- vierundsiebzig -
Die nächsten Tage vergehen zäh und langsam. Da ich einen einfachen und geraden Nasenbeinbruch habe, musste meine Nase nicht gerichtet werden und ich bin den Gips schneller wieder los, als die Blutergüsse, die sich jedoch ganz gut überschminken lassen.
So traurig es ist, aber dank Colin werde ich langsam zum "Full Coverage Make-up"-Profi.
Schwieriger und deutlich langsamer als der Bruch meiner Nase verheilt mein gebrochenes Herz.
Phil hat sich nicht ein einziges Mal bei mir gemeldet, auch wenn er immer der erste ist, der meinen WhatsApp Status-stalkt.
Mir lässt sein letzter Satz keine Ruhe, ich traue mich aber auch nicht, einen Schritt auf ihn zuzugehen, obwohl mit jedem Tag die Sehnsucht in mir wächst.
Als ich an diesem Nachmittag bei Instagram rumscrolle, klingelt plötzlich mein Handy und Aiden ruft mich an.
Aiden hat sich in den vergangenen Tagen immer mal bei mir gemeldet und sich sowohl nach meinem physischen als auch meinem psychischen Zustand erkundigt.
Einmal ist er sogar abends mit Sushi vorbeigekommen und wir haben einen Film zusammen geschaut.
Er ist mir aktuell wirklich eine große Stütze, da ich meinen einstigen besten Freund scheinbar verloren habe.
Auch John hat mir ab und an geschrieben und angeboten, mir Gesellschaft zu leisten, was ich jedoch dankend abgelehnt habe. Obwohl wir mittlerweile ein freundschaftliches Verhältnis pflegen und ich dankbar dafür bin, dass er sich immer für mich einsetzt, hatte ich auf seine Gesellschaft keine Lust.
Vielleicht hatte ich auch nur Angst, dass er mich wieder mit dem Thema 'Phil' konfrontiert und mir die Leviten ließt.
"Hi Aiden", begrüße ich ihn freundlich, nachdem ich seinen Anruf angenommen habe.
"Hi Ari. Ich wollte dir sagen, dass ich dich heute Abend um 22 Uhr abhole", fällt er mit der Tür ins Haus.
"Heute Abend? 22 Uhr?", wiederhole ich ratlos. Was ist denn heute Abend? Ich hab wirklich gar keine Lust heute feiern zu gehen.
"Heute ist doch Noahs Geburtstagsparty", hilft er mir auf die Sprünge.
Fuck! Das hab ich ja total vergessen.
"Oh man, das ist mir total durchgegangen, aber ich glaube es ist auch besser, wenn ich dort nicht auftauche", gebe ich zu.
"Wieso das denn?", fragt Aiden empört. "Ich habe wirklich keine Lust ihn zu treffen", antworte ich ehrlich.
"Ach komm schon Ari, das kannst du Noah nicht antun. Das wäre echt fies. Er kann doch nichts für eure Streitereien. Du kannst Phil aus dem Weg gehen, Noahs Bude ist groß genug. Außerdem kannst du nach 'ner Stunde wieder abhauen. Hauptsache, du warst da", bequatscht Aiden mich und ich muss einsehen, dass er Recht hat.
"Na gut, dann bin ich um 22 Uhr bereit. Bis später", verabschiede ich den triumphierenden Aiden.
Am Abend gehe ich duschen und mache mich fertig. Ich entschließe mich, mich richtig herauszuputzen. Phil soll schön sehen, was er verpasst!
Ich probiere gefühlt meinen halben Kleiderschrank an, bis ich mich für ein weinrotes enges Kleid entscheide, welches knapp unter dem Po endet. Es hat einen super tiefen Rückenausschnitt und ich stecke meine Haare extra hoch, damit dieser zur Geltung kommt.
Ich überschminke die letzten Blessuren, ziehe einen scharfen Lidstrich und klebe bedrohliche Fakelashes auf. Meine Lippen schminke ich abschließend im gleichen Rotton wie mein Kleid.
Als es um Punkt 22 Uhr klingelt, werfe ich einen letzten zufriedenen Blick in den Spiegel und stöckel dann langsam auf meinen 12 cm hohen Highheels nach unten.
Als Aiden mich entdeckt, macht er große Augen. "Wow, Ari, du siehst heiß aus", schwärmt er, als ich mich galant auf den Beifahrersitz schwinge.
