Kapitel 17
Samstag, 3. September
Samstag. Heute ist die Hochzeit und ich habe keine Lust. Ich habe es wirklich nicht hingekriegt, meine Mutter zu überreden. Ich werde also wirklich in meinem Kleid herumsitzen bis es mir an meinem Hintern klebt. Wären meine Cousinen nicht bei mir, wäre ich sogar ungeschminkt hingegangen, womit ich eigentlich kein Problem habe, aber meine Cousine übernimmt das Schminken und damit auch den Eyeliner für mich. Ich mag Eyeliner, aber das ist mir viel zu schwer. Ich habe mich wirklich mehrere Male bemüht, aber ich kriege es einfach nie hin! Meine Haare glätte ich einfach und streiche mir eine Partie hinter mein rechtes Ohr. Etwas Besseres fällt mir nicht ein. So kommen aber meine Ohrringe zur Geltung, vor allem mein Helix-Piercing. Ein bisschen Lippenstift in einem zarten Pinkton, Parfüm und schon bin ich fertig. Ich sehe gut aus, ohne viel Trara. Zum Glück habe ich die hohen Wangenknochen meiner Mutter abbekommen, so kann ich auf das Konturieren verzichten. Ihre Wangenknochen sind echt stark ausgeprägt, weswegen meine Freundinnen sie immer bewundern. Das Kleid gefällt mir sehr. Ich sehe verdammt gut aus und kann gar nicht aufhören, mich aus diversen Winkeln im Spiegel zu betrachten. Ich weiß nicht wieso, aber ich stelle mir vor, wie Can mich so sieht und – nur für mein Ego – die Augen nicht von mir nehmen kann. Der Gedanke gefällt mir.
Ich habe aber dennoch eine ganz kleine Hoffnung, dass meine Mutter zu mir kommt und mir spontan erlaubt daheim zu bleiben – vergeblich. Wir fahren trotzdem. Wann Can wohl da sein wird? Wird er einen Anzug tragen oder nur in Jeans und Hemd erscheinen? Es kann ja auch sein, dass er komplett leger aufkreuzt. Man weiß ja nicht. Ich kriege das Szenario nicht aus dem Kopf, wie er mich so sieht. Noch sehe ich ihn nicht im Saal, als ich mich unauffällig umschaue. Ich sehe und bemerke, dass mich andere anschauen, doch seine gelben Augen erblicke ich kein einziges Mal. Hm. Vielleicht kommt er ja noch. Wenn nicht, ist es ja auch kein Verlust. Dann ist es ja umso besser. Es ist 18:48 Uhr und die Braut müsste gleich kommen. Ich setze an den Tisch und esse die ganzen Snacks auf, weil ich keine Lust habe zu tanzen. Zu einigen kurdischen Liedern lasse ich den Kopf nicken, aber mehr auch nicht. Ich bin trotzdem genervt. Keiner ist hier, mit dem ich mich unterhalten kann. Meine ganze Familie ist am Tanzen. Diese Musik ist furchtbar laut, egal wie unterhaltsam die Texte des Sängers sind. Vielleicht kann mich ja Ramazan ein wenig ablenken, nur schnappt mir jemand von hinten mein Handy weg.
"Da bist du ja." Cihan setzt sich vor mich. Ich dachte kurz, es wäre Can. So eine Aktion wäre ja immerhin von ihm zu erwarten. "Du siehst angepisst aus. Was ist los?" "Ich hasse Hochzeiten. Was soll ich hier? Als ob ich tanze." Ich verdrehe genervt meine Augen. Von mir aus können wir jetzt schon wieder aufbrechen. "Ich bin ja da, um dich zu unterhalten", sagt er aufmunternd und reicht mir mein Handy. Er schaut sich im Saal um. "Komm lass uns raus." Ich nicke. Das ist mir lieber, als von diesem Lärm umgeben zu sein. Und meine Eltern sollten auch nichts dagegen haben, dass ich mit einem Typen bin, wenn sie ihn selbst seit der Geburt kennen und mich mit ihm rauslassen. Nur kann ich mir vorstellen, dass sich die Tratschtanten hier das Maul zerreißen werden. Hoffentlich kommt es durch das exzessive Rauchen bei ihnen schnell zum Zahnverlust. So können sie weniger labern. "Was meinte Can überhaupt, als er mit dir gestern geredet hat?" Ich habe vergessen, dass ich Ramazan noch schreiben muss. "Er meinte, dass er auch auf der Hochzeit sein wird."
