Kapitel 69
Dienstag, 2. Mai
Seit einigen Tagen herrscht völlige Kälte zwischen Can und mir, was ich mir aber nicht ansehen lasse. Ich war noch nie die Person, die einer anderen hinterher getrauert hat. Also, wieso sollte ich es bei Can tun? Was weg ist, ist weg. Da kann ich nichts dran ändern. Trotzdem gehe ich noch zu Malik und Ramazan, denn trotz dieses Ereignisses lasse ich nicht zu, dass ich zu diesen beiden Jungs Kontakt verliere. "Und was jetzt?", fragt Viyan. Gerade habe ich es ihr alles erzählt. "Nichts", antworte ich monoton und welze mich in ihrem Bett herum. "Wie nichts? Gar nichts? Willst du es einfach so lassen?", hakt sie nach, was ich bestätige. "Hmm, krass." Es kehrt kurz Stille ein. "Aber was ist Cihan für ein hässlicher Hund? So lächerlich, oh mein Gott! Wie kann man nur so dumm sein?" Ich muss wegen ihres kleinen Ausrasters schmunzeln. "Los! Steh auf!", fordert sie. "Aber dein Bett ist so gemütlich", quengele ich und drücke mein Gesicht in ihr Kissen. "Steh auf, wir gehen jetzt raus. Es herrscht schönes Wetter und ich wette, dass Can sich draußen herumtreibt." Ihr dreckiges Grinsen kann ich schon spüren. "Was soll ich jetzt mit Can?", frage ich, als ich mein Gesicht anhebe. "Er hat vor sieben Minuten auf Snapchat ein Foto gepostet, wo er in der Orange Shisha-Bar ist." Ich ziehe meine Augenbrauen etwas zusammen. "Warte, woher-," "Ich hab doch diesen einen Fake-Snapchat-Account." Wissend nicke ich und setze mich auf. "Und was machen wir jetzt?" "Du, meine Liebe, wirst mit dieser tollen Hose rausgehen." Sie zeigt auf meine Lieblingshose. Und Cans. "Steck dein Oberteil in die Hose", befiehlt sie grinsend. "Viyan, was hast du vor?", frage ich misstrauisch. "Ach, Shana, wenn du nur wüsstest, wie oft Can dich anschaut, wenn du diese Hose an hast. Vor allem wo er hinschaut." Vielsagend schaut sie auf meine Beine, über die ich beschämt streiche. "Ich will nicht", weigere ich mich schüchtern. "Och, komm schon! Lass uns ihn ein wenig eifersüchtig machen!", bettelt sie. "Viyan, wir waren kein Paar", kommt es leicht lachend von mir. "Na und? Komm schon. Ich tu mein Oberteil auch rein. Bitte, Shana!", fleht sie, bis ich nachgebe. Mein weißes Adidas T-Shirt steckt jetzt in meiner Hose, sowie bei Viyan. "Ich schwöre es dir, wäre ich ein Junge, dann hätte ich dir so krass auf den Arsch geklatscht!", informiert sie mich und haut mir auf den Hintern. "Los, raus mit uns." Lachend ziehe ich sie hinter mir her, damit wir uns unsere Schuhe anziehen. Die warmen Sonnenstrahlen scheinen auf meinen Kopf, was mich automatisch irgendwie glücklicher macht. Selbstbewusst wie immer, laufe ich neben Viyan her, auf dem Weg zur Shisha-Bar, die glücklicherweise in ihrer Nähe ist. "Nur mal so: Ich komme nicht in die Bar rein", informiere ich sie. "Wirklich? Nicht mal einen Schritt?", fragt sie unschuldig. "Keinen einzigen." Schmollend schaut sie nach vorne. Werden wir Can überhaupt sehen? Wenn nicht, dann war die Mühe umsonst. Wieso habe ich mich überhaupt darauf eingelassen? Das kommt mir so lächerlich vor. "Warte, was bringt es uns, an der Lounge vorbeizulaufen?", frage ich, nach längerem Nachdenken. "Wer weiß? Vielleicht steht genau in diesem Moment Can dort", säuselt sie. Ja, sie hat es geplant. "Du hast ihn nicht ernsthaft mit deinem Fake-Account angeschrieben." Statt mir zu antworten, grinst sie. "Er hat jetzt geantwortet", flötet sie, doch ihr Ausdruck ändert sich in Binnen von Sekunden. "Er hat Nein gesagt", flüstert sie leicht entgeistert, was mich zum schmunzeln bringt. "Ja, das gefällt dir, nicht wahr?", motzt sie mich leicht an. "Nein", säusele ich und schaue kurz in den Himmel. Ich