Kapitel 28
Ich muss vergessen, was passiert ist. Sowohl das mit Cihan, als auch das mit Can. Auch, wenn man beides nicht miteinander vergleichen kann, da beide das komplette Gegenteil getan haben, will ich es vergessen. Glaube ich. Er hat mich umarmt. Mein Feind hat mich umarmt, ist hinter mir hinterhergerannt und nicht zu vergessen hat er mich schon das zweite Mal beschützt. Für mich war es irgendwie sehr komisch, aber auch sehr beruhigend, Can zu umarmen. Warum es beruhigend war, weiß ich aber nicht. Ich komme um 17:58 Uhr zu Hause an und gehe sofort in mein Zimmer, damit meine Mutter mich nicht sieht. Sonst fragt sie wieder, was los sei. Sie meint immer, dass meine Unterlippe hervorgeschoben sei, wenn ich beleidigte bin oder etwas Negatives in mir trage. Ich will einfach schlafen. Nachrichten springen mich an und halten mich somit von meinem eigentlichen Plan auf. Da ich meine mobilen Daten ausgemacht habe, kommen sie jetzt erst an. Viele aus der Mädchengruppe. Alle drei haben versucht mich privat anzuschreiben, ebenfalls auf Snapchat. Auch Ramazan hat mir geschrieben. Süß sind sie ja. Ich beantworte kurz in der Gruppe die Frage, ob ich gut nach Hause gekommen bin und widme mich Ramazan. Er könnte ein sehr guter Freund werden. Vielleicht mein bester Freund, mein aller erster Bester Freund. Das wäre etwas Neues.
'Mir geht es gut, wie geht es deinem Kopf?', frage ich ihn, da ich ihn ja nicht wirklich anschauen konnte, wegen Cihan. Während ich auf eine Antwort warte, lege ich mich hin. Mein Jahr hat schon von Anfang an komisch begonnen. Zwar liebe ich Abenteuer, aber mir wurde es zum Teil zum Verhängnis. Ich werde warten, bis das Gute endlich kommt. Ich habe das Gefühl, dass es kommt. Hoffentlich.
'Dem geht's auch gut. Was machst du?', fragt Ramazan. Anscheinend muss sein Kopf aus Stein sein, denn der Aufprall war relativ laut. Schon wieder kommt mir das Szenario von vorhin in den Sinn. Gänsehaut durchzuckt mich. Alles ist in meinem Gedächtnis eingespeichert und geht niemals weg. Egal, bald sind Ferien. Ferien. Da habe ich meine Ruhe und dann kommt die Klassenfahrt. Ich bin zu müde, um darüber nachzudenken. Ich brauche jetzt einfach nur Schlaf. Ich werde durchschlafen. Scheiß auf alles jetzt, der Schlaf wird priorisiert.
Am nächsten Morgen stehe ich ausgeschlafen, aber dennoch irgendwie indisponiert auf. Nach langer Zeit hole ich Kleidung aus meinen Schrank. Eine Jogginghose in grau und mein oversize T-Shirt, ebenfalls in grau, kombiniere ich auf einer etwas enganliegenden Kristallkette. Meine Haare bleiben in einem Dutt, bei dem ich ein paar Strähnen raus ziehe und auch oben am Ansatz etwas zupfe, dann ziehe ich meinen schwarzen Mantel an. Den Rest der Routine erledige ich und gehe kurz etwas essen. Danach ziehe ich meine schwarzen Nike Air Max 90 an und schlendere zur Haltestelle. Ich habe auf nichts Lust. Ich höre den ganzen Weg nur Deutsch-Rap, alle Partylieder schalte ich direkt weg. Im Winter kann ich generell keine Sommermusik hören. Das passt einfach nicht. Je mehr Beleidigungen, umso besser fühle ich mich. In der Schule beachte ich niemanden, wie fast immer, aber diesmal ist mein Blick nicht einmal auf meine Freunde gerichtet. Gleich Mathe, na toll! Mathe ist für mich die Hölle. Ich würde es niemals schaffen, wenn ich es als LK wählen würde. Cihan wird Mathe als LK wählen. Ekelhaft, wie er selbst. Zum Glück erkennen meine Freunde direkt, dass ich nicht reden will, denn mein Blick ist kalt, apathisch und aggressiv. Eigentlich wie immer, aber diesmal ist auch mein Verhalten so gegenüber meinen Freunden. Außerdem höre ich immer noch Musik, bis es klingelt. Malik schaut mich vorsichtig an, als ich mich hingesetzt habe. Ich hebe kurz den linken Mundwinkel, mir ist nicht nach Lachen zumute. Ich will einfach so schnell wie möglich nach Hause und schlafen. Aber erst jetzt kommt mir der Vokabeltest in den Sinn.