"Ach, wirklich?" Er klingt herausfordernd. Das bedeutet nichts Gutes. "Falls er dir was antut, sag mir Bescheid okay?" Moment mal, wieso sollte Can mir bitte etwas tun? Klar, er ist nicht der Ruhigste, aber als ob er ein Frauenschläger ist. Ich sollte es aber nicht einfach so stehen lassen. Vielleicht hat es ja einen Grund, wieso Cihan es sagt. Kann ich aber alles glauben, was von Cihan kommt? Ich bleibe unentschlossen. "Würde ich, aber deine Nummer habe ich nicht." Nur für den Fall der Fälle. Jetzt habe ich auch seine Nummer und er meine. Ich bleibe trotzdem misstrauisch. Unsere Runde um den Saal beenden wir auch allmählig. Es ist recht kühl. Was erwarte ich auch in diesem Kleid? "Alles okay? Hier, nimm mein Jackett." Wie süß. Das ist das erste Mal, dass mir ein Junge seine Jacke anbietet. In diesem Fall ist es noch ein Jackett. Klischee. "Nein, nein. Geht schon", lehne ich ab und zittere aber langsam ziemlich stark. "Du ziehst dieses Jackett jetzt an", befiehlt mir Cihan. "Wir sind doch sowieso wieder vor dem Saal." Ich zeige demonstrativ auf den Eingang. Sein Jackett anzunehmen wäre etwas zu viel. Ich kenne die kurdischen Tratschtanten zu gut. Am Ende denkt Mama noch, dass ich auf Cihan stehe und plant unsere Hochzeit. "Shana, nimm jetzt mein Jackett."
Er zieht sein Jackett aus. Ich will echt nicht darauf achten, aber Cihan hat sich mit der Zeit echt gute Proportionen geschaffen. Ich glaube, ich sehe sogar die Konturen durch das weiße Hemd scheinen. Darf ich mal anfassen? Schnell richte ich meinen Blick auf das Jackett, das er vor mich hält. Nicht, dass er mich beim kurzen Starren erwischt hat. "Nein, lass uns doch einfach rein", schlage ich vor. "Nein, hier ist es besser und nicht so laut." Stimmt, drinnen ist es echt voll und stickig. "Trotzdem nehme ich sie nicht an", sage ich zitternd. Er seufzt. "Gut, du willst es nicht anders." Er nimmt meine beiden Handgelenke in eine Hand und zieht sie runter, damit meine Arme bewegungsunfähig sind. Ich bin jetzt auf Augenhöhe mit seiner schönen Brust, spüre wie sich der glatte Satin der Innenseite seines Jacketts um meine nackten Oberarme legt. Seine Hände halten mich an beiden Oberarmen fest. Sein Blick ist plötzlich so eindringlich. Er macht mich stutzig und zugleich verlegen. Er hat ziemlich schöne grüne Augen. Das muss ich ihm lassen. "Geht's wieder?", fragt er ruhig, zieht seine Augenbrauen auffordernd hoch. Ich nicke nur. Das ist mir gerade zu intim. Kriegt er mit dieser Masche die Mädchen um den Finger gewickelt? Schon schade, dass er einem das Gefühl vorspielt, aufmerksam zu sein.
