- neununddreißig -

Zuhause angekommen, dauert es eine Weile, bis ich wieder zur Ruhe komme. Ein Meer von Gefühlen tobt in mir, und das Wort "Meer" trifft es genau. In mir brechen tosende Wellen, eine stürmische See, unbändige Naturgewalten los. Genau so fühlt sich mein Inneres an—eine unkontrollierbare Kraft, die mich hin- und herwirft, während ich versuche, festen Boden unter den Füßen zu finden. Jeder Gedanke ist wie ein Windstoß, der die Wellen noch höher peitscht, jede Emotion wie ein Gewitter, das am Horizont aufzieht und mich völlig vereinnahmt.

Ich mache alles, was mich normalerweise entspannt oder ablenkt. Ich nehme ein heißes Bad mit dem vollen Wellnessprogramm, putze meine Wohnung und höre laute Party-Musik, doch heute wirkt nichts davon.

Am späten Nachmittag finde ich mich auf der Couch wieder. In meiner linken Hand ein volles Glas Rotwein, in meiner rechten eine glimmende Zigarette. Auf meinem Fernseher läuft "Gossip Girl", auch wenn ich die komplette Serie mindestens schon dreimal gesehen habe und viele Stellen textsicher mitsprechen kann.

Als ich die Zigarette in dem kleinen gläsernen Aschenbecher ausgedrückt habe, werfe ich einen prüfenden Blick auf mein Handy.

Ich habe es die ganze Zeit vermieden, aus Angst davor, dass Phil sich gemeldet hat. Doch noch mehr Angst hatte ich, dass er sich nicht gemeldet hat. Gedanken so konfus, wie alles, was sich momentan in meinem Kopf abspielt.

Phil hat mir nicht geschrieben, stattdessen habe ich einen entgangenen Anruf von Emily sowie eine Nachricht von ihr. "Alex hat mir erzählt, was in den letzten zwei Tage abgegangen ist. Wenn du mich brauchst oder wenn du reden willst, melde dich bei mir. Ich bin immer für dich da. Wenn du deine Ruhe willst, sag mir wenigstens kurz Bescheid, wie es dir geht, ich mache mir nämlich Sorgen um meine beste Freundin."

Ich seufze leise. Auch wenn ich Emily gerne an meiner Seite hätte, will ich sie mit dem ganzen Scheiß genauso wenig belasten wie Phil. Und wie soll ich etwas erklären, dass ich selbst nicht verstehe?

Zur Beruhigung schicke ich ihr eine kurze Nachricht. "Sorge dich nicht um mich, mir geht's gut. Ich melde mich."

Was für eine Lüge.

Mit sticht der Nachrichtenverlauf mit Phil ins Auge. Ich öffne ihn und lese die letzte Nachricht, die er mir geschrieben hat. "Es war heute so schön, ich genieße jede einzelne Minute mit dir."

Seine Worte versetzen meinem Herzen einen Stich. Ich klicke wie ferngesteuert auf das kleine, runde Profilbild. Es zeigt den schönen Dunkelblonden in dunkelblauer Jeansjacke und mit einer verspiegelten Sonnenbrille im Gesicht. Es ist ein ungestellter Schnappschuss, auf dem er von Herzen lacht. Ich weiß das, denn ich habe das Foto im Spätsommer geschossen, als ich mit Phil in einem Café saß und Carrotcake gegessen habe.

Wie sehr ich mich danach sehne mit ihm zu lachen. In meinem Hals bildet sich ein dicker Kloß. Ich versuche ihn runterzuschlucken, aber es gelingt mir nicht.

Schnell schließe ich Whatsapp und klicke mich zur Ablenkung durch die neuesten Instagram-Stories. Gelangweilt schaue ich einige Sequenzen an oder wische sie weiter, bis mir ein Bild von Elijah in den Feed gespült wird.