Eigentlich brauche ich ja nicht zu lernen, ich kann ja Englisch. Nein, du lernst! Du brauchst ein gutes Zeugnis!, ermahne ich mich innerlich selber. "Wie geht es dir?", fragt mich Malik sanft, so als ob er Angst hätte, dass mir etwas passieren könnte. Ich drehe mich zu ihm. "Den Umständen entsprechend gut. Wie geht es dir und Ramazan?" "Ganz gut. Ist gestern sonst noch was passiert?", fragt er mich. Ob er weiß, dass Can hinter mir hergerannt ist? "Ähm, also...", will ich anfangen, aber Malik unterbricht mich. "Das mit Can weiß ich, aber ich meine, ob Cihan dir noch geschrieben hat." Er weiß also Bescheid. "Ouh, ähm, nein, hat er nicht. Nochmals danke, ich schulde euch etwas", sage ich. "Nein, Shana und jetzt musst du aufpassen", meint er und zeigt auf unseren Mathelehrer. Bis jetzt habe ich nur mit Malik geredet. Während der zwei Mathe Stunden erklärt er mir fast alles, da ich in Mathe nur schwer mitkomme. "Malik ich kann das einfach nicht! Ich konnte und werde es nie können!", seufze ich resigniert. Was zum Teufel sind auch diese gottverdammten Änderungsraten und Substitutionen? Wer braucht sowas irgendwann im Leben? Kann ich mir damit etwas zu essen machen? Nein, also ist es unnötig. "Wenn du willst, kann ich dir Nachhilfe geben", schlägt er mir vor, während wir vor der Tür auf Ramazan warten, der mit dem Lehrer noch kurz spricht. Cathleen, Saliha und Viyan warten mit uns. Can auch, den beachte ich aber nicht. "Würdest du das wirklich tun? Ich will dir keine Umstände bereiten", murmele ich verlegen und spiele an meiner Unterlippe herum. Er lächelt sanft. So süß! "Du machst mir keine Umstände, nimm es einfach an." Wie goldig! "Okay", stimme ich ein. Cathleen und Viyan husten unauffällig hinter mir, Saliha hingegen räuspert sich sehr stark. Ich versuche so gut wie es geht mein Lachen zu unterdrücken. Sie können sich auch nie zurückhalten. Typisch. "Kannst du heute?", frage ich ihn. Für den Vokabeltest lerne ich einfach zu Hause. "Ja, sollen wir dann direkt nach der Schule zu mir?" Was? Zu ihm? Wenn meine Mutter das weiß. Ich schaue ihn etwas überrascht an. "Ähm, ich dachte wir gehen in die Bibliothek? So überlebe ich es wenigstens." Ich geniere mich. Zu einem Jungen nach Hause gegangen, bin ich nie. Und dann noch zu Malik, einem Player. Einem schlauen Player. "Oh, hab's vergessen. Ich bin daran gewohnt, dass Mädchen zu mir kommen", meint er lachend. Ernsthaft? Ich schaue ihn abwertend an. Sofort guckt er mich verdutzt an. "Sorry, kommt nie wieder vor." Er hebt abwehrend die Hände. Er hat so schöne blaue Augen.
