Karla
Ich kann sie sehen, vergesse zu atmen.
Ein realer Mensch.
Nicht Maria, oder meine Eltern.
Ein realer Mensch, den ich eigentlich nur digital kenne.
Bei dem Gedanken an die Flucht steigt Panik in mir auf und ich kralle mich fest an meinen Rucksack.
Hinter mir kann ich das ruhige Atmen meiner Oma hören.
Ich schließe die Augen und drehe mich zu der Zimmertür.
Runtergehen. Einfach runtergehen.
Meine Beine reagieren nicht.
Plötzlich legt mir meine Oma ihre Hand auf die Schulter.
"Ich kann sie holen, wenn du willst."
"Danke."
Ein warmes Lächeln zieht sich über ihr Gesicht.
"Ich hab dich lieb. Du musst das nicht für mich tun."
"Doch."
Belustigt seufzend verlässt sie den Raum.
Schon kurz darauf hallen Schritte durch das Treppenhaus.
Sie sieht anders aus.
Das Mädchen steht vor mir, auf der Türschwelle.
Nutzer104.
Arianna.
Digital wirkte sie normal, fröhlich, sofern ich das richtig erkannt habe.
Sie ist mager, knochig.
Identitätslos.
Nutzer104 passt besser zu ihr als Arianna.
"Karla."
Ich spüre, wie mir Blut in den Kopf steigt.
Im Gegensatz zu ihr wirke ich lebendig.
"Es tut mir leid, wenn du glaubst, dass du keine Chance mehr hast...", flüstere ich.
Das dünne Lächeln auf ihren Lippen verschwindet.
"Warum sollte ich?"
"Naja... Man sieht den Unterschied zwischen uns, ich möchte nicht, dass das Probleme macht..."
"Du machst gerade Probleme."
Mein Blick wandert zu meiner Oma, die mich skeptisch anstarrt.
"Hör auf damit."
Schweigend kommt mir Arianna näher, ihr intensiver Geruch nach Staub dringt in meine Nase.
"Ich bin arm, ich weiß. Aber ich kann es gut ignorieren. Tust du das auch?"
Sie lächelt wieder und legt den Kopf schief, ihre blonden Haare fallen über ihre Schulter. Sie hat wunderschöne, braune Augen, die mich an leuchtenden Bernstein erinnern. Nur dass sie real sind. Dünne, helle Wimpern lassen die Farbe hervorstechen.
"Und? Tust du?"
Ich zucke zusammen.
"Ich tue was?"
"Mit mir meinen finanziellen Stand ignorieren?"
Errötend nicke ich.
"Dann können wir ja flüchten."
Lachend lässt sie sich auf dem Boden nieder.
"Aber du musst alle technischen Geräte hier lassen."
Was?
"Also, alles, was uns orten kann, zumindest. Alles mit WLAN. Oder Bluetooth. Und ansonsten... wir müssen möglichst bald los. Such dir deine Sachen raus."
An meine Oma gewandt fügt sie hinzu:"Und Sie auch."
Meine Kuscheltiere müssen mit. Die Bürste auf jeden Fall. Mein altes Tablet, bei dem der Internetzugang kaputt ist, zum Schreiben und Lesen. Eine Decke. Süẞes. Was zum Trinken. Möglicherweise ein Taschenmesser, zur Verteidigung. Ein Kartenspiel. Eine Kühlmaschine, es soll draußen ja heiß sein. Obwohl, die sind zu groß...
"Karla, Liebling? Hilfst du mir beim Packen?"
Vorsichtig nimmt meine Oma meine Hand in ihre. Die raue Haut fühlt sich unangenehm trocken an.
"Wir dürfen nicht viel mitnehmen. Maria darf auch nicht mit."
Ein stechender Schmerz fährt durch meine Brust. Schon immer hatte ich an Maria gehangen, wie an einer Mutter.
