- dreiundvierzig -

Der nächste Morgen beginnt mit dröhnenden Kopfschmerzen und einem flauen Gefühl im Magen. Es dauert ein paar Minuten, bis ich einigermaßen klar komme.

Elijah liegt noch immer neben mir auf der Couch, tief schlafend in seinem bunten Sweater. Ich stehe leise auf, gehe duschen und ziehe mir danach eine Leggings und ein kuzgeschnittenes Langarmshirt an.

Als ich ins Wohnzimmer zurückkehre, ist Elijah aufgewacht. Er wirkt topfit, als wäre gestern nichts Besonderes passiert. Für ihn scheint das wirklich ein ganz normaler Abend gewesen zu sein.

"Morgen", sagt er grinsend und streicht sich durch seine kurzgeschorenen Afrohaare. "Morgen", erwidere ich mit einem gequälten Lächeln. Mir geht es wirklich beschissen.

Wir trinken noch einen Kaffee zusammen, doch kaum dass Elijah seine Tasse geleert hat, steht er auf und verabschiedet sich von mir. "Sorry, ich muss dringend zur Arbeit, sonst komme ich in Teufels Küche. Isaiah macht mich einen Kopf kürzer, wenn ich ihn heute hängenlasse." Ich nicke verständnisvoll.

"Musst du nicht zur Uni?", fragt er unschuldig. Zack. Fünf harmlose Worte, doch sofort ist alles wieder da. John, Phil, unsere Streitereien. Alles, was ich gestern dank Alkohol und Gras erfolgreich verdrängt habe.

Elijah merkt, dass das nicht die beste Frage war und er einen wunden Punkt bei mir getroffen hat, denn er entschuldigt sich sofort: "Ey, tut mir leid. Ich habe nicht darüber nachgedacht. Du bleibst wahrscheinlich lieber zuhause, oder? Du siehst eh ziemlich blass aus heute."

Meine Lippen verziehen sich zu einem schiefen Grinsen. "Das ist aber eine charmante Art einer Frau zu sagen, dass sie scheiße aussieht."

Er fängt an zu lachen und legt seine große Hand auf meinen zarten Oberarm. "So war das nicht gemeint, das weißt du genau."

"Alles gut, und jetzt hau ab, bevor dein Bruder dich noch umbringt." Er drückt mir einen Kuss auf die Wange und drückt die Wohnungstür auf. "Falls Wiederholungsbedarf besteht, schreib mir. Für einen Abend wie den gestrigen bin ich immer am Start."

Ich zwinkere ihm zu. "Gerne. Wäre aber cool, wenn ich dir nicht immer bei Instagram schreiben muss. Vielleicht schickst du mir ja deine Nummer?"

Elijah schmunzelt. "Ich denke mal darüber nach. Wir hören uns." Er nickt mir kurz zu, dann joggt er lässig die Treppen hinunter.

Grinsend schließe ich die Wohnungstür und laufe ins Wohnzimmer.

Und nun? Ich will nicht zur Uni und auch sonst nirgendwo anders hin. Meine Wohnung ist nicht sauber, sie ist schon steril, dank meiner exzessiven Puntzanfälle der letzten Tagen.

Ich habe keinen Hunger, keine Lust auf andere Menschen und die ganzen Serien hängen mir zu den Ohren raus. Was soll ich also tun? Denn Fakt ist, ich muss mich beschäftigen, bevor ich wieder in einen starken Strudel aus dunklen Gedanken gerate, der mich immer weiter runter zieht.

Ich nehme mein Handy kurz in die Hand, doch lege es wieder weg. Zu groß ist die Gefahr, auf meinem Bildschirm Phils Gesicht zu begegnen.

Ich werde immer unruhiger vom Nichtstun und bekomme den Drang, diese überschüssige Energie abzubauen. Deshalb starte ich ein Yoga-Video auf YouTube und beginne, die Übungen nachzumachen, die eine junge Brünette vorführt.

Früher habe ich oft Yoga gemacht. Eine Zeit lang habe ich mich auch am Cheerleading versucht. Die Übungen und das Training haben mir viel Spaß gemacht, aber das war das kein Sport für mich. Zu viele verbissene, hochnäsige Zicken wie Vivian. Der Erfolgsdruck und das starke Konkurrenzdenken haben mir jegliche Freude am Cheerleading genommen.

Als Kind habe ich mehrere Jahre lang rhytmische Sportgymnastik und Akrobatik gemacht. Nach dem tödlichen Unfall meiner Eltern, als ich 14 Jahre alt war, habe ich damit aufgehört.