Nun kommt auch Ramazan raus und schaut mich an. Er kommt auf mich zu und will mich umarmen, was ich erwidere. "Geht's dir gut?", flüstert er mir in mein Ohr, bevor er sich von mir löst. Ich wollte ihm gerade antworten, als mir seine Schläfe ins Auge fiel. Ich schaue ihn geschockt an. "Ramazan, das muss genäht werden. Warst du nicht im Krankenhaus?" Er musst ganz schön stark aufgeprallt sein. Die Wunde ist nicht wirklich groß, aber dafür tief und etwas geschwollen. Wie konnte sowas passieren? "Halb so wild", meint er gelassen und lacht. Ich sehe ihm aber an, dass es ihm nicht so gut geht. "Ramazan, ich meine das ernst, geh zum Arzt!", befehle ich ernst. Er schaut mich nur mit großen Augen an und schwingt den Kopf hin und her, dann läuft er wie ein Topmodel auf den Schulhof. "Was mache ich bloß mit diesem Jungen?", seufze ich und laufe mit den anderen raus. Wir setzen uns auf die Metalbänke. Mir ist aufgefallen, dass die beiden anderen Jungs, die eigentlich mit den Can und Co. abhängen, gar nicht mehr hier sind. "Malik? Ihr habt doch zwei weitere Kollegen, wo sind die?", frage ich. "Die Jungs gehen nicht auf mehr diese Schule, weil sie keine Lust mehr hatten und jetzt eine Ausbildung starten", sagt Ramazan für Malik. "Ach so." Ich nicke einmal, dabei ist mein Blick auf den Tisch gerichtet. "Willst du dir jemanden von denen klären?", fragt Ramazan schelmisch. "Ich glaube nicht, dass sie einen von denen will", mischt sich Viyan ein und lächelt pervers. Ich schaue sie ernst an und kneife die Augen zusammen. "Wie kommst du da drauf?", fragt Malik. "Sie hat schon jema-," Bevor Cathleen weiter reden konnte trete ich sie unter dem Tisch.
Gott, ich hoffe ich bin nicht rot geworden. Ramazan und Malik schauen mich geschockt an. Mein Blick huscht zu Can. Er sieht angespannt aus. Er wirkt sauer, der Kiefer gespannt und die Halsader ist am Pochen. Wieso pocht sie immer? Sowas habe ich noch nie gesehen. "Wer ist der Unglückliche?", fragt Can angespannt, bemüht sich jedoch arrogant zu klingen. Unglückliche? Oh nein, Can. "Ich muss dich enttäuschen, er ist alles andere als unglücklich, ganz im Gegenteil sogar." Ich klinge provokant und klimpere mit den Wimpern. Eigentlich wollte ich sagen, dass Cathleen lügt, aber da es Can anscheinend aufregt, spiele ich mit. "Lügen bringen dich nicht weiter." "Musst du ja wohl am besten wissen", kontere ich mit einer gespielt freundlichen Stimme. "Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand mit dir glücklich sein kann." Can schaut abwertend. Dieser Junge nervt. Ich zeige auf die Leute um uns beide herum. Sowohl auf seine, als auch auf meine Freunde. "Glaub mir, er ist sehr glücklich", gebe ich im selben Ton zurück. "Wäre ich an seiner Stelle, würde ich am liebsten sterben." Alles klar, Can. "Stimmt, vor Freude würdest du sterben", kontere ich wieder. Danach klingelt es auch schon und passend dazu brüllen Malik und Ramazan herum. Meine Freundinnen lachen nur. Zum Spanischunterricht verabschieden wir uns von Saliha und Cathleen, da Saliha schon in der Realschule Französisch gewählt hatte und deswegen keine zweite Fremdsprache braucht. Cathleen hingegen findet Französisch schöner. Weiterlaufend erkenne ich, dass Ramazan schwankt. Ich halte ihm am Oberarm fest. "Alles in Ordnung?", frage ich leicht besorgt. An seiner Schläfe hat sich Kruste gebildet, auch kleine Flusen vom Pullover hängen dran. Er hat die Wunde nicht abgedeckt. "Ja, ich bin nur etwas müde." Man erkennt Anstrengung und Erschöpfung in seiner Stimme. "Willst du etwas essen? Ich habe Oreos dabei." Ich krame in meiner Tasche, aber er verneint nur. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass ihm was zustößt. Gott bewahre ihn davor. Ich schaue zu Malik. "Hat er heute schon etwas gegessen?", frage ich. "Nur etwas Kleines, er hat keinen Appetit", antwortet Malik. Während der beiden Spanischstunden, war Ramazan abweisend. Sonst ist er immer so dynamisch und meldet sich die ganze Zeit mit mir. Was hat er?