fühle mich urplötzlich besser. "Ich habe das Gefühl, dass er vor der Bar stehen wird", erzähle ich Viyan meine Gedanken. Oft ist es bei mir so, dass, wenn ich etwas fühle, dass es dann auch passiert. Also! Wieso dann nicht auch heute? "Werden wir sehen", summt sie und läuft mit mir über die Ampel. "Ah, voll vergessen. Ich hab einen Jungen gefunden! Er sieht besser aus, als Malik", erzählt sie stolz. "Ach ja? Wen?" "Keine Ahnung, wie er heißt. Er war im Bus." Ich stöhne enttäuscht auf. Typisch Viyan. "Aber Shana, er war so hübsch!" Sie zeigt mir mit ihrer Gestik, dass er wohl ein muskulöser Junge war. "Und er hat mich angeguckt! Das heißt, dass er mich hübsch findet", grinst sie stolz. "Oder er fand dich so hässlich, dass er nicht anders konnte, als zu gucken, wer so hässlich aussieht", zerstöre ich ihre Vorstellung und kassiere dafür einen Schlag gegen den Oberarm. Von hier sehe ich schon einen Teil der Bibliothek, was heißt, dass wir gleich da sind. "Und was genau werden wir nochmal machen?" Viyan grinst vor sich hin. "Das erfährst du gleich." Ahnungslos spitze ich die Lippen.
"Herr Bethke ist voll gestört! Wieso ist meine Geschichtslehrerin auch Schwanger geworden?! Konnte sie nicht drei Jahre später ficken?", meckert sie. "Anscheinend hat sie es nicht ausgehalten." "Es gibt doch Kondome? Kennen Lehrer so etwas nicht?", fragt sie, worauf ich den Kopf schüttle. "Hörst du noch was von Cathleen?" Missbilligend schüttele ich wieder den Kopf und verdrehe meine Augen. "Wir sind da. Halte dich an den Plan!", flüstert Viyan. "Welchen Plan denn?" Sie hält sich den Zeigefinger vor den Mund zieht mich mit. Wie das Schicksal es so wollte, steht Can vor der Shisha-Bar und raucht eine, während er auf seinem Handy herumtippt, was ich total widersprüchlich finde, da man doch in einer Shisha-Bar Shisha raucht, wieso dann noch Zigaretten? Will er seinen Körper komplett zerstören? Den geraden Gang habe ich behalten und bin kurz davor, an ihm vorbeizulaufen. Mein Herz schlägt unwillkürlich schneller. Ich fühle mich anders, verdränge es aber. Natürlich beachte ich ihn nicht, wieso denn auch? Aber aus dem Augenwinkel kann ich ihn dennoch erkennen. "Der Plan beginnt jetzt", flüstert Viyan, als wir uns ihm nähern. "Komm schon, Shana! Azad will was von dir!", sagt sie laut und deutlich, nachdem sie sich geräuspert hat. Azad? Erst nach einigen Sekunden spiele ich mit. "Aber-," "Nein! Nichts aber! Er ist doch total perfekt. Komm schon, ruf ihn an", grinst sie. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Can hochguckt. Genau in diesem Moment laufen wir an ihm vorbei. "Ich weiß nicht." Irgendwie fühle ich unbehaglich dabei. "Er sieht gut aus, ist schlau und hat tolle Augen! Was willst du mehr?" Das trifft zufälligerweise alles auf Can zu. Ich zucke nur mit den Schultern. Was ist los mit mir? Sonst spiele ich immer mit, wieso dann nicht jetzt? "Hast recht, ich rufe ihn an." Ich zücke mein Handy und suche nach dem Namen unseres Pseudonyms, im gleichen Moment verschwinden wir aus der Sicht Cans. "Das was so gut!", kreischt Viyan leise und hüpft, was ich ihr gleich tue. "Warte ab, wenn er doch morgen nicht fragt, dann darfst du mir eine klatschen", verspricht Viyan mir. "Genug von Can. Was sollen wir jetzt machen?", frage ich. "Wir werden Essen gehen." Während wir zur Haltestelle laufen, snappe ich jedem - inklusive Ramazan und Malik - zurück. "Dieser hübsche Junge ist jeden Freitag im Bus." Viyan grinst und seufzt. Was Can wohl dachte? "Shana, du musst mir die Chemie Hausaufgaben geben. Nein, du musst es mir erklären!" Nickend steige ich in den Bus, mit dem wir zu unserem Standard-Dönerladen fahren.
