Kapitel 25
"Oh mein Gott!" Salihaist ganz aus dem Häuschen. "Da steckt etwas dahinter", spekuliert Viyan. "Er saß auf dir und du auf ihm?" Cathleen, wer sonst? Ihre Augenbrauen springen auf und ab und schon wird aus der ernsten Situation eine Standardsituation, voller Zweideutigkeit und Witzen. "Ich will nicht wissen, was du dir da so ausmalst", erwähne ich skeptisch. Die Konversation vor der Sporthalle habe ich mal weggelassen. Besser so. Vergessen werde ich es nie. Diese ganzen Sachen, die mit Can passieren, werde ich nie vergessen. Mal wieder ist sonst nichts passiert. Es gibt immer einen besonderen Moment während des Schultages und der impliziert immer Can. Englisch war gut. Wir haben einen Vokabeltest geschrieben, damit die Note feststeht. Außerdem kam Herr Markus kurz rein und meinte, dass wir eine Klassenfahrt machen werden. Er war total enthusiastisch, weil er unbedingt will, dass wir uns alle besser kennenlernen. Es wird aber innerhalb Deutschlands sein, womit ich kein Problem habe. Nach den Osterferien fahren wir nach Berlin. "Sauber, wir fahren weg!" Cathleen freut sich und tanzt. Auch die anderen sind sichtlich begeistert. Ich freue mich zwar auch, aber da gibt es ein Problem: Can. Auf Klassenfahrten passieren immer Dinge. Immer. Egal, was man sagt. Entweder kommen welche zusammen oder es gibt Streit. Bei mir wird es natürlich Streit sein und Aleyna wird sich bestimmt auf jemanden schmeißen – ihre Hündinnen natürlich auch. Bestimmt auf Can. Aber vielleicht wird es auch ganz lustig. Ramazan ist ja dabei. Da kann es nur lustig werden. "Shana?", reißt mich Saliha aus meinen Gedanken. "Mh?" "Was ist los? Freust du dich nicht?", fragt sie mich. "Doch natürlich, aber es wird sicherlich etwas wegen Aleyna und so passieren. Mal gucken, was sich so ergibt."
"Natürlich freut sie sich. Sie und Can können dort tun und lassen, was sie wollen. Vergiss nicht, du musst noch Jungfrau bleiben." Es war so klar, dass Viyan wieder so etwas abgeben muss. Ich verdrehe schmunzelnd meine Augen, ignoriere all ihre wilden Fantasien, die zwischen Can und mir auf der Klassenfahrt entstehen sollen, während wir uns zur Haltestelle begeben. Dort sind einige aus meiner Stufe. Unter anderem auch Malik, Ramazan, Can und Aleyna. Seit wann fährt die mit dem Bus? "Cano, du antwortest gar nicht, was ist los?", fragt Aleyna in einer ekeligen, gespielt unschuldigen Tonlage. Ich weiß nicht, wann mich ein Mädchen zuletzt so angeekelt hat. Ich hasse dieses Mädchen. "Aleyna!", faucht Can warnend, erblickt mich und sofort ändert sich sein Gesicht. Die Wut lässt nach. Er schaut jetzt provokativ. "Lass uns heute einfach treffen, dann können wir reden und mehr", raunt er zu Aleyna laut genug zu, dass ich es höre. Aleyna kichert wie ein Pferd und wird rot. Oh mein Gott ... wie peinlich ist er? Was zur Hölle sollte das werden? Das war mehr als nur fremdschamerregend und verwirrend. Er war doch noch vor einer Sekunde wütend. Das ist ein Psycho, hundert Prozent! "Was ein Spast", murmele ich zu meinen Freundinnen, die danach leise lachen. Wann kommt der Bus endlich? Eigentlich habe ich Geduld, aber da Can versucht mich zu provozieren, will ich ihn so schnell wie möglich loswerden. "Shana!" Ramazan kommt auf mich zu und umarmt mich wieder. Sofort fange ich an zu strahlen. Wenigstens ein Junge, der mir beweist, dass nicht alle wie Can sind. "Ich hab das heute in Sport gesehen." Er wackelt vieldeutig mit den Brauen. Ich werde sofort rot. Bitte nicht. Das ist mir so peinlich! "Wie du Can flachgelegt hast." Und schon wieder springen seine Augenbrauen. Du hast Can flachgelegt. Das hört sich nicht so prickelnd an. "Mit dir werde ich mich niemals anlegen, sonst schlägst du mich auch noch, aber falls ich in Schwierigkeiten bin, hilfst du mir dann?" Ich muss mich daran erinnern, wie alle drei Jungs mir zur Hilfe gekommen sind. Aber diesen Gedanken schiebe ich schnell wieder bei Seite. "Immer doch. Schreib mir einfach", schmunzele ich.
