Kapitel 6...Mistelzweig und Tisch

Joel betrat zwei Tage später, nachdem die schlimmen Nachrichten ihre Runden in den Medien gemacht hatte, das Restaurant. Sie wollte niemanden sehen, mit niemanden sprechen. Sie hatte sich zurückgezogen, um sich damit auseinanderzusetzen.
Ihre Kollegen und Kolleginnen kamen auf sie zu und begrüßten sie mit einer Umarmung.

"Wie geht es dir?"

"Willkommen zurück!"

"Schön, dass du wieder da bist!"

Joel blieb an der Theke stehen. "Gib mir Arbeit, Jusman!", rief sie ins Büro rüber.

Joel drehte sich zu dem Tisch um, der links vom Kamin stand. Ihre Gedanken waren bei Taylor.

Sie wollte ihn vergessen, doch sie konnte es nicht zu lassen, denn in ihr wuchs etwas heran, das auch ihm gehörte.

Sie richtete ihren Blick an die Decke über dem Tisch und schmunzelte vor sich hin.

Jusman hatte wieder den Mistelzweig über dem Tisch aufgehängt. Sie war neben Joel aufgetaucht und verfolgte ihre Blicke.

"Es tut mir nicht leid!...Ganz ehrlich?... Ich mußte ihn wieder dort aufhängen. Er gehört einfach über diesen Tisch. Er hat dir eine Zeit lang Glück gebracht. Vielleicht gibt es noch andere Menschen in dieser Stadt, die etwas Glück gebrauchen können. An Heiligabend passieren manchmal schon aussergewöhnliche Dinge...Der Tisch und der Zweig sind Eins...Ich glaube, die Beiden sind echt dicke Freunde...So wie du und ich, Armstrong."

Joel nahm Jusmans rechte Hand in ihre und sagte: "Du hast recht!...Lass uns arbeiten!...Es wird heute ein langer Tag. Wir können hier nicht die ganze Zeit nur herum stehen und den Tisch und seinen Zweig - Freund beobachten.
Der Tisch wird sich doch nicht bei uns beschweren, dass der Zweig ihm gehörig auf die Nerven geht...Ich denke, der Tisch freud sich etwas über Gesellschaft. Aber daß der so hoch hängt, wird ihm nicht gefallen."

"....Oder die Beiden rücken sich gegenseitig gehörig auf die Pelle, weil sie ohne den anderen nicht mehr auskommen...Was wir natürlich hoffen wollen...Meine liebste Freundin Joel! Ich werde dir die Kaffeemaschine und den Telefon - Bestellservice in die Hand geben. Sagen wir für die nächsten...", und Jusman zählte die Wochen an ihren Händen ab.

"Was...Was tust du da?", fragte Joel sie. "Ich bin zu faul, den Kalender aufzuschlagen...Ich gebe dir bis Ende Januar die Kaffeemaschine und den Telefon - Bestellservice. Lass es langsam angehen."

"Wieso?...Es geht mir gut, Jusman!"

"Du bist in Trauer, Süße! Also verausgabe dich nicht so viel!...Es wird dauern, bis er aus deinem Kopf verschwunden ist."

"Aber er soll nicht aus meinem Kopf verschwinden, verstehst du? Ich brauche ihn hier! Willst du das denn nicht verstehen, Jusman?"

Jusman schüttelte ihren Kopf. "Lass ihn gehen! Es wird dir besser gehen, Joel! Ich will nicht zusehen, wie es dich jeden Tag weiter nach unten zieht...Glaub mir!", und sie ließ Joel an der Theke stehen.

Joel hatte ihr noch nichts gesagt. Dafür war es noch etwas zu früh. Wenn sie von der Schwangerschaft wusste, würde sie Joel verstehen. Sie wollte noch etwas damit warten. Noch sah man ja nichts davon. Doch irgendwann wird es nicht mehr möglich sein, es zu verbergen. Bis dahin war zwar noch etwas Zeit, doch sollte sie es ihrer Freundin und Chefin bis dahin mitgeteilt haben. Die kleine Kugel wächst irgendwann hinaus und wird sich ordentlich bemerkbar machen.

Nach ihrer Schicht fuhr Joel ins "Di' Angelo". Alvarez hatte sie zum Essen eingeladen. Seine Grandma war über die Feiertage aus Italien angereist. Er hatte ihr und Taylor schon viel von seiner Grandma vorgeschwärmt, aber bisher hatte sie die Zeit nicht gehabt, ihren Enkel Alvarez in den Staaten zu besuchen. Sie sagte damals am Telefon zu ihm, sie müsse die Sache überdenken. Denn wenn sie zu ihm kommen würde, würde sie bei ihm bleiben und ihn in seinem Restaurant unterstützen.

Sie war bereit, ihr altes Leben in Italien aufzugeben. Sie hatte dort niemanden mehr, sagte sie damals zu Alvarez. Nichts würde sie mehr dort halten. Italien, die Toskana, die Geschichte, die in diesem Land steckte, würde sie nicht mehr daran hindern.
Alvarez versuchte seiner Grandma vergeblich zu erklären, dass man einen alten Baum nicht verpflanzen solle. Doch sie hielt an ihrem Vorhaben fest. Auch ein Alvarez Di'Angelo konnte nichts daran rütteln.

"Es wird keinen ruhigen Moment mehr hier geben, wenn sie hier ist!", jammerte Alvarez.

Joel parkte ihr Auto auf dem Parkplatz und schloß es ab. Sie hängte sich ihre Handtasche um und sah auf das Logo über der Eingangstür.

Den Buchstaben "g" hatte er immer noch nicht reparieren lassen. Er blieb also weiterhin dunkel, ohne Licht.

Sie schaute auf den Farbwechsel der restlichen Buchstaben und ging auf den Eingang zu und die vier Stufen hinauf, ehe sie die Klinke in die linke Hand nahm und sie herunter drückte. Die Tür öffnete sich nach innen.

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