Theo

Anskar streifte seine blutigen Handschuhe ab, suchte mit zitternden Fingern nach Leonoras Puls. Sie war blasser als der Schnee, ihre Haut fast genauso kalt. Seine Finger pressten gegen ihren Hals. Nichts. Der Vernarbte spürte eine große Leere in sich gähnen. Er suchte weiter. Nic—

Da! Der Puls. Schwach und schnell. Er schluckte schwer, lachte, schluchzte.

Schwere Schritte, begleitet von kaum wahrnehmbarem Surren näherten sich Anskar. „Veränderte Physiognomie: Sukkubus. Beschleunigte Heilung. Überlebenschancen akzeptabel: 60 %."

Anskar schüttelte den Kopf. „Nicht gut genug."

Er zwang sich zur Ruhe, kämpfte gegen die letzten Effekte der Drogen in seinem System und suchte sie nach Wunden ab. Er fand weit mehr als ihm lieb war. Sie hatte multiple Schussverletzungen. Eine Kugel hatte sie oberhalb des rechten Hüftknochens komplett durchschlagen, eine weitere hatte ihr das Fleisch von den Rippen geschält und ein dritter Schuss hatte sie an der Schulter erwischt, jedoch nur oberflächlichen Schaden angerichtet. Sie hatte viel Blut verloren. Zu viel.

„Verdammte ...", fluchte Anskar als er nach seinem Erste-Hilfe-Pack suchte, nur um festzustellen, dass er es irgendwann im Kampf verloren hatte.

Leonora hatte ihres jedoch noch und Anskar dankte jedem Gott der zuhören mochte dafür. Das Pack war nicht groß, enthielt jedoch das Beste in Gefechtsversorgung, dass die Alte Welt für ihre Soldaten hervorgebracht hatte: Blutgerinnungsfördernde Pulver, starke Schmerzmittel, Antibiotika, verschiedenste Medikamente und ein Bio-Synthetischer Schaum den Anskar in und um Leonoras Wunden herum verteilte. Er verzog das Gesicht, als der Schaum sich mit Leonoras Fleisch zu neuem Proto-Gewebe verband und sie vor Schmerz sogar noch in ihrer Ohnmacht wimmern ließ.

„Sorry. Muss sein, Kleines, muss sein", flüsterte Anskar und strich ihr mit den Fingern über das schmerzverzerrte Gesicht.

Er tastete einmal mehr nach ihrem Puls und fand ihn nach wie vor schwach vor. Ohne darüber nachzudenken, schloss sich seine Hand um ein Messer, dass aus seinem Oberschenkel ragte. Seltsam wie unwichtig ihm seine Wunden im Vergleich zu den ihren erschien, wie unbedeutend sein körperlicher Schmerz war im Vergleich zum emotionalen, sie leiden zu sehen. Der Cyborg jedoch reagierte auf die Bewegung mit dem Schwenk seines Geschützarms – diesmal richtete er die Mündungsrohre auf Leonora. Die Rohre fingen an sich zu drehen. Surrten.

Anskar riss beide Hände hoch und keuchte, „Stopp! Stopp... Ich ... sie ... Sie braucht Blut und ich ... Scheiße, ich brauche nur etwas, womit ich mir die Ader öffnen kann."

Cannibal Jones starrte ihn einen schrecklich langen Moment nur ausdruckslos an. Vermutlich analysierten dessen Programme wieder den Wahrheitsgehalt seiner Aussage. Er nickte letztendlich, hielt seinen Geschützarm jedoch weiter auf Leonora gerichtet.

Dreckiger Bastard.

Muskeln tanzten unter der vernarbten Haut von Anskars Gesicht, als er das Messer mit einem Ruck aus seinem Fleisch zog. Er führte die Klinge zu seinem Handgelenk und öffnete sich die Ader. Blut quoll träge über den Schnitt und tropfte auf Leonoras bläuliche Lippen. So wie es aussah, hatte er ohnehin nicht viel von sich zu geben. Zärtlich ergriff er ihren Kopf und legte ihr Haupt so, dass das teure Rot ihre Kehle hinabfloss. Sie verschluckte sich zuerst und hustete, beruhigte sich jedoch schnell und begann sanft zu saugen, als Anskar sein Handgelenk wieder zu ihren Lippen führte. Ihre Zunge glitt fast zärtlich über sein Fleisch und der große Mann schluckte schwer. Dies waren vielleicht ihre letzten Zutraulichkeiten. Anskar schloss die Augen und genoss den Moment, versuchte die Kälte, den Gestank und den schieren Horror des Augenblicks auszublenden.

„Genug", sagte der Cyborg und zerstörte den viel zu kurzen Moment des Friedens.

„Noch nicht", sagte Anskar, wurde jedoch von dem drohenden Surren der Mini-Kanone abgeschnitten. Er löste sein Handgelenk widerwillig von ihren Lippen und zischte, „Schon gut, schon gut!"

Leonora stieß ein leises Wimmern aus, erwachte jedoch nicht. Das Surren der Mini-Kanone verstummte. Anskar senkte den Blick, strich seiner Geliebten zärtlich eine Strähne des rotbraunen Haares aus dem Gesicht und stieß ein niedergeschlagenes Lachen aus. „Was für ein Scheißtag. Wir hätten heute einfach im Bett bleiben sollen ..."