Wir laufen aus dem Raum raus und begeben uns wieder in die Pause. Viyan geht eine Freundin begrüßen, weswegen ich alleine mit den Jungs bin. Mir macht es nichts mehr aus, früher war es so, aber jetzt nicht mehr. Ich halte es nicht mehr aus, ich muss wissen, was mit ihm los ist. "Ramazan, sag endlich was du hast." Er schaut mich starr an, sein Gesicht ist aber normal farbig. Er wirkt tot. "Ramazan?", fragt Malik. Das Einzige was Ramazan macht ist zu Boden zu sacken. "Ramazan!", schreie ich und fange seinen Körper auf, damit sein Kopf kein zweites Mal gegen etwas prallt. Ich lege seinen Körper vorsichtig auf den Boden. Ich muss eine stabile Seitenlage machen, aber Can kommt mir zuvor. In Cans Augen sehe ich Panik aufblinken. Sein Kopf liegt auf meinem Schoß. Ich hole mein Handy raus und schalte das Blitzlicht an, um seine Pupillenreaktion zu testen. Ich weiß nicht, ob das was bringt. Ich bin wieder in einer so neuen Situation. Die Reaktion ist träge, ob das wohl von einer Gehirnerschütterung kommt? Natürlich! Gestern ist er doch gegen die Scheibe geknallt. "Malik, ruf bitte den Notarzt. Es ist bestimmt eine Gehirnerschütterung, die er sich gestern zugenommen hat", sage ich mit fester Stimme, obwohl ich mental das Gegenteil bin. Noch nie habe ich jemanden gesehen, wie er ohnmächtig geworden ist und jetzt bin ich mitten drin. Meine Hände zittern. Ich prüfe den Pulsschlag an seinem Hals, Can an seinem Arm. "Die Atmung ist in Ordnung", stellt Can leise fest. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass sich Can gestresst durch sein schwarzes Haar fährt. "Es ist bestimmt nur eine Blutgefäßverstopfung oder Verletzung, die er gestern wegen Cihan bekommen hat", murmele ich hasserfüllt und fahre ihm mit der einen Hand über seine Locken und mit der anderen streichele ich sein Gesicht. "Die Notärzte kommen gleich." Malik packt sein Handy weg und dreht sich um. Ein Kreis hat sich um uns gebildet, wie ich sowas hasse. Aber würde ich nicht mitbeteiligt sein, würde ich auch im Kreis stehen. Trotzdem sollen sie sich verpissen. "Verpisst euch! Was gibt's zu gucken? Lasst dem Jungen Platz!", brülle ich alle an. Viyan, Saliha und Cathleen stehen etwas weiter weg und schauen fragend. Nachdem sie verstanden haben, was passiert ist, verscheuchen sie alle Schaulustigen.
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Schockmoment für alle Ramazan-Fans.
-Helo
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