Das Yoga tut mir gut. Ich spüre, wie sich nicht nur mein vom Vorabend strapazierter Körper, sondern auch meine Seele ein wenig erholt. Doch leider schaffe ich es damit nur, eine Stunde zu überbrücken.

Irgendwann beginne ich, meine Schränke umzuräumen und auszusortieren. Dabei stoße ich auf ein altes Set zum Modellieren von Gelnägeln, das in meinem Schminktisch vergraben war. Die Entdeckung kommt mir gerade recht, also verbringe ich die nächsten vier Stunden damit, das gesamte Zubehör zu reinigen und zu sortieren. Anschließend schaue ich mir Tutorials an und mache mir schließlich selbst Gelnägel.

Beim nächsten Blick auf die Uhr ist es zu meiner Erleichterung 17 Uhr. Ich nehme noch ein heißes Schaumbad und zwinge mich, wenigstens eine Kleinigkeit zu Abend zu essen. Das Rührei mit Tomaten und Pilzen, welches ich mir brate und mit Brot esse, ist meine erste Mahlzeit heute.

Ich lege mich schon früh ins Bett. Ich schalte irgendeine Sitcom an und sehe mit einem Blick auf mein Handy, dass Elijah mir seine Nummer geschickt hat. Natürlich.

Kurzentschlossen schicke ich ihm eine Nachricht bei WhatsApp. "Alles gut, oder hat dein Bruder dich gefeuert?"

Seine Antwort lässt nicht lange auf sich warten: "Neee, keine Sorge. Was treibst du?" "Ich liege im Bett.." "Schon?" Ich muss grinsen. "Ja.. Und du?" "Ich mache jetzt gleich Feierabend."

Ich tippe die nächste Nachricht, und lösche sie wieder. Dann tippe ich erneut und formuliere um, bis ich irgendwann folgendes abschicke: "Schönen Feierabend & danke für den gestrigen Abend. Ich hatte großen Spaß. Trotzdem möchte ich dich bitten, das Ganze für dich zu behalten. Ich bin nicht scharf darauf, die Gerüchteküche anzuheizen."

Nervös starre ich auf mein Handy, bis endlich eine Antwort von ihm kommt: "Ja, ich fand's auch cool. Falls du morgen nichts besseres vor hast, können wir das gerne wiederholen. Und keine Sorge, ich schweige wie ein Grab."

Wir verabreden uns für den nächsten Abend. Etwas Ablenkung kann nicht schaden. Obwohl ich den ganzen Tag damit verbracht habe, mich irgendwie abzulenken, ist es alleine doch etwas anderes.

Tagsüber ist es mir einigermaßen gelungen, das zu verdrängen, was mich tief im Inneren belastet. Doch jetzt, wo ich im Bett liege und zur Ruhe komme, kehren die Gedanken unaufhaltsam zurück.

Immer wieder erscheint mir Colins Gesicht vor meinem inneren Auge – in den unterschiedlichsten Situationen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Jedes Mal erfasst mich Panik, als könnte ich den Schmerz nicht abschütteln.

Ich muss zugeben, dass sich die Momente drastisch häufen, in denen ich Panikattacken bekomme. Es ist so extrem geworden, dass ich am liebsten nur noch zuhause bleiben möchte. Ich habe immer noch große Angst davor, dass einer meiner Freunde mitbekommen könnte, wie schlecht es um mich steht. Ich will weder ihr Mitleid, noch will ich eine Belastung für sie sein.

Der schlimmste Schmerz ist jedoch die Sehnsucht nach Phil und das Wissen, ihn so verletzt und von mir weggestoßen zu haben.

Es gibt keine Dunkelheit. Dunkelheit ist nur die Abwesenheit von Licht.

Und genau das fühle ich, seit Phil weg ist. Die Abwesenheit von Licht und diese ständig anhaltende, nie enden wollende Dunkelheit in mir und meinem Leben.

Mit Phil an meiner Seite ging mir um Längen besser als jetzt. Seitdem er weg ist, bin ich in einem Loch, aus dem ich nicht mehr alleine herauskomme. Ich weiß, dass ich Hilfe brauche. Aber trotz der Gewissheit kann ich mich nicht überwinden, diesen Schritt zu gehen.

Tränen laufen mir übers Gesicht und ich heule und schreie mir all meinen Schmerz von der Seele, bis ich irgendwann vor Erschöpfung einschlafe.

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