Kapitel 57

Nach der letzten Stunde Kunst, die meiner Meinung nach zu schnell vergangen ist, laufe ich ganz langsam zur Haltestelle. Zum Glück ist Can nirgendwo zu sehen, aber vielleicht liegt es daran, dass ich eine Haltestelle vorgelaufen bin. Ich bin total nervös. Ich schäme mich mehr vor der Tatsache, dass ich seine Familie und vor allem seine Mutter kennenlerne als der Tatsache, dass ich wirklich mit Can bei ihm bin. Okay, tief durchatmen! Es ist nur ein Tag von zwei Monaten, an denen ich bei einem relativ gutaussehenden Gorilla bin. Mein Handy fängt an zu klingeln, weswegen meine Musik gestoppt wird. Die Nummer ist zwar unbekannt, aber trotzdem gehe ich ran.

"Wer stört?"

"Nicht so frech! Wo bist du?", fragt Can mich mahnend. Der schon wieder.

"An der Haltestelle, bin vorgelaufen."

"Okay." Danach legt er auf. Was für ein langes Gespräch.

Ich höre weiter meine Musik und warte noch zwei Minuten, bis der Bus kommt, mit dem ich leider Gottes zu Can fahre. Wie es wohl sein wird? Was wird passieren? Was wird sich die Mutter wohl denken? Wird sie nett zu mir sein? Auch im Bus höre ich nicht auf darüber nachzudenken. Als auch Can einsteigt, schmunzelt er mich vielsagend an. Das kann ja mal was werden. Das Schlimme ist, dass heute zufälligerweise ganz wenige Menschen mit dem Bus fahren, sodass wir schneller ankommen. Mir ist nach Heulen zumute. Es kann ja auch sein, dass niemand bei ihm ist, dass generell heute keiner in der Stadt ist. Ja, das kann ja sein. Ich darf nicht immer so negativ denken. An unserer Haltestelle angekommen, schaut er mich belustigt an und läuft vor. Ich gehe einen Umweg, um so Zeit zu schinden. Ein Junge tippt mich an, weswegen ich meine Musik stoppe. "Kannst du mir vielleicht sagen, wo das evangelische Krankenhaus ist?" Da er einige Zettel in der Hand hat, gehe ich davon aus, dass er sich dort für ein Praktikum oder ähnliches bewerben möchte. Mein Problem ist, dass mir schwerfällt, Wege zu erklären. Ich muss dreimal überlegen, wo links und rechts ist, also entscheide ich mich, ihn zu begleiten. Während des Weges sind wir beide still. Den rechten Kopfhörer lasse ich aus Höflichkeit draußen. "Ist es sehr weit?", fragt er, was ist verneine. Mein Handy fängt an zu klingeln.

"Ja?"

"Wohin gehst du? Und wer ist dieser Junge?", fragt Can bissig.

"Beruhige dich, ich komme gleich." Ich habe vergessen, dass Can auf der Treppe wartet.

An der Pizzeria angekommen, sage ich dem Jungen, dass er einfach geradeaus laufen soll, bis er an einer Haltestelle ankommt und laufe wieder zurück, bis ich vor der Tür stehe, die von Can geöffnet wird. Sein undefinierbarer Blick liegt auf mir, während wir auf den Aufzug warten. "Wer war das?" "Ein Junge." Er kneift für einen kurzen Augenblick die Augen zusammen. "Wie heißt er?" Ich zucke auf seine Frage mit meinen Schultern. "Weiß ich nicht." Der Aufzug fährt uns zur dritten Etage. "Willst du mich verarschen? Du läufst mit einem Jungen, dessen Namen du nicht kennst?" Ich stöhne genervt auf. Wie nervig kann ein Typ nur sein? "Er hat mich gefragt, ob ich weiß, wo das Krankenhaus ist! Da ich keine Wege erklären kann, habe ich ihn etwas begleitet! Wo ist das Problem", antworte ich bissig und steige aus dem Aufzug aus. Mein eigentliches Problem steht doch jetzt vor mir. Mein Herz fängt an zu Klopfen. Ich bin total nervös, verstecke mich schon hinter Can. "Sie beißen nicht." Sie? Er betätigt die Klingel und dann wird meiner Meinung nach zu schnell die Tür geöffnet. Can tritt ein, lässt mich ohne jeglichen Schutz da. Verdammt! Das junge Mädchen, schaut mich geschockt. Mein Ausdruck sieht nicht anders aus. Ich glaube das ist Derya. "Komm rein, Shana." Mit einem mulmigen Gefühl ziehe ich meine Schuhe aus, bleibe dicht an Cans Seite.