Bevor er mir antworten kann, hält ein schwarzes Auto vor der Haltestelle, da wo eigentlich der Bus in sieben Minuten stehen soll. Das ist Cihans BMW. Er fährt das Fenster runter und beugt sich zur Beifahrerseite, um akustisch besser verstanden zu werden. Mein Magen zieht sich zusammen. "Shana, komm. Ich fahre dich nach Hause." Mir wird kalt. Vergiss es! "Nein, will ich nicht!" Ich schaue ihn angeekelt an. Was denkt er sich? Wie realitätsfern lebt der Typ? "Komm schon, Shana. Warum willst du hier warten?" Das ist nicht sein Ernst! "Sie hat Nein gesagt!", mischt sich ein gereizter Ramazan ein. Seine Hand legt sich auf meine Schulter, schiebt mich schon halb hinter sich. Der Rest beäugt das Szenario. "Ramazan, halt dich da raus!", bellt Cihan. Meine Freundinnen verteidigen mich, aber Cihan ignoriert sie gekonnt. Dass Cihan aussteigt, macht mich nervös. Ich verstecke mich hinter Ramazan und auch Malik, der dazukommt. Mein Herz schlägt schneller. Er soll wegfahren. Was will er von mir? "Hau ab, Junge." Maliks Ton so kalt, so ungewohnt für seine sonstigen Verhältnisse. Sonst ist er immer so liebevoll. "Ah, Malik. Wie geht's deiner Schwester?", fragt Cihan zynisch. Ich keuche auf. Wie dreist! Maliks wunder Punkt wird getroffen. Er spannt sich an und will auf ihn los, doch Ramazan hält ihn fest. "Wie geht's denn deiner Ex?", fragt Ramazan zur Kompensierung, scheint damit auch Cihan wunden Punkt zu treffen. Er hat sie wohl echt geliebt. "Cihan, geh einfach", traue ich mich endlich zu sprechen. Mir gefällt es überhaupt nicht, dass meine Stimme nicht so fest wie sonst ist. Ich hoffe, dass niemand anders das winzig kleine Beben in ihr bemerkt. Doch er hört gar nicht hin und schubst plötzlich Ramazan und Malik zur Seite. Ramazan knallt durch Malik heftig gegen die Glaswand der Haltestelle, Malik taumelt nur leicht zur Seite. "Ramazan!", rufe ich panisch und will ihm aufhelfen, als er sich zischend die verletzte Schläfe hält, werde aber gewalttätig von Cihan am linken Oberarm zurückgezogen.
Ich keuche erschrocken auf. Wieso macht er sowas? Er will mich ins Auto zerren. Ich verspüre Panik und versuche mich zu wehren auch meine Freundinnen ziehen mich zurück, doch vergeblich. Er ist einfach zu stark. Doch meine Angst wandelt sich langsam in Erleichterung, als ich seine goldenen Augen sehe. Can schlägt von hinten gegen Cihans Gesicht, reißt ihn brutal weg von mir gegen sein Auto. Ich will einfach nur nach Hause. Wieso passiert mir sowas? Ich drehe mich weg, als Can ihm wieder ins Gesicht schlagen will. Ich bin wie paralysiert und werde von Cathleen in die Arme gezogen. "Alles gut?", fragt sie, während mir Saliha und Viyan tröstend und beruhigend über die Arme streicheln und mich besorgt angucken. Ich kann irgendwie nicht antworten. Das Ereignis vor fünf Monaten kommt wieder hoch. Es ist ein so komisches Gefühl. Ich spüre etwas, aber gleichzeitig spüre ich nichts. Es ist ein ekelhaftes Szenario. Ich will nach Hause. "Oh mein Gott, Cano!", kreischt Aleyna. Gott, er heißt Can! Kann sie nicht einmal die Schnauze halten? "Ich hab dir oft genug gesagt, dass. Du. Dich. Fernhalten. Sollst!", brüllt Can. Ich sehe nichts, aber ich höre die unangenehme Geräuschkulisse von Schlägen, Widerstand, Keuchen, schmerzvollem Stöhnen und Panik mehrerer. Ich kann mich aber nicht bewegen, als ob ich komatös bin, aber trotzdem bin ich panisch, weil sich zwei Menschen schlagen. "Shana, rede", versucht Saliha mich irgendwie aufzurütteln, aber es geht nicht. Ich weiß selber nicht warum. Ich will gehen. Ich fühle mich nicht wohl. Ich möchte nicht sprechen.
