Karla

Ich weiß nicht, warum ich dermaßen dumm gehandelt hatte. Klar, Arianna konnte flüchten, aber wenn ich je eine Chance gehabt hatte, hatte ich sie damit vertan und mein Todesurteil unterschrieben. So eine selbstlose Tat hätte ich mir selber gar nicht zugetraut. Aber jetzt kann ich es nicht ändern. Jetzt sitze ich hier, vor mir die beiden Zettel, auf meiner Schulter Ariannas Kopf, was zugegeben ein bisschen sehr stark unangenehm ist, und, was noch unangenehmer ist, ihre Tränen laufen kitzelnd über meinen Rücken. Aber gut. Ich habe es geschafft, meine Panik zu überwinden und den Wärter anzusprechen, und das, was danach kam, habe ich auch überlebt. Dann schaffe ich es ja wohl auch, für ein ziemlich trauriges Mädchen stark zu sein. Zumal es auch das Mädchen ist, für das ich mein Leben gegeben habe. Oder es noch geben werde.
Nur mühsam schaffe ich es, mich von diesem Scheiß abzulenken und mich auf den Text zu konzentrieren.
Laudato si, mi signore, per sora nostra matre terra,
la quale ne sustenta et governa,
et produce diversi fructi con coloriti flori et herba.
"Hey, Arianna."
"Hm?"
"Das hier kannst du bestimmt auch schon übersetzen."
Stumm hebt sie den Kopf, ein paar ihrer Haarstränen fallen in mein Gesicht.
"Versuchs mal."
"Haben wir noch genug Zeit für sowas?"
"Sie werden mich erst morgen töten, das heißt, ich kann dir auch heute abend oder morgen früh noch erzählen, wie du flüchten kannst."
"Oh Gott.", flüstert sie kaum hörbar.
"Den Satz schaffst du. Der ist leicht."
"Sagst du. Also, ich denke der Anfang ist wie bei allen anderen auch. Laudato si, gelobet seist du, mi signore, mein Herr. Danach habe ich keinen blassen Schimmer mehr."
"Per? Durch?"
"Oh, ok, ja, da sind parallelen. Aber was bedeutet sora? Und nostra? Matre? Das könnte die Mutter sein. Und Terra... die Erde."
"Genau. Nostra. Weißt du zufällig, was nos bedeutet?"
"Nein. Ich hatte vor kurzer Zeit nicht mal eine Ahnung, was Latein ist. Was erwartest du bitte von mir?"
"Ok, ok. Nos bedeutet uns. Nostra so viel wie unsere."
"Und sora?"
"Ich denke, Schwester passt."
"Also, Gelobet seist du, mein Herr, durch Schwester unsere Mutter Erde?"
"Ähm, naja, nicht ganz. Wenn du unsere und das mit der Schwester vertauschst, passt es."
"Ah, ok."
la quale ne sustenta et governa,
"Bedeutet quale so viel wie Qual?"
"Ähm, nein."
"Oh."
"Der Teil ist wirklich, ich denke, ich kann... schwierig sagen. Also, wir haben zwei Prädikate, sustenta und governa, also in etwa erhalten und lenken. Insgesamt... sagen wir einfach: die uns erhält und lenkt."
"Das akzeptiere ich jetzt mal."
Ich spüre die Röte in mein Gesicht kriechen. Wollte sie den Teil selber machen?
"Dann mache ich mal weiter mit diesem komischen Gedöns. Also."
et produce diversi fructi con coloriti flori et herba.
"Äh."
Sie hüstelt oder räuspert sich, ich muss mir ein Lachen, wenn nicht sogar ein leicht hysterisches Lachen, verkneifen.
"Produce, produzieren?"
"In etwa. Vielleicht klingt hervorbringen schöner. Oder..."
"Ja, ja. Diversi, verschieden. Das ist ja klar. Fructi, Früchte, con..."
"Sag einfach und, passt schon."
"Du hast den Satz schon übersetzt, oder?"
Sollte ich lügen? Lieber nicht.
"Vielleicht..."