"Wieso benutzt du Mädchen nur?" Ich erwidere seinen Blick nicht mehr, senke den Blick seitlich zu Boden. Ich will ihn gerade nicht anschauen. "Was meinst du?" "Du bist auch so ein Player, der sich jeden Tag eine Neue sucht. Das macht dich hässlich vom Charakter her", erkläre ich ruhig, schaue nach dem kurzen Abbruch wieder in seine Augen. "Soll ich ehrlich sein?" Ich nicke, warte auf die Antwort. "Es macht Spaß, wenn man von Mädchen umgeben ist, die einem quasi zu Füßen liegen. Hört sich zwar sehr machohaft an, aber es ist so. Wenn man sie leicht um den Finger wickeln kann, wieso sollte man es nicht auch ausnutzen? Schließlich lassen sie sich auf mich ein und das genieße ich. Aber bedenke, dass ich dir nie sowas antun würde, Shana." Sehr ehrlich. Trotzdem glaube ich ihm beim letzten Satz kein Stück. "Okay." Er nimmt sanft mein Kinn und hebt es ein Ticken weiter an. Meine Hand legt sich reflexartig um sein Handgelenk. Was wird das? Hoffentlich werde ich nicht rot. "Vertrau mir bitte, okay? Niemals würde ich sowas tun." Dieser eindringliche Blick, die Ruhe in seiner Stimme, seine Finger auf meiner Haut. Das ist mir zu viel. "Ich versuche es", gebe ich ehrlich von mir und schon kehrt Stille ein. Soll ich ihm wirklich vertrauen? Seine grünen Augen sind mir doch so vertraut, aber ... nein. Ich weiß nicht.
Cihan kommt mir plötzlich näher und näher. Großer Gott! Nein, nein, nein! Was wird das? Sofort entferne ich mich von ihm. Scheiße, was sollte das?! "Ähm ... lass uns wieder rein." Meine Stimme ist stumpf und schroff, aber dennoch habe ich die Bange, dass ich rot bin. Ich warte gar nicht auf Cihan. Gott, ist das peinlich! Was war das eben? Sowas ist mir noch nie passiert – außer das mit Can. Kaum bin ich in der Oberstufe, passieren mir solche Sachen. Hoffentlich passieren auch gute Sachen. Er hat tatsächlich versucht, mich zu küssen. Ich lache fassungslos auf. Und ich soll ihm vertrauen, während er versucht mich zu küssen? Am besten nehme ich Cihans Jackett ab. Das ist mir zu viel. Die laute kurdische Musik dröhnt mir wieder in die Ohren und mein Körper wird endlich von Wärme empfangen. Ich sitze wieder auf meinem Platz und schreibe in der Gruppe, dass sie mich unterhalten sollen. Das mit Cihan habe ich noch nicht erzählt. Fürs Erste bleibt es auch so. Es ist mir ehrlichgesagt zu unangenehm, um darüber zu reden. Keine Ahnung, wieso das so ist. Vielleicht, weil ich so etwas nicht gewöhnt bin. Vielleicht, weil ich es gar nicht so hätte passieren lassen sollen. Ich hätte ihn direkt abweisen und anschreien sollen. Wieso habe ich das nicht getan?
Wo ist Can? Meinte er nicht, dass er auch kommt? Unser Verhältnis ist echt komisch und ebenso ungewohnt. Ich habe mich noch nie mit einem Jungen in dieser Art gestritten. Generell hatte ich selten was mit Jungs zu tun. Wenn, dann nur ganz pragmatisch wegen der Schule, aber das ist mit Can ist da schon etwas spezieller, emotionaler, wenn man es so sehen will. "Shana, komm!" Meine Cousine zieht mich an meiner Hand zur Tanzfläche. Oh nein! Ich ziehe meinen Arm zurück, doch sie packt ihn sich wieder und nimmt mich mit. Ich will viel lieber sitzen und das Geschehene Revue passieren lassen. Sie weiß doch – wie jeder andere auch –, dass ich Hochzeiten hasse. Wieso versteht das keiner? Es ist schon zu spät. Ich bin im Kreis, ergebe mich einfach und tanze mit den anderen den simpelsten Gowend mit. "Sei doch mal ein bisschen fröhlicher", schreit mir meine motivierte Cousine ins Ohr. Die Musik ist so laut und der Bass so intensiv, dass ich die Schwingungen des Liedes viel stärker im Bauch spüre als ihre Stimme in meinem Ohr. Wie soll man fröhlich sein, wenn man Hochzeiten verabscheut? Nach fünf Minuten reicht es mir aber auch wieder. Was hat es jetzt meiner Mutter gebracht, mich hierherzuschleppen? Ich nehme mein Handy und schreibe Ramazan an.