"Danke Aiden", antworte ich lächelnd.
Als wir wenig später bei Noahs Appartement ankommen, ist die Party schon in vollem Gange. Aiden klingelt und ich werfe ihm einen nervösen Blick zu.
"Das wird schon. Denk immer daran, wie scharf du aussiehst", sagt er mit einem Zwinkern und entlockt mir damit ein Grinsen.
Die Freunde von Noah, unter denen viele bekannte Gesichter aus der Uni oder dem Giants-Team sind, sind in seiner ganzen Wohnung verteilt.
Ein paar Leute sitzen auf dem weichen Sofa, einige stehen rauchend auf dem Balkon, wieder andere spielen Bier-Pong auf dem langen Esstisch aus Massivholz.
Ich lasse meinen Blick durch den Raum gleiten, doch Phils braune Augen suche ich vergeblich.
"Ich hole uns erstmal was zu trinken", informiert mich Aiden und verschwindet in Richtung Küche.
Na toll. Keine Minute auf der Party, und schon stehe ich alleine herum.
Augenblicklich fühle ich mich wie Freiwild. Ich spüre die vielen Blicke auf mir, teils begierig und teils anmaßend. Einige beginnen zu tuscheln und ich kann mir nur zu gut vorstellen, worüber sie sich das Maul zerreißen.
"Ist sie nicht mehr mit Phil zusammen? - Vielleicht hat er endlich bemerkt was sie für eine Schlampe ist! - Wieso ist sie mit Aiden hier? - Wurde sie nicht schon wieder verprügelt? Dafür sieht sie aber gut/scheiße aus! - Vielleicht kann ich sie jetzt endlich ficken."
Ich atme erleichtert auf, als Aiden wieder neben mir auftaucht und mir einen roten Plastikbecher in die Hand drückt.
Ohne ihn zu fragen, was die gelbliche Flüssigkeit ist, kippe ich sie in einem Zug herunter.
"So schlimm?", fragt Aiden schmunzelnd. "Schlimmer!", antworte ich und rolle mit den Augen.
"Ich hole mir Nachschub", informiere ich Aiden und laufe nun selbst zur Küche. Ich fülle meinen Becher mit Vodka und einem Schluck Redbull und kippe die starke Mischung erneut herunter. Dann fülle ich den Becher wieder und gehe zurück zu Aiden, der sich gerade angeregt mit Noah unterhält.
Ich umarme ihn, gratuliere ihm und bedanke mich für die Einladung. Dann widme ich mich meinem dritten Becher mit Vodkamischung.
Auch der vierte Becher lässt nicht lange auf sich warten und da ich versäumt habe, eine ordentliche Grundlage zu schaffen, bin ich keine halbe Stunde nach unserem Eintreffen schon betrunken.
Ich lache gerade über etwas, das Aiden gesagt hat, als jemand die Wohnungstür öffnet und eine kleine Gruppe von Leuten herein kommt.
Mein Blick schnellt zu Phil und trifft auf das schöne Haselnussbraun seiner Augen. Mir bleibt die Luft weg.
Phil sieht beschissen aus. Müde, blass, matt. Er ringt sich ein schwaches Lächeln ab, welches stirbt, als er Aiden neben mir entdeckt.
Genervt dreht er sich zu John und seinen anderen beiden männlichen Begleitern um, mit denen er gekommen ist.
Erst jetzt bemerke ich an seinen glasigen Augen, dass er auch schon betrunken zu sein scheint.
John wirft mir einen abfälligen Blick zu und wendet sich dann an Phil, sagt ihm etwas, was ich aufgrund der dröhnend lauten Musik nicht verstehe und verschwindet mit ihm auf den Balkon.
Die beiden anderen Jungs bahnen zeitgleich einen Weg zur Küche, um offensichtlich etwas zu trinken zu besorgen.
Plötzlich lässt mich ein schrilles "Phil!" gefolgt von einem hellen Kichern aufhorchen.
Mein Kopf schnellt Richtung Balkon, wo ich sehe, wie Vivian sich Phil um den Hals schmeißt. Sie zieht ihn in eine viel zu lange Umarmung, während der er mir einen kalten Blick über ihre Schulter hinweg zuwirft.
Ist das jetzt sein Ernst?
Aber es kommt noch besser: was ich dann sehe, zieht mir endgültig den Boden unter den Füßen weg.
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