"Weißt du, ich glaube, Arianna hat einen guten Ort gesucht, an dem wir alles Notwendige kriegen. Außer Nahrung muss Nichts mit. Arianna hat auch kein Gepäck. Ach, Arianna, Liebes, warum tust du das eigentlich für uns? Gerade für eine wie dich... sollte das doch schwierig sein?"
"Karla wird mir helfen. Als Gegenleistung."
Omas Augen zucken in meine Richtung.
"Worauf hast du dich eingelassen?"
Schulterzuckend gehe ich zur Tür, sodass keine der beiden mich von vorne sehen kann. Tränen laufen über mein Gesicht, schon jetzt vermisse ich Maria.
"Ich werde einen lateinischen Text übersetzten."
"Latein? Die Sprache kennt sie noch?"
"Sie wusste nicht, welche Sprache. Ich habe es ihr gesagt. Also, dass es Latein ist."
"Bitte, Kind, geh vorsichtig mit deinem Wissen um. Latein ist sehr alt, keiner kann es mehr lesen. Außer wir. Durch solche Texte erfährst du Dinge aus der Vergangenheit. Dinge, die tödlich sind."
Ich antworte nicht, versuche, zu verstehen. Theoretisch verstehe ich es. Die Vergangenheit ist gefährlich für die Regierung. Aber praktisch sehe ich nicht ein, warum. Was kann so gefährlich für diese Leute sein, dass sie dafür töten?
"Also, können wir jetzt Essen mitnehmen, und Trinken? Wir sollten langsam los. Mal nebenbei, es wird anstrengend. Wir werden den ganzen Weg zu Fuß gehen."
Mit gweiteten, wässrigen Augen drehe ich mich zu Arianna um. Sie zieht eine Augenbraue hoch und steht langsam auf.
"Wie, zu Fuß?"
"Das ist eine Fortbewegungsart, in der man einen Fuß vor den anderen setzt, um-"
"Ich weiß! Aber wieso?"
"In den Bahnen könnten uns welche erkennen."
"Inwiefern?"
"Ich habe doch gesagt, dass die Regierung weiß, dass ich flüchten will. Ich fresse einen Staubsauger, wenn die nicht schon unsere Bilder überall aufgehangen haben."
"Einen Staubsauger?"
"Was sonst? Einen Wischmopp?"
"Früher war es ein Besen.", mischt sich meine Oma ein, "Ich dachte, wir müssen los."
"Ja. Also, wo habt ihr Essen?"
Lächelnd deutet Oma in Richtung Flur.
"Gleich Links, die Tür."
"Ähm... jup."
Arianna grinst zurück und hüpft aus dem Raum.
Irgendwie süẞ, dass sie so fröhlich sein kann, obwohl wir hier gerade unser Leben aufs Spiel setzen.
"Also, Karla."
Ernst hält meine Oma mich an der Schulter fest.
"Diese Flucht, diese Bedingung... Das ist mir nicht so ganz geheuer. Auch Arianna nicht. Ich werde sterben, an Alter oder durch die Regierung. So aber werdet ihr auch sterben. Ich würde euch gerne dumm nennen, aber das wäre gemein. Ihr seid naiv. Tut mir leid, aber der Regierung kann man sich nicht widersetzen."
Sie atmet tief durch und lässt mich dann los.
"Ich hab dich lieb, Karla. Du darfst das hier versuchen, man lernt aus Fehlern. Vielleicht klappt es ja. Aber trotzdem weiß ich nicht, was ich davon halten soll."
Vergeblich versuche ich, den Sinn hinter diesen Worten zu erfassen.
"Okay..."
"Hey. Ich hab das Essen. Und Getränke."
Erschrocken wirbele ich herum.
Arianna lehnt an der Tür, mit zusammengekniffenen Augen.
Verlegen starre ich zu Boden. Hat sie jetzt alles mitgehört?
Auf einmal hellt sich ihre Miene auf.
"Das ist mehr Essen, als ich je an einem Ort gesehen habe!"
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