- zweiundsiebzig -

Als ich wieder aufwache, zeigt mein Handy an, dass es schon 22 Uhr abends ist. Nachdem Aiden mich nachhause gefahren hat, bin ich schnell unter die Dusche gesprungen und habe mich danach erschöpft ins Bett gelegt.

Zu groß war der Wunsch nach Ruhe und Erholung. Körperlich, aber vor allem von meinen Gedanken.

Neben der Uhrzeit zeigt mein Handy mir auch eine neue Nachricht von Aiden an. "Hey Ari, John holt mich um 22 Uhr ab. Wenn du doch Bock hast, kannst du zu mir kommen oder wir treffen uns da."

Ich strecke mich im Bett und werfe einen prüfenden Blick nach draußen. Es ist schon ziemlich dunkel und nach diesem ausgiebigen Nickerchen ist in den nächsten Stunden nicht an Schlaf zu denken.

Was ist also besser? Schlaflos im Bett liegen und sich dem ewig drehenden Gedankenkarussel hingeben, oder mit den Jungs feiern gehen und im besten Fall die Probleme direkt beseitigen?

Ich denke, die Frage beantwortet sich von selbst.

Noch immer nicht ganz wach drehe ich mich auf die Seite und tippe schnell eine Antwort an Aiden: "Komme. Treffen uns im Club."

Ich entscheide mich, mir nur einen strengen Dutt zu binden und schminke mich im Schnelldurchlauf. Ich schlüpfe in eine graue zerissene Jeans, die locker an meinen dünnen Beinen hängt und wähle dazu ein kurzgeschnittenes enges Top, was einen Blick auf mein glitzerndes Bauchnabelpiercing freigibt.

Ich hänge mir noch ein Paar silberne Creolen an die Ohren und trage einige Spritzer Parfum auf. Seit ich 14 bin nutze ich ausschließlich La vie est belle von Lancome. Das ist einfach mein Duft.

Ich stecke Bargeld, mein Handy und meinen Schlüssel in eine silberne Clutch, streife gleichfarbige Sandaletten über meine Füße und checke noch einmal die Zeit. 22.47 Uhr. Perfekt.

Mit langsamen Schritten laufe ich zum Auto, als plötzlich eine dunkle Gestalt in meinem Augenwinkel meine Aufmerksamkeit erregt.

Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken und ich nestle an meiner Tasche herum um schnellstmöglich meinen Autoschlüssel zu finden.

"Na komm schon, du blödes Ding", murmele ich leise und nervös vor mich hin, als plötzlich eine dunkle Stimme die Stille durchschneidet und mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.

"Ariana, was für ein Zufall!"

Mir entfährt ein schrilles Lachen. Zufall, als ob. Ich wohne zwar nicht weit ab vom Schuss, aber doch nicht zentral genug, als dass sich hier ständig bekannte Gesichter hin verirren würden.

Hier gibt es keine Restaurants, Shisha-Bars, Clubs, Boutiquen oder irgendwas, was Leute ohne ersichtlichen Grund hierhin locken würde.

Er muss auf mich gewartet haben.

Mit zitternden Fingern versuche ich, den Autoschlüssel meines weißen kleinen BMWs in das Schlüsselloch zu stecken, doch es gelingt mir nicht.

Ich spüre seine düstere Aura, rieche sein schweres Parfum und fühle ihn direkt hinter mir, als er plötzlich nach meinem Handgelenk greift.

Mein Herz rast und seine Finger brennen wie Feuer auf meiner Haut. Mein Hals schnürt sich zu und ich will nur noch weg.

"Ariana, warte doch mal", erklingt seine hässliche Stimme mit einem hämischen Grinsen. Ich muss es nicht sehen, um zu wissen, wie es aussieht.

Ich habe die Erinnerung an sein schiefes Lachen, welches mich viel zu leicht um den Finger gewickelt hat, und die leuchtend blauen Augen direkt im Kopf, als hätte ich sie gestern zuletzt gesehen.

Ich beiße mir auf die Unterlippe, hole tief Luft und wirbel dann herum.

"Was willst du hier, Colin? Lauerst du mir etwa auf?", frage ich mit brüchiger Stimme obwohl ich mich bemühe, gefasster zu klingen.

"Ich wollte dich sehen", sagt er ruhig. So ruhig, dass sich die Haare in meinem Nacken aufstellen.

Tief blicke ich in seine kalten kristallklaren Augen, die mich erneut schaudern lassen. Ich versuche irgendwas in ihnen zu lesen. Reue, Spott, Hohn, Begierde - irgendwas, was mich auf seine Absichten schließen lässt, aber er trägt wie immer ein perfektioniertes Pokerface.

"Ach ja? Und wieso?" "Du hast mir gefehlt", antwortet Colin mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als wäre das das Normalste der Welt.

"Nach allem, was du mir angetan hast, wolltest du mich sehen?", frage ich ihn fassungslos.