Komischerweise ist gestern in der Schule, einen Tag nach Viyans Plan nichts passiert. Ich dachte ebenfalls, dass er mich ausfragen würde, doch gar nichts hat sich erwiesen. Nun laufe ich mit gestöpselten Ohrhörern zur Haltestelle und starre gedankenverloren durch die Gegend, bis ich in die lang nicht mehr besuchte Ecke gezogen werde. Hastig ziehe ich meine Ohrhörer raus und erblicke unser aller Freund Can. Respekt, dass er einen Tag Geduld hatte. Desinteressiert schaue ich auf den Boden. "Schau mich an." Seine Stimme ist kalt, doch das ist kein Grund jetzt auf ihn zu hören. "Shana, sieh mich an", knurrt er, was mich immer noch nicht dazu bringt, ihn anzugucken. Plötzlich greift er nach meinem Kiefer und zieht ihn etwas an sich ran, sodass ich leise nach Luft japse. Natürlich bin ich so stolz und schaue ihn immer noch nicht an, was ihn sichtlich die Nerven strapaziert. Er kommt mir näher und näher, bis ich ihn mit leicht aufgerissenen Augen erblicke. Siegessicher schaut er mich an und fängt an zu reden. "Azad also?" Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. "Tu nicht so, als ob du nichts weißt", zischt er. Ich packe seine Hand, die meinen Kiefer hält und schiebe sie weg. "Was soll sein?", zische ich zurück. "Wer ist das?" Viyans Plan wirkt! "Was geht dich das an?" Er seufzt. "Ist ja nicht so, dass Cihan noch vor kurzem etwas meinte, was dich in Schwierigkeiten bringen könnte, und du hängst dich an irgendwelche Jungs ran?", giftet er mich an. "Ich schmeiße mich nicht an irgendwelche Jungs ran!", kommt es empört von mir. "Ach ja?" "Was geht dich das überhaupt an?", frage ich. Er verstummt und schließt die Augen. "Wer ist der Junge?", fragt er ruhig und distanziert. "Niemand." Ich will und werde ihm nicht erzählen, dass es nur eine Masche war. "Wie niemand? Wen willst du hier verarschen?", knurrt er und kommt mir näher. Um ehrlich zu sein, dich. "Mein Bus kommt gleich", wechsele ich das Thema in einem distanziertem Ton. "Oh nein! Du gehst nirgendwo hin", knurrt er und läuft weiter auf mich zu. Da ich Körperkontakt vermeiden will und Can mehr und mehr in Richtung Aggressivität geht, weiche ich zurück. "Doch." Ich will an ihm vorbeilaufen, doch er greift fest nach meinem Oberarm und zieht mich zurück. "Ich habe gesagt, du gehst nirgendwo hin", knurrt er lauter. "Can, was willst du? Wolltest du mich nicht in Ruhe lassen?" Er beißt sich auf die Zähne, was durch ein leises Knirschen zu hören ist. "Damit du dich mit anderen vergnügst? Nein, dann bleibe ich lieber", keift er. "Ich vergnüge mich nicht mit Jungs!", rechtfertige ich mich. "Natürlich! Du bist ja so vernünftig!", ruft er sarkastisch, gefolgt von einem höhnischen Lachen. Mit schockiertem Gesichtsausdruck schaue ich ihn an. "Du willst es nicht verstehen", stelle ich lachend fest. "Was?" Ich schüttele resigniert den Kopf. Es reicht einfach. "Sag mir, was willst du?", frage ich kalt und laufe auf ihn zu. "Du vergnügst dich mit unendlich vielen Mädchen, aber keinen interessiert es. Ich kenne jemanden und schon bin ich die Unvernunft in Person? Ist das nicht widersprüchlich?!" Meine Stimme wird gegen Ende lauter. "Und deswegen sollst du nichts mit Jungs zu tun haben!", brüllt er, was mich zusammenzucken lässt. Er atmet schneller, versucht seine Atmung aber wieder zu normalisieren, während er sich durch seine Haare fährt. "Du weißt nicht wie Jungs sind. Malik und Ramazan sehen dich nicht als irgendein Weib, sondern als eine sehr gute Freundin, eine Schwester oder weiß Gott was! Wenn Jungs etwas sehen, was ihren Gelüsten entspricht, dann wollen sie es haben, bis sie was Neues finden!" Diesmal kommt er sehr schnell auf mich zu, dass ich automatisch nach hinten schrecke. "Und du? Als was siehst du mich?" Ich blicke ihm fest in seine faszinierenden Augen und warte auf meine Antwort. "Wer ist dieser Azad?" Wieso war es mir klar, dass er nicht antworten würde? Ich will es so gerne wissen. "Geht dich nichts an." Wieder ist diese Distanz zwischen uns. "Ich finde es schon heraus", sagt er monoton. Dann finde mal schön jemanden, den es nicht gibt! "Ich verstehe nicht, was du dann davon hast." Er schaut mich leicht verwirrt an. "Wieso willst du das wissen? Was willst du mit Azad machen?" Es ist überaus paradox mit einem testosterongeladenen Jungen über eine imaginäre Person zu diskutieren. "Dafür musst du den Grund nicht wissen", murmelt er und fährt sich wieder durch seine schwarzen Haare.