Sein Häscher nickte bedacht langsam, so als hätte Anskar eine ganz besondere Weisheit ausgesprochen. Der Blick des Vernarbten löste sich von Leonora und wanderte zu dem breitkrempigen Lederhut der Gestalt. Verdammte Axt ... Irgendwo hatte er so einen ähnlichen Hut schon einmal gesehen, aber wo? Seine Augen senkten sich zur Hüfte des Cyborgs. Aus irgendeinem Grund erwartete er, dort eine Peitsche hängen zu sehen.

Cannibal Jones ...

Anskar runzelte die Stirn. Hatte dieses Ding nicht auch gesagt, es sei ein Archäologe? Plötzlich machte es klick und Anskars Augen weiteten sich schlagartig, als eine Erinnerung in seinen Schädel hämmerte. „Jones ... Wie in ... Indiana Jones?"

Das Ding schob seinen Hut etwas höher, so dass Anskar die Augen deutlicher sehen konnte: Kameraaugen – kalt und leblos, wie die Linsen eines Mikroskops. Sie surrten, als sie sich auf die geänderten Lichtverhältnisse einstellten. „Korrekt."

Anskar starrte die Figur nur einen Moment schweigend an. Dann grinste er, fing leise an zu lachen. Cannibal Jones! Er schüttelte den Kopf. Warum auch nicht? „Du bist also ein Archäologe und Kopfgeldjäger ... und kein Mensch oder täusche ich mich da?"

Cannibal Jones nickte. „Kybernetisch modifizierter Veränderter. Kategorie Zombie. Kriegscyborg Model K-188."

Anskar schüttelte den Kopf. „Panzer auf zwei Beinen, degenerierte Thorianer und jetzt auch noch ein Cyberzombie ... Fuck, und wir dachten wirklich, wir hätten das Schlimmste hinter uns gelassen." Er lachte erneut – trostlose, bittere Laute – und seine Hand wanderte unbewusst zum Halsband, das der Cyberzombie ihm angelegt hatte.

Er erstarrte, als der massive Geschützarm träge in seine Richtung pendelte und erneut Rotation in die Rohre der Mini-Kanone kam. „Handlung abbrechen."

Anskar hob beide Hände. „Ganz ruhig. Ich wollte mich nur Kratzen. Das Ding juckt."

„Negativ. Berührung Halsband vermeiden. Explosiv. Manipulation: Explosion. Fluchtversuch: Explosion. Offensive Handlungen gegen Einheit Cannibal Jones: Explosion. Einheit Cannibal Jones terminiert: Explosion."

Anskar nickte missmutig. So wie sein Kopf mittlerweile hämmerte, wäre seinen Schädel zu verlieren gerade eine kleine Gnade. „Sagst du mir dann wenigstens, was du von mir und meinen Freunden willst? Wir—"

Anskar brach ab. Seine Augen weiteten sich und sein Mund klappte auf.

Theo ...

Verdammte Axt, wie hatte er nur Theodor vergessen können?

Er hustete in dem Versuch seine Gesichtsentgleisung zu überspielen und sah sich verstohlen um, betete, das der kleine Wartungstechniker es irgendwie geschafft hatte zu fliehen oder sich zu verstecken. Er war vielleicht ihre einzige Hoffnung. Es half nicht, dass die Welt noch immer den Eindruck machte, als könne sie jeden Moment schmelzen. Bis auf ein paar fette Raben, die angefangen hatten auf den Toten herum zu hacken, sah er jedoch nichts Ungewöhnliches. Wenigstens etwas.

„Kontrakt", sagte Cannibal Jones nach einem langen Moment des Schweigens. Anskar starrte ihn einen Moment verwirrt an, bis ihm wieder einfiel, dass er ihm ja eine Frage gestellt hatte. „Prototyp Projekt Archetype. Wert für Odin: hoch."

Anskars Kopf schnellte bei diesen Worten herum. „Odin? Ich ... Du bist einer der Agenten von Walhalla 23?"

Der Cyberzombie nickte.

Für den längsten Moment gaffte Anskar den Kopfgeldjäger nur an, sprachlos. Er blinzelte, machte eine weit ausladende Bewegung mit der Hand. „Aber... diese Bastarde hier waren ebenfalls Agenten von Walhalla!"

„Korrekt."

Anskar Mund klappte auf. Er gestikulierte wild mit den Händen. „Aber ... Verdammte Axt... du bist ein Veränderter!"

Cannibal Jones nickte erneut. „Korrekt."

Anskar stöhnte, während sich seine Hände zu Fäusten ballten. Ein dutzend Fragen schoss ihm durch den Kopf und er wäre damit vermutlich auf den Kriegscyborg eingestürmt, wenn das Knacken von Eis seinen Blick nicht zur Seite gerissen hätte.

Anskars Augen weiteten sich. „Theo ..."

Der kleine Mann war auf das Eis geschleudert worden, lag vielleicht ein dutzend Schritte entfernt, war jedoch nicht eingebrochen – zumindest noch nicht – und lag da wie eine weggeworfene Puppe: reglos und in einer dampfenden Lache seines eigenen Blutes. Anskar sprang auf – oder versuchte es zumindest und fiel stattdessen vorne über. Das Surren der Mini-Kanone ließ ihn erstarren, bevor er sich wieder aufrichtete.

Er sah Cannibal Jones flehentlich an. "Wir müssen ihm vom Eis holen. Wenn er einbricht—"

Cannibal unterbrach ihn mit der Feinfühligkeit eines Hackbeils. „Negativ. Einheit Theodor Kapp eliminiert."

Anskars Augen weiteten sich. Eliminiert? Nein, unmöglich! Nicht Theo. Er schüttelte den