"Ach komm schon, Ariana. Du hast mir auch einiges angetan. Wir haben uns beide nichts geschenkt, aber ich denke, dass es an der Zeit ist, die alten Geschichten ruhen zu lassen und von neu anzufangen", sagt Colin.

Überrascht mustere ich ihn, doch noch immer verrät sein Gesicht nichts. Sein Kiefer ist entspannt, seine Augen aufmerksam und sein Brustkorb hebt und senkt sich in gleichmäßigen Abständen.

"Wieso sollten wir neu anfangen, wenn du eine Frau und ein Kind hast? Sollten sie nicht diejenigen sein, mit denen du neu anfängst?", frage ich vorsichtig und beiße mir sofort strafend auf die Zunge. Zu groß ist meine Angst, dass er wieder ausrastet und mich schlägt.

Er bleibt jedoch ganz ruhig und antwortet: "Ich habe mich von meiner Frau getrennt."

Ich glaube ihm nicht eine Silbe, habe aber weder die Lust noch die Kraft, geschweigedenn den Mut, ihm zu widersprechen oder eine Diskussion zu beginnen und sage deshalb nur: "Ich hoffe, es geht dir gut mit der Entscheidung. Ich muss jetzt leider los, ich bin verabredet."

Ich drehe mich von ihm weg und versuche erneut mit zitternden Fingern mein Auto aufzuschließen, doch im Bruchteil einer Sekunde zieht er mir meinen kompletten Schlüsselbund aus der Hand. 

Geschockt reiße ich die Augen auf und fahre wieder zu ihm herum.

Colin steht nun noch näher vor mir, so nah, dass ich nichts als sein Parfum einatme und seinen warmen Atem deutlich auf meiner Haut spüre.

"Sag deine Verabredung ab. Komm mit mir. Ich lade dich zum essen ein und wir reden über alles", fordert er ruhig.

Er ist bedrohlich, seine Nähe beängstigend. Er scheint das zu bemerken. Er ist so manipulativ, dass er mich lesen kann wie ein offenes Buch.

Colin rückt noch näher zu mir. In meinem Rücken ist die Autotür, welche mir keinen Spielraum mehr lässt, zurückzuweichen und vor mir ist Colin, der mich aus seinen fesselnden blauen Augen betrachtet und mir nun ins Ohr haucht: "Komm schon, Ariana. Du willst das doch auch. Gib uns noch eine Chance."

Ich nehme all meinen Mut zusammen und schiebe ihn sanft aber bestimmt ein Stück von mir, wenn auch nur mit mäßigem Erfolg.

Seine Atmung verschnellert sich und auch mir schlägt das Herz bis zum Hals, da ich weiß, dass ihm das gar nicht gefällt.

"Ich danke dir für dein Angebot, aber ich möchte wirklich nicht. Ich wünsche dir alles Gute", sage ich einigermaßen ruhig.

Colins markanter Kiefer spannt sich an und seine Augen verengen sich. Automatisch wird mir mulmig zu Mute.

"Es ist dieser Phil oder? Ich habe es schon damals im Chelsea bemerkt. Die Art, wie er sich um dich gesorgt hat, dass er dir extra nachgelaufen ist, wie er dich angesehen hat. Hast du damals schon was mit ihm gehabt, während du mir beweisen wolltest, dass du kein Schlampe ist?" Colin spuckt mir jedes seiner Wörter verächtlich entgegen.

Dann geht alles ganz schnell. Erneut drehe ich mich um, um nun endlich fliehen zu können, als Colins Hand mich grob am Nacken packt.

"Antworte mir gefälligst, wenn ich mit dir rede", knurrt er und stößt meinen Kopf mit voller Wucht nach vorne.

Meine Nase trifft zuerst gegen das harte Metall meines Autos. Es folgen ein lautes Knacken und kleine rote Blutspritzer auf dem weißen Lack.

Nach einem Augenblick der Benommenheit nehme ich all meine Kraft zusammen, hole aus und trete Colin in die Eier.

Er stöhnt laut und kehlig auf, sein Gesicht schmerzverzehrt und sinkt in die Knie.

Ich nutze diesen Moment seiner Handlungsunfähigkeit, unwissend wie viele Sekunden ich habe, bis er sich wieder fängt und schnappe getrieben vom Adrenalin meinen Schlüsselbund, der Colin aus der Hand gefallen ist.

Dieses Mal klappt das Aufschließen meiner Autotür auf Anhieb. Ich springe ins Auto, knalle die Tür zu und drücke sofort den Knopf der Zentralverriegelung.

Dann fahre ich mit quietschenden Reifen davon und werfe einen letzten Schulterblick auf Colin, der zusammen gekrümmt vor Schmerzen auf dem Bordstein liegt und mir "Du dreckige Schlampe, wir sehen uns noch!" hinterherbrüllt.

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