"Werde ich dich jemals verstehen können?" Wieder schaut mich Can an, aber diesmal intensiv und nicht kalt. "Das wird sich in den laufenden Jahren zeigen." Stumm beäugen wir uns. "Werde ich dich jemals verstehen können?", stellt er die Gegenfrage und kommt zwei Schritte auf mich zu. "Wieso sollte man mich nicht verstehen können?", frage ich verwirrt. "Du bist kompliziert, lässt nicht jeden in dein Herz rein und bestehst aus vielen Widersprüchen. Du bist kein einfacher Mensch." "Du bist doch nicht anders", stelle ich fest. "Mag sein. Trotzdem sind wir verschieden, obwohl wir so gleich sind", murmelt er rau, was mir eine leichte Gänsehaut verpasst. Stumm beäugen wir uns. Diese Situation lässt mich innerlich verzweifeln. "Belästigt Cihan dich noch irgendwie?", fragt er wieder in einer kalten Stimmlage, woraufhin ich mit dem Kopf schüttle. Er seufzt und schließt für einen kurzen Moment seine Augen. "Hör zu, Shana. Es ist einfach das Beste für dich, wenn du dich einfach von diesen Jungs fernhältst. Dir passiert nichts und alles ist gut", sagt er diesmal sanfter. "Dann muss ich mich auch von dir fernhalten." Seine Mundwinkel zucken - im negativen Sinne. "Willst du das wirklich?" Seine Stimme ist um einen Ton tiefer geworden, was die Kälte in seiner Stimme intensiver wirken lässt. Sprachlos schaue ich ihn an. "Sag es mir." Er kommt langsam auf mich zu, während ich nach hinten laufe. "Durch die ganzen Sachen, die uns passiert sind, haben wir eine Bindung, das kannst du nicht leugnen." Seine Stimme bleibt kühl, während mein Rücken die Wand erreicht hat. Langsam stützt er seine Hände neben meinem Kopf ab und schaut mich durchdringlich an. Eine Bindung? "Jetzt sag mir, Shana: Willst du, dass ich mich von dir fernhalte?", raunt er. Diese Situation erscheint mir so surreal. Ich bin wieder in einer Situation, in der ich noch nie war. Ja oder nein? Was bringt es mir, wenn ich ja sage? Wir würden uns nur streiten. Er könnte diese Antwort gegen mich verwenden und sagen, dass ich ab ihm hänge. Nein, das will ich nicht. "Ja, will ich." Sein Gesicht verliert in diesem Moment etwas Farbe. Ich schlängele mich durch seinen rechten Arm und laufe, doch drehe mich kurz um. "Es ist das Beste für uns beide." Damit lasse ich ihn in der Gasse. Dieser Schritt war irgendwie hart, aber wenn es uns beiden dadurch besser geht, wieso denn nicht? Tut es mir denn gut? Ich fühle mich etwas angespannt, aber das wird sich sicher legen. Ich spüre ein unangenehmes Kribbeln im Brustkorb und in meinen Händen. Atmen fällt mir gerade etwas schwer.
'Dein Plan hat funktioniert', schreibe ich Viyan, die mir rasch antwortet.
'Ehrlich? Seid ihr jetzt zusammen?', fragt sie und setzt vier Mondgesichts-Emojis hinter ihre Frage, was mich leicht schmunzeln lässt.
'Nein, wir gehen uns endgültig aus dem Weg.'
'WAAAAAAS?! Wie? Was meinst du?'
'Wir haben geredet', antworte ich kryptisch.
'Ja, das ist doch gut! Und dann?'
'Wir haben etwas diskutiert und dann kam es dazu', tippe ich seufzend.
'Wir reden noch darüber.'
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