Auf dem Bild liegt sein Gesicht im Schatten abgebildet, im Fokus liegt sein knallbunter Coogi Sweater. Ich wische nach oben und schicke ihm eine Direktantwort: "Ich liebe den Sweater! Das Bild ist richtig gut."

Es dauert keine fünf Minuten bis ich eine Antwort erhalte: "Danke, Ariana. Was treibst du so?"

Elijah studiert nicht an unserer Uni, sondern hat mit seinem älteren Bruder zusammen den Autohandel seines verstorbenen Vater übernommen.

Ich beiße mir auf meiner Unterlippe herum, während ich abwäge, ob ich lügen oder die Wahrheit sagen soll. Sofort schießt mir meine Oma in den Kopf, wie sie mit erhobenem Zeigefinger sagt: "Kindchen, die Wahrheit währt immer am längsten."

Also tippe ich brav: "Ich hänge auf der Couch und betrinke mich um 16.35 Uhr mit Rotwein & das beantwortet nicht nur, was ich mache, sondern auch, wie es mir geht. Und du? Ich hoffe, bei dir sieht es besser aus?"

Wie auf Kommando nehme ich einen weiteren Schluck aus dem bauchigen Weinglas.

"Mit Wein? Ich bin enttäuscht von dir. Wenn du dich schon nachmittags unter der Woche betrinkst, dann richtig! Nimm wenigstens Vodka. Bei mir ist alles okay. Bin noch auf der Arbeit, mache jetzt gleich Feierabend."

Ich muss grinsen. Die Nachricht passt genau zu dem Bild, was ich bisher von ihm habe. Im Kopf jünger als auf dem Ausweis, leichtsinnig, lebendig, immer einen frechen Spruch auf den Lippen und mit einem Hang zu sinnesvernebelnden Substanzen.

"Glaub mir, ich würde sogar Absinth trinken, wenn ich welchen hätte. Habe aber nur Wein & keine Lust, das Haus zu verlassen."

"Ich mache um 17 Uhr Schluss & könnte dir eine Flasche vorbeibringen, vorausgesetzt, du teilst mit mir, ich hatte nämlich auch einen miesen Tag..", antwortet er.

Sein Angebot klingt wie Musik in meinen Ohren. Mich sinnlos zu betrinken und an nichts mehr denken zu müssen, ist genau das, was ich gerade will. Auch wenn es falsch ist. Auch wenn Alkohol keine Lösung ist.

Phil, John, Phil, John. Colin. Herzklopfen, Herzrasen, Herzschmerz. Freude, Liebe, Leid. Angst und Panik. Die letzten Wochen waren eine emotionale Achterbahnfahrt, die mir körperliche Schmerzen bereitet, wenn ich nur darüber nachdenke - was ich 24/7 tue. Ständig diese Stimmen in meinem Kopf, die sich bekämpfen. Was würde ich nur dafür tun, sie endlich zum Schweigen zu bringen.

Rede mit Phil! - Nein, erzähle Phil nichts davon! - Aber du vermisst ihn doch! - Aber er dich nicht, sonst würde er sich melden! - Wieso sollte er, du hast ihn verletzt! - Wenn du Phil von deinen Panikattacken erzählst bist du wieder die schwache Ari, wie damals! - Das ist doch keine Schwäche! Phil davon zu erzählen würde zeigen, wie stark du bist!

So geht es die ganze Zeit hin und her, ein nie endendes Gedanken-Ping-Pong. Ich weiß mittlerweile selbst nicht mehr, was ich denken soll. Ich will nur noch meine Ruhe. Nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nicht mehr fühlen. Nicht umsonst sitze ich hier und habe eine ganze Flasche Rotwein intus. Wer feiert, trinkt ein Glas Wein. Eine ganze Flasche ist ein Hilferuf.

Und doch weiß ich mir nicht anders zu helfen.

Kurzentschlossen antworte ich Elijah: "Dann bis gleich. Du weißt ja, wo ich wohne."

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