf, da ich mich zu sehr in den Stuhl gelehnt habe und rutsche etwas auf dem Stuhl herum. "Denkst du an das, was du heute nach der Schule gesagt hast?", fragt er mit seiner Stimme, die tiefer und rauer ist, als sonst. Er kann echt gut raten. Ich hebe die Sporttasche vom Boden auf und lege sie auf meinen Schoß. "Du solltest dich umziehen." Ich hole die Jogginghose raus und stelle verwirrt fest, dass es zwei Stück sind. Die größere Jogginghose gebe ich Can, während ich bei der anderen feststelle, dass sie sich um die Größe S handelt. Can trägt nie ihm Leben S. "Das ist Deryas Jogginghose." Jetzt wird es mir klar! Seine Mutter hat für uns beide vorgesorgt. Ein Lächeln kann ich mir nicht verkneifen, denn diese Frau ist einfach nur Zucker! "Ich liebe deine Mutter." Ich schüttele lächelnd den Kopf, hole Cans schwarzes T-Shirt raus und gebe es ihm. Er nimmt mir das T-Shirt aus der Hand und schaut dann zum Infusionsständer, bevor er mich lächelnd ansieht. "Könntest du mir eventuell beim anziehen helfen?" Es ist definitiv zu warm hier drinnen. "Ich würde dich nicht fragen, wenn der Ständer nicht im Weg wäre", sagt er und kratzt sich mit der rechten Hand am Hinterkopf. Der Satz hat sich ja mal gar nicht zweideutig angehört. Ich schiebe meine perversen Gedanken beiseite und stehe schüchtern auf, ohne zu wissen, was ich jetzt tun soll. "Also-, zieh dein Oberteil aus." Perverse. Can schmunzelt und zieht schelmisch die rechte Braue hoch. Er zieht den Saum des T-Shirts hoch, lässt ihn dann zischend los. "Ist es der Arm oder die Brust?", frage ich besorgt. "Beides", antwortet er und kneift die Augen zusammen. "Also muss ich...", murmele ich und atme tief durch, bevor ich den Saum anpacke und ihn langsam hochziehe. Mehr und mehr sehe ich seinen verdammt sex-, netten Oberkörper, schaue aber schnell weg, damit Can auf keine falschen Gedanken kommt. Als ich das T-Shirt schluckend über seinen Kopf ziehe, hole ich den Infusionsbeutel aus der Halterung raus und ziehe das T-Shirt dadurch, da wir den Infusionskatheter nicht einfach herausziehen können. Ich falte das T-Shirt zusammen, nehme das saubere T-Shirt und will es Can gerade anziehen, als mir sein Oberkörper wieder ausfällt. Das Pflaster bedeckt einen großen Teil seines Oberbauches und zum Teil auch seine Brust. Die Kratzer sehen jetzt viel schlimmer aus, als ich sie mir davor angeschaut habe, genau wie die Blutergüsse. Schnell richte ich meine Aufmerksam auf das Wesentliche und führe den Katheter samt Infusion durch den rechten Ärmel, bevor ich ihn wieder an den Infusionsständer hänge und Can bitte seine Arme so weit hoch zu heben, wie es nur geht. Schnell ziehe ich es ihm über den Kopf und über die Arme und ziehe den Saum runter, wobei meine Fingerknöchel seinen Oberkörper berühren. "Die Hose ziehst du alleine an!", gebe ich ernst von mir auf zeige mit meinem Kopf auf die Jogginghose vor ihm. "Schade", murmelt er, zieht seine Schuhe aus und knöpft ohne Vorwarnung seine Hose auf. "Sag doch Bescheid!", flüstere ich hysterisch und drehe mich um, damit ich nichts sehe, was nicht gesehen werden darf. Er zischt und ächzt, bevor ich höre wie er die Hose fallen lässt. "Ich bleibe einfach in Boxershorts", gibt er seufzend von sich. "Nei-,", wollte ich ansetzen und mich dabei umdrehen, drehe mich aber schnell wieder um, da ich vergessen habe, dass er nur in Boxershort und T-Shirt da sitzt. "Nein, du ziehst die Hose an!" "Würde ich ja gerne, aber leider habe ich Schmerzen im Bauchbereich und kann mich deswegen nicht bücken." Ich höre, wie er die Jogginghose auf den Boden schmeißt, woraufhin ich seufze. "Geh mit deinen Füßen so weit wie du kannst in die Jogginghose rein", befehle ich ihm und höre wenige Sekunden später, wie er mit seinen Füßen in die Hose gleitet. "Okay und jetzt?", fragt er belustigt nach. "Nun legst du dich auf den Rücken und hebst dabei langsam und soweit es geht deine Beine an. Danach wackelt du etwas mit deinen Beinen, bis du nach der Jogginghose greifen kannst und ziehst sie dann hoch." Er brummt kurz, macht aber dann das, was ich ihm befohlen habe. "Und geht's?", frage ich nach, was er mit einem Summen bestätigt. "Kannst dich wieder umdrehen." Ich drehe mich wieder um setze mich auf den Stuhl. "Willst du dich nicht umziehen?", fragt er mich nun. Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, da ich mich irgendwie schäme, mich umzuziehen. Natürlich würde ich mich nicht vor ihm umziehen, sondern im Badezimmer, welches jedes Krankenzimmer besitzt, aber trotzdem schäme ich mich. "Ouh, du gehst wieder?", fragt er irgendwie - ich weiß nicht, ob man es so nennen kann - enttäuscht. "Ich-, doch, ich bleibe." Er lächelt jetzt, was mich ebenfalls zum Lächeln bringt. Ich könnte ihn jetzt nicht alleine lassen. Ich kann und will es nicht. "Schläfst du dann auf dem Bett neben mir?" Ich schüttele den Kopf. "Das ist ein unbenutztes Bett für die, die eingeliefert werden. Ich kann mich da nicht einfach so drauflegen." Nun schaut er mich mit einem undefinierbaren Blick an. "Schläfst du dann bei mir im Bett?", fragt er und lächelt verschmitzt, weswegen ich die Augen verdrehe. "Nein, ich bleibe auf diesem Stuhl." Ich finde es gut, dass er abgelenkt ist und nicht mehr an Malik denken muss. Von mir aus kann er mich so viel ärgern wie er will, Hauptsache, er ist nicht mehr melancholisch. "Das ist aber ungemütlich. Ich rufe eine Schwester und frage, ob du das Bett benutzen darfst." Er will nach der Fernbedienung greifen, doch ich halte ihn auf. "Nein! Ich kann so schlafen. Solange ich meinen Kopf auf die Matratze legen kann ist alles gut." Er schaut mich ungläubig an. "Kannst du mir das Kissen des Bettes bringen?", bittet er mich und zeigt auf das unbenutzte Bett neben ihm, wo ich hinlaufe, nachdem ich genickt habe und ihm das Kissen reiche. "Danke." Er gibt mir das Kissen wieder und kriegt einen verwirrten Blick von mir. "Das Kissen ist für dich. Dein Nacken wird sonst schmerzen." Wie süß. Ich nicke beschämt und gehe das Licht ausmachen. "Bist du etwa müde?", fragt er überrascht. "Nein, ich mag es im dunklen mehr, als im hellen", gebe ich schulterzuckend von mir. Durch das Fenster scheint etwas Licht der Stadt hinein, sodass man unsere Silhouetten und alles weiße leicht erkennt. "Falls dir kalt wird, in der Tasche ist eine Decke." Hat er etwa seiner Mutter gesagt, dass ich hier bleiben werde? "Also, meine Mutter dachte, dass mir kalt wird", gibt er zögernd von sich und hält sich kurz den Nacken. Mein Lächeln kann er dank der Dunkelheit nur schwer sehen, also kann ich ohne mein Lächeln zu verstecken die Decke rausholen und über mich legen. Ich würde ihn gerne fragen, wie es zum Unfall kam, aber ich will ihn nicht beunruhigen, also schiebe ich meine Neugierde bei Seite und frage einfach morgen oder so Ramazan. Er legt sich hin, während ich meinen Stuhl näher an das Bett schiebe und meinen Kopf auf meine Hände abstütze. "Gibt es irgendetwas, was dir auf dem Herzen liegt?", fragt er mich urplötzlich. Nein, nicht mehr. Der Streit lag mir auf dem Herzen, aber jetzt nicht mehr zum Glück. Es ist endlich vorbei. Schon wieder zeigt er mir eine Art, die er sonst nie einem Mädchen zeigt und genau das lässt mich verzweifeln. "Nein", flüstere ich, fahre mir durch meine Haare und spüre, wie müde ich bin. Ich habe zwar fast den ganzen Tag geschlafen, aber durch den Adrenalinschub, die Anstrengung und vor allem durch das Weinen bin ich erschöpft, lege meinen Kopf auf das Kissen und versuche normal aus meiner Nase zu atmen, was nicht funktioniert, da sie immer auf mysteriöse Art und Weise verstopft ist, wenn ich müde werde. Seine Hand legt sich auf meinen Kopf und fängt an meine Kopfhaut zu kraulen, was mir eine Gänsehaut verpasst. "Ruh dich aus. Du bist erschöpft", haucht er sanft. "Bist du nicht müde?", murmele ich benebelt von seiner Massage. "Ich schlafe schon ein. Mach dir keine Sorgen", flüstert er schon fast, als ich meine Augen schließe und Anfänge für Malik zu beten, bevor ich einschlafe.
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Ich wollte mal nicht so gemein sein 🌚 Soll im nächsten Kapitel die Sicht von Can an Tag des Unfalles geschrieben werden?
-Helo
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