"Oh mein Gott, Mama! Can dezgir heya!", ruft sie hysterisch. Toll! Jetzt denken die beiden, ich bin Cans Freundin! Ich bin und werde aber niemals seine Freundin sein. Mein Blick gleitet wehleidig zum schmunzelnden Riesen. "Was? Lüg mich nicht an!" Die Mutter rennt aus der Küche zu uns in den Flur. Als erstes fallen mir ihre stechend gelben Augen auf. Daher hat Can sie also. Sie zieht die Luft ein, als sie mich sieht, hebt dankend die Hände zur Decke. Oh nein, das ist mir so peinlich! "Alhamdullilah! Keçek delale!" Oh! Sie findet mich hübsch. Das entspannt mich ein wenig. Ich lächele verlegen. Unter ihren gold-gelben Augen habe ich das Gefühl, zu erröten. Can kann sich glücklich schätzen, dass er die Augen seiner Mutter geerbt hat. "Ma sha Allah, çenda cana!" Bewundert schaut sie mich an und drückt meine Hände. Sie plustert mit ihren Komplimenten über meine Erscheinung mein Selbstbewusstsein immer weiter auf. "Gelek cana. De buxa xwezê?" Sowohl Can als auch ich geben dasselbe entsetzte: Was?! von uns. Die Mutter versteht das komplett falsch. Nie im Leben würde ich Can heiraten wollen! Ich verdiene etwas Besseres. Can und ich als Ehepaar? Niemals. Kommt nicht in Frage! "Mama, bitte!" Can fasst sich peinlich berührt an sein Nasenbein. "Was denn?", murrt die Mutter nun. "Mama, sie ist Kurdin! Sie versteht alles!" Ihre Augen weiten sich und ihr kleines verstohlenes Schmunzeln lässt auch mich in dieser unangenehmen Lage schmunzeln. "Weiß deine Mutter, dass du hier bist?", fragt sie mich. "Nein und herausfinden darf sie es niemals", flehe ich, weswegen sie verständlich nickt. "Niemand von euch wird etwas sagen!" Sie schaut auf Can und seiner Schwester, die beide artig nicken. "Hîn de çiken?" Sie zieht bei ihrer Frage argwöhnisch die Augenbrauen hoch. Ich kann einerseits verstehen, dass sie wissen möchte, was wir machen wollen, aber irgendwie auch nicht. Es ist nur Can – der hässliche, nervende Can. "Me ders hena", antworte ich schlicht und wahrheitsgemäß. Wir machen ja wirklich nur unsere Aufgabe.

Ich folge Can beschämt ihn in sein Zimmer, als die Mutter sich nickend zurück in die Küche macht. Das war echt komisch. Das war verdammt verrückt. "Du bist total rot geworden." Can schmunzelt. "Deine Mutter dachte auch, dass ich ihre zukünftige Schwiegertochter bin." Can fängt an zu lachen. Es hört sich irgendwie melodisch anhört – aber nur ein bisschen. Er sieht so unbeschwert dabei aus. Ich fühle mich so wohl dabei, vor allem, weil er mich danach so zufrieden ansieht. "Can, welche Ohrringe soll ich anziehen?", fragt die Schwester, als sie in sein Zimmer tritt. Sie hat nicht die gleiche Augenfarbe wie ihre Mutter und Bruder. Ihre sind braun. "Frag und bedank dich bei Shana. Sie hat mir geholfen." Das muss nicht sein. Ich bin nicht wirklich die offenste Person. Mich überrascht es sehr, dass sie aber das komplette Gegenteil ist und sich mir schon in die Arme wirft. "Dankeschön! Du hast einen tollen Geschmack. Sicher, dass du meinen Bruder nicht heiraten möchtest?" Mir wird ganz warm. Oh Gott. "Derya", mahnt Can. "Obwohl? Mein Bruder ist auch ziemlich hässlich." Ich pruste. "Derya, biqalia!", zischt er, weswegen Derya sich von mir verabschiedet. Wie freundlich er ist und von seiner Schwester fordert, sich zu verpissen. Jetzt sind wir wieder alleine.

Can schnappt sich seufzend seinen Laptop. Sein Zimmer ist sehr schlicht. Schwarz-weiße Möbel und weiße Wände. "Mit was sollen wir beginnen?" Ich will gerade etwas sagen, da ruft uns seine Mutter in die Küche zum Essen. Oje, so schnell schon? Ich bin gar nicht vorbereitet darauf, setze mich schüchtern neben Can wage es nicht, vom Tisch aufzusehen. Vor allem vor Eltern kann ich nicht reden. Sie stellt die Lasagne auf den Tisch, lacht leise, als sie meinen genierten Zustand bemerkt. "Çent şermîna", stellt sie fest. Ich kann vor Erwachsenen nicht offen sein. Ich verstecke mich sofort in mein Schneckenhaus, auf dem dick und fett Schüchtern draufsteht. Das stille Essen bereitet mir noch mehr Druck. "Warst du zufälligerweise auf der Hochzeit von der Familie Abu-Hassan?", fragt sie mich, was ich bejahe. Das war die Hochzeit, auf der auch Cihan und Can waren. Hach! Die alten Zeiten. "Ach! Deswegen kommst du mir bekannt vor. Ich kenne deine Mutter doch!" Meine Gabel fällt mir aus der Hand vor Schock. Das heißt nichts Gutes. "Keine Sorge. Ich schwöre auf meinen Sohn, dass nichts erzählt wird", versichert sie mir. Ich mag sie. Sie wirkt so herzlich und voller Liebe – ganz zu schweigen von ihrem aggressiven Sohn. "Mama, Can hat mir die Sachen nicht ausgesucht. Sie war es." Derya zeigt auf mich. "Min gut, buçî Can hediya bu te îna." Er holt ihr sonst nie Geschenke? Dass Cans Mutter verwundert über Cans Geschenk ist, verwundert mich ebenfalls.