'Ich sollte dich anschreiben.' Sofort schreibt er zurück.
'Ja. Wieso warst du mit Cihan?'
'Wegen einer Hochzeit. Kleid kaufen, wieso?' Warum ist das jetzt so relevant?
'Oho! Can war so sauer. Shana du bringst ihn bald um!' Aber warum? Ich verstehe es nicht!
'Ich verstehe sein Problem einfach nicht. Okay, er hasst ihn, aber Can und ich kennen uns nicht. Wieso will er nicht, dass ich etwas mit Cihan zu tun habe?' Ich werde sehr oft mit Can diskutieren, das ist mir sowas von klar.
'Ganz ehrlich? Ich weiß selber nicht, wieso er so austickt. Aber bitte pass auf dich auf, wenn es um Cihan geht, okay?' Mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich vorsichtig sein soll. Cihan meinte, ich sollte wegen Can aufpassen und jetzt wird mir gesagt, dass ich wegen Cihan aufpassen soll.
'Mache ich, keine Sorge.' Ich sollte wirklich aufpassen.
Aber was habe ich mit den beiden zu tun, dass ich nicht mit Cihan sein darf? Cihan verbietet mir ja auch nicht, dass ich nicht mit Can streiten darf. Ich bin aber nicht mit Can befreundet, deswegen vielleicht. Das stimmt. Hm. Das könnte ebenfalls ein Grund sein. Apropos Cihan, wo ist er überhaupt? Sein Jackett ist noch bei mir. Ich erhebe mich, um ihn zu suchen, doch plötzlich ist er so unauffindbar wie Can. Ich suche den ganzen Saal ab, frage seine kleine Schwester und seinen großen Bruder, doch keiner scheint zu wissen, wo der Typ steckt. Vielleicht ist er ja draußen und ja! Da sehe ich ihn auch, aber nicht allein, sondern mit einem Mädchen, die von ihm an die Wand gedrückt worden ist. Dabei küssen sie sich auch wild. Schämen die sich nicht? Wenn dein Vater oder dein Bruder das sieht, Mädchen! Zuneigung in der Öffentlichkeit ist bei Kurden Tabu. Aber Hut ab an ihren Mut und ihre Dummheit – von Cihans Dummheit will ich gar nicht erst anfangen. Erst spielt er mir den großen Retter und Ehrenmann und kaum bin ich weg, leckt er die Nächstbeste ab. Ich steuere schnaubend auf sie zu, reiße Cihan von dem Mädchen weg und drückte ihm abwertend sein Jackett in die Hände. Ich will gar nicht lange bei diesem Ekelpaket bleiben, also mache ich schnell auf Absatz kehrt. Vertrau mir, pah! Hat man ja gesehen. Zwar habe ich ihm zum Glück nicht vertraut, aber dass er erst versucht hat, mich zu küssen und dann direkt eine andere sucht, regt mich auf. Ich fühle mich verarscht – so würde sich jeder in meiner Situation fühlen. Es liegt nicht daran, dass ich eifersüchtig bin, Gott! Keines Wegs, aber die Tatsache, dass ein Junge einem so nah war und so ruhig, schon sanft mit einem redet und was von Vertrauen erzählt und dass er sowas bei einem nie tun würde, lässt einen aggressiv werden, wenn man realisiert, dass einem dreist ins Gesicht gelogen wurdr. Egal, ich rege mich nicht wegen ihm auf.
Denn ich habe jetzt mit einem anderen Problem zu kämpfen, als ich im Saal abgefangen werde.
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