Eine schöne, ungenaue Antwort. Vielleicht meine Lieblingsantwort.
"Aha. Coloriti, farbenfroh? Gefärbt? Farbig?"
Ich nicke.
"Flori, Pflanzen?"
"Eher Blumen."
"Et, und, oder?"
"Ja, und."
"Herba."
Sie schweigt, als würde sie nachdenken, sieht mich dabei aber fordernd an. Will sie etwas haben? Ich spüre, wie ich wieder nervös werde und meine dünnen Finger betrachte.
"Karla?"
"Ja?"
"Was bedeutet herba?"
Achso.
"Kräuter."
"Also heißt der Satz... und verschiedene Früchte produziert und farbige Blumen und Kräuter?"
"Wie gesagt, eher hervorbringt oder so und vielleicht auch eher bunt als farbig."
"Upsi."
"Weißt du, was ich an dem Satz ganz interessant finde?"
"Nein?"
"Schau dir diese Stelle mal an."
Ich zeige mit dem Zeigefinger ungefähr auf die Mitte des lateinischen Textes.
"Diversi fructi con coloriti flori- erstmal, die ganzen i's an den Enden. Ich finde, das verleiht dem ganzen etwas fröhliches, ich meine, i ist ein Vokal, einer, der nicht zu tief und nicht zu hoch klingt. Ok, das wirkt komisch, oder?"
"Eventuell ein bisschen."
Etwas glitzert auf ihrer Wange. Sie weint schon wieder. Ein unangenehmer Schauer durchfährt mich. Musste ich denn alles falsch machen? Irgendwas hatte ich bestimmt wieder falsch gemacht!
Ich brauche etwas lustiges.
"Weißt du, was auch noch ganz schön ist?"
Sie schweigt, die Tropfen von ihrem Kinn hinterlassen dunkle Flecken auf den Papieren. Ok, durchatmen. Ich gebe mir einen Ruck und lege meine Arme um sie. Als sie zurückzuckt, wird mir klar, wie dumm das doch gewesen ist. Heute mache ich auch nur Fehler. Wer wollte schon angefasst werden? Normale Menschen wollten doch einfach allein gelassen werden. Gerade, als ich wegrutschen will, zieht sie mich wieder zurück zu sich.
"Karla... Du sollst nicht sterben. Bleib bei mir. Oder... ich sterbe mit."
Eine Nadel scheint mich zu piken, aggressiv durch die Brust bis zu meinem Herzen.
"Ich habe das getan, damit wenigstens du überlebst. Lass das nicht umsonst gewesen sein."
Ich bin fast schon stolz auf mich, wie emotional das in meinen Ohren klingt, und wie heldenhaft.
Trotzdem schluchzt Arianna nur weiter. Ich schließe die Augen und inhaliere ihren Duft. Sie ist ein lebender Mensch, der erste, den ich seit Maria wirklich richtig gesehen habe. Und meinen Eltern. Und jetzt verliere ich sie. Ohne Helen und mich wäre es nie so weit gekommen. Ich ziehe sie fester zu mir.
"Ich habe eine Bitte an dich."
Sie schaut mit ihren großen Augen zu mir hoch.
"Also, du musst es nicht machen, aber... bitte sorg dafür, dass diese Menschheit besser wird. Ich selber kann nicht verstehen, wie du an einen Gott glauben kannst, aber du findest bestimmt welche, die du von dem Sinn überzeugen kannst, ihr könnt alles verbessern. Ich werde diesen Text hinterlassen. Bitte nutze ihn."
Ok, das ist zu viel. Jetzt beginne auch ich, stumm zu weinen. Wenn ich erst tot bin, wird sie mich vergessen. Es wird nichts bringen. Und wenn ihre Flucht nicht gelingt...
"Ja. Ich verspreche es dir.", flüstert sie, "aber wenn du jetzt weiter übersetzt, kannst du mich trotzdem noch festhalten?"
Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Daher schweige ich einfach und behalte sie im Arm, während ich mit meiner einen Hand die Übersetzung weiterschreibe. Irgendwann rutscht Ariannas Kopf auf meinen Schoß.

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