Als ich mich doch fassen kann, mich zu Can zu drehen, wünsche ich mir, ich hätte es nicht getan. "Wie oft muss ich dich noch schlagen, bis du blutest?", fragt Can Cihan schon fast wahnsinnig und aggressiv zu gleich, packt ihn am Kragen seines blauen Pullovers und drückt ihn damit immer wieder gegen das Auto. Seine Augen sind weit aufgerissen, voller Wut. Malik versucht, zu helfen. Die anderen Mädels bleiben nur schaulustig in der Ecke. Ramazan hält sich immer noch seinen schmerzenden Kopf. Ich will nach Hause. Mir steigen Tränen auf. Auf meinem Nacken bildet sich Druck. "Can, es reicht. Hör bitte auf." Aber Maliks Bemühungen bringen nichts. Er will wieder zuschlagen, auf Cihans Nase. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man sich an der Nase verletzt. Es ist schrecklich. Ich will es nicht sehen. Mir wird ganz schlecht dabei. "Hör auf!", schreie ich, löse mich aus Cathleens Armen, um mit Malik Cans rechte Faust abzuhalten. Mein Atem ist zittrig, meine Gliedmaßen zittern und mein Herz pocht. Ich will einfach nur weg. Das ist mir zu viel. Can guckt mich intensiv an. Er sieht genau so aus wie beim ersten Mal, als Cihan mir etwas antun wollte. Seine atemberaubenden gelben Augen sind dunkel geworden, die Atmung ist unregelmäßig, er zittert vor Wut und seine Ader sticht stark hervor. Malik und auch Ramazan ziehen mich vorsichtig weg, doch ich weiche zurück und beachte nur den Boden. Ich will einfach nur weg. "Verschwinde, Cihan." Meine Stimme bleibt trotz der Schärfe in ihr ruhig. Dieser gehorcht mir, löst sich aus Cans Gewalt, wischt sich das Blut aus dem Gesicht weg, steigt in sein Auto und fährt los. Ruhe kehrt ein. Keiner wagt es auch nur ein Wort zu sagen. Nicht einmal Aleyna, sie springt Can diesmal nicht an. Besser so. Ich will gehen. Ich will laufen. Keiner soll reden. In dieser unbekannten Lage kann ich mich selbst nicht einschätzen. Ich weiß nur, dass ein befüllter Bus voller lauter Schüler mich nur noch weiter reizen würde. "Ich laufe." "Shana, das dauert zwanzig Minuten." "Ist mir egal." Ein wenig alleine zu spazieren, tut mir immer gut. "Viyan, lass sie", wendet Saliha betrübt ein. Sie weiß, dass ich alleine sein will. Ich laufe los, ohne auf meine Mitmenschen zu achten. Von mir aus kann mein Zuhause eine Stunde entfernt sein, das ist mir jetzt egal. Alles ist egal.
Wir haben den 27. Januar, kein Schnee, kein Regen. Nein, die Sonne schenkt mir sogar 6 Grad. Posttraumatisches Erlebnis? Kann man das so nennen oder ist das zu dramatisch? Das erste Mal kam es mir nämlich nicht so vor. Wieso mach Cihan sowas? Wieso habe ich mich auf ihn eingelassen? Er war früher nie so. Wieso war ich so naiv? Meine Mauer hat mir nichts genützt. Das letzte Mal, dass mich jemand verraten hat, ist über Jahre her. Aber trotz dieser langen Zeit vergesse ich es nicht. So wird es auch mit Cihan sein. Ich werde mir Vorwürfe machen, warum ich so dumm war und ihn geglaubt habe. Wieso ich mit ihm gelacht habe. Wieso habe ich es getan? Irgendetwas Gutes muss mir doch passieren. Ich weiß, dass mir etwas Gutes passieren wird. So ist das Leben. Etwas Gutes und etwas Schlechtes. Mit der Erschwernis kommt die Erleichterung. Ich darf mich deswegen nicht unterkriegen lassen. Ich tue einfach so, als ob es mich nicht mitgenommen hat. Sowas ist immer gut. Meine sogenannten Feinde dürfen mich nicht erniedrigt sehen. Nein, ich bleibe selbstbewusst. Ich strahle das Erlebnis durch meine aufgesetzte Arroganz aus. Ein Mädchen aus meiner alten Schule meinte mal zu mir, dass ich durch meine arrogante Art alle Freunde verlieren werde, woraufhin ich sie ausgelacht habe und es jetzt wieder tue. Meine Schutzmauer hat mich vor vielen Idioten bewahrt – leider nicht vor allen. Ich weiß, was ich tue. Meine kühle Art hilft mir, vieles gut zu verarbeiten. Cans Wut kommt mir wieder in den Sinn. Can und Cihan haben über mich geredet. Er hat ihm ausdrücklich gesagt, dass Cihan sich von mir fernhalten soll. Wieso aber? Ich bin ihm wirklich dankbar, auch wenn wir uns nicht mögen, aber wieso macht er das? Wenn man sich hasst, dann hilft man sich nicht. Ich weiß einfach nicht. Es gibt sicherlich so vieles, was mir weiterhelfen könnte, aber ich werde es nicht erfahren. Ich hole mein Handy plus Ohrhörer raus, versuche mich durch Musik abzulenken. Ich überspringe alle Lieder, die irgendwie gute Laune machen. Ich hasse es, wenn ich schlecht gelaunt bin und ein Partylied kommt. Ich will einfach nur nach Hause, essen und schlafen.
Wenn mich nicht jemand an der Schulter packen und umdrehen würde.
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