Karla
Ich sitze mit geschlossen Augen da und lausche dem Atmen von Maria. Sie fährt mit der Bürste durch meine strohigen Haare und bindet sie zu einem Zopf. Sie weiß, wie sehr ich Konversationen verabscheue. Sie weiß auch, warum. Sie ist die einzige, die von meiner Entwicklungsstörung weiß. Wüssten es mehr, würde die Regierung es herausfinden und mich töten. Ich bin ersetzbar. Sozial unbrauchbar, Überflieger in Latein. Bestimmte Computer können das selbe. Und sind auch sozial unfähig.
Ich spüre Marias warme Finger an meiner Wange und zucke kurz zusammen.
Als sie fertig mit dem Makeup ist, öffne ich die Augen. Jeder normale Mensch würde in den Spiegel schauen. Ich weiß aber, wie es aussieht. Maria schminkt mich, auf meinen Wunsch hin, immer gleich. Veränderungen kann ich nicht ab. Dezenter Eyeliner, ein goldener Hauch auf den Lippen.
Das muss aber auch sein, um mich als eine der Reicheren auszuweisen.
Maria nickt und bedeutet mir, aufzustehen.
Sie kann nicht sprechen.
Früher hat sie zu den Armen gehört, die protestiert haben. Ihr wurde die Zunge abgeschnitten und sie wurde hierher gebracht. Sie wird von uns versorgt.
Aber ich glaube, sie leidet.
Einschätzen kann ich das schlecht.
Wie gesagt, ich bin sozial eine Niete.
Ebenfalls schweigend gehe ich zu dem Tisch, an dem mein Laptop steht.
Heute ist Sonntag. Heute ist keine Schule.
Aber die Selbshilfegruppe. Ich öffne das Programm für die Videochats und verbinde es mit meiner Virtual Reality Brille.
Mein Blick wandert zu dem Fenster, durch das ich auf die graue Betonlandschaft sehen kann, die sich über die Erde erstreckt.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie ein Mädchen der Gruppe beitritt.
Nutzer104.
Das muss diese Arianna sein.
Kurz drauf erscheint auch noch AntikesPanda, das ist Lena.
Auch Theomeo, Theo, ich glaube, der Bruder von Arianna, erscheint.
Hey, wollen wir schon beginnen?
Ja, antworte ich auf seine Nachricht.
Ich brauche wieder jemanden, dem ich zuhören kann, um nicht völlig in Schweigen und Depressionen zu versinken.
Meine Oma wird bald neunzig. Genauer gesagt, in drei Tagen.
Ich schnalle mir die VR Brille um und kann gleich ein digitales Abbild von Theo sehen.
"Hi.", sagt er.
Ich setze ein Lächeln auf. Wir befinden uns auf einer Wiese, die wir extra für diese Gruppe progtammiert haben. Hier ist es immer hellichter Tag und ein See plätschert in der Nähe. Würden wir die Wiese aber verlassen, wäre da nur ein graues Nichts.
Arianna erscheint, mit ihren blonden Haaren und ihren schmalen, braunen Augen.
"Heeeeey!", schreit sie grinsend und stößt ihren Ellbogen in Theos Seite.
Genervt seufzt er.
"Dir ist aber schon klar, dass ich die elektrischen Impulse ausgeschaltet habe, oder?"
"Jap. So kann ich dich schlagen, ohne dass du es mitbekommst."
"Augen habe ich noch immer."
Schmollend stolziert Arianna weg, bis sie nach hinten umfällt.
"Bin nur gegen den Schrank gelaufen, glaube ich, es ist alles ok!"
Lachend hilft Theo ihr wieder auf die Beine.
In dem Moment erscheint Lena.
Ich drehe mich zu ihr um.
Sie lächelt stumm in sich hinein, wie immer, und setzt sich im Schneidersitz auf den Boden.
"Dann können wir ja beginnen!"
Theo grinst, setzt sich neben Lena und legt ihr seinen Arm um die Schulter.
Arianna lässt sich ins Gras fallen.
"Also... hat jemand etwas, dass er erzählen möchte?"
"Hm."
Lena nickt.
"Ich weiß nicht, was ich tun soll. Meine Mutter hat etwas... über die Vergangenheit erzählt. Sie werden sie umbringen."
Sie haucht die Wörter gerade so.
"Oha."
Theo schweigt betreten.
"Weißt du, da gäbe es zwei Möglichkeiten. Du könntest ihr die letzten Tage, so grausam es jetzt auch klingt, so schön wie möglich machen. Du könntest aber auch flüchten. Nur dann seid ihr beide in Gefahr."
Tränen bilden sich in Lenas Augen, sie wischt sie aber weg.
"Ja... ich möchte ihr das Leben schön machen. Aber wie? Ich muss arbeiten, sonst verhungern wir. Ich will Zeit mit ihr verbringen. Aber das geht nicht."
"Ich könnte euch unterstützen, finanziell. Dann hast du genug Zeit, um bei deiner Mutter zu sein."
Lenas Augen beginnen hoffnungsvoll zu leuchten.
"Würdest du das tun?"
Er nickt und drückt ihr einen Kuss auf die Lippen.
Ich wende den Blick ab und schaue zu Boden.
"Hey, ihr Turteltauben. Das ist eine Selbsthilfegruppe, kein Schlafzimmer. Ich wollte auch noch etwas fragen. Ich habe einen Text im Internet gefunden. Weiß jemand, was das ist?"
Eine Datei erscheint auf der Wiese. Ich tippe sie an und ein Text erscheint vor meinen Augen.
Beim Lesen laufen Tränen über meine Wangen. Meine Oma, sie wird sterben. Mein Leben lang hat sie mir Latein beigebracht. Die Sprache ist alt und unbekannt. Kaum einer kennt sie.
"Was ist los?"
Ariannas besorgter Blick liegt auf mir.
Ich schüttele den Kopf.
"Ni... Nichts."
"Kannst du den Text lesen?"
"Das... das ist Latein."
Ariannas Augen weiten sich.
"Latein? Was ist das?"
"Eine sehr alte Sprache. Eigentlich kennt keiner sie mehr."
Vorsichtig rutscht Arianna näher an mich heran und nimmt mich in den Arm. Kleine Stromstöße lassen mich das spüren.
"Und warum weinst du?", flüstert sie.
Ich überlege, ob ich es ihr sagen soll.
Mein Herz beginnt, schneller zu schlagen, als ich den Mund öffne und es ausspreche.
"Meine Oma bringt mir Latein bei. Aber in drei Tagen wird sie neunzig."
Ich schluchze auf und verberge mein Gesicht in meinen Armen.
Arianna erstarrt.
"Oh shit. Machen wir einen Deal?"
Ich schüttele den Kopf. Keine Deals.
"Interessiert es dich denn gar nicht, was ich meine?"
Doch. Aber Deals sind gefährlich.
"Du übersetzt mir den Text und ich helfe dir, deine Oma vor der Regierung zu verstecken."
Mein Herz setzt aus.
"Warum?"
"Ich habe gesehen, wie sie meine Oma getötet haben. Du sollst das nicht auch erleben."
"Okay... ich mache mit."
"Ähm, Arianna... Damit macht ihr euch strafbar..."
"Halt die Klappe, Theo. Wir ziehen das durch. Dieses Leben ist sowieso nicht lebenswert. Warum sollten wir nicht wenigstens versuchen, das zu ändern?"
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