Ich lasse mich davon nicht weiter beirren und esse die Lasagne weiter. "Wie heißt du, çana min?", fragt mich die Mutter. Ihr Lächeln ist verdammt süß. Sie sieht echt schön aus. "Shana", gebe ich schüchtern von mir. "Was willst du nach deinem Abitur machen?" "Hoffentlich Medizin studieren", antworte ich immer noch schüchtern. Ihre Augenbrauen gehen überrascht hoch. "Schön, dass es noch solche Kinder gibt." "Can will auch Arzt werden, aber ich würde mich niemals von ihm operieren lassen." Derya gefällt mir. "Du wirst dich erst operieren lassen, wenn ich dich krankenhausreif geschlagen habe", droht er ihr. Pure Geschwisterliebe. Bei mir läuft es nicht anders ab. Mein Bruder droht mir auch immer mit Schlägen, aber ich lache ihn immer aus. "Mama!", quengelt Derya. "Can, bes baxiwa", befiehlt die Mutter, weshalb Derya und ich zu giggeln beginnen. Can schweigt also, wie die Mutter es befohlen hat, wartet, bis ich zu Ende esse und räumt dann meinen Teller weg. Ich habe mich nicht einmal bedanken können, weil ich aktuell zu schüchtern bin. "Dass ich dich schüchtern erlebe, ist ein Wunder", kommentiert er, als wir wieder im Zimmer sind. Ich quittiere es schulterzuckend und setze mich zu ihm auf die Bettkante.

"Was ist deine Idee?" "Wie wäre es mit Humangenetik?", schlage ich vor. Er nickt kurz und sucht dann im Internet nach Informationen. "Du kannst dich ruhig hinlegen oder so", murmelt er. Ich krause die Stirn. "Und wieso bin ich dann hier?" "Ich habe etwas über Genmutationen", wechselt er das Thema jetzt und zeigt mir den Bericht. Er kopiert die wichtigsten Sachen heraus und danach fangen wir mit dem Formulieren an. "Lass uns auch etwas über bestimme Erbkrankheiten schreiben", schlage ich vor. "Welche?" "Albinismus? Down-Syndrom und vielleicht noch Lippen-Kiefer-Gaumenspalte?" Als Antwort nickt er wieder. Es ist sehr komisch bei ihm zu sein, allein in seinem Zimmer, zusammen auf seinem Bett – und dann noch kooperativ. Ich dachte, wir würden uns nur streiten, aber im Gegenteil! Wir arbeiten tatsächlich zusammen. Ich mag die Atmosphäre. Mir gefällt es, wie konzentriert Can arbeitet und wie ruhig es gerade ist. Daran könnte ich mich gewöhnen. Mein Handy fängt an zu klingeln ... Scheiße, Mama! Meine Hand schnellt sofort zu Cans Mund und drückt so fest zu, dass er schon taumelt. Er darf keinen Mucks von sich geben. "Sei still!" Und zu seinem Glück tut er es auch – augenverdrehend.

"Ja?"

"Wo bist du?" Bei Can, auf seinem Bett.

"Dev hewalakê." Ich spüre, wie sich Cans Lippen zu einem Lächeln formen.

"De kengî he mal?", fragt sie mich.

"Später." Tolle Antwort!

"Komm nicht zu spät." Ich kann beruhigt auflegen.

Erleichtert seufze ich und lege mein Handy weg. Jetzt kann ich auch von Cans Gesicht ablassen und den Laptop von seinem Schoß nehmne. "Ich bin also eine Freundin?", neckt er mich. "Deine Mutter dachte, ich wäre deine Frau, also rede nicht", murmele ich abgelenkt von den Informationen zur Blutgruppenvererbung. Das werden seltsame zwei Monate. Mein Handy vibriert, weswegen ich einen Blick drauf werfe und sehe, wie Viyan in die Gruppe geschrieben hat, aus der wir Cathleen entfernt haben. Da ich keine Zeit habe, lege ich es wieder hin, doch sie scheint wohl etwas zu erzählen zu haben und hört nicht auf zu schreiben, also stelle ich die Gruppe stumm und verabschiede mich m 20:12 Uhr von Can, dessen Angebot ich abgelehnt habe, mich etwas zu begleiten. Ich glaube, die Mutter wollte gar nicht, dass ich gehe. Sie hat mir deutlich gemacht, dass sie sich sehr über den nächsten Besuch freut. Sie ist so goldig! Wieso kann ihr Sohn nicht so voller Liebe sein wie sie? 

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Schaut einfach auf die Sätze, die nach den kurdischen Sätzen kommen. Da steht die indirekte Übersetzung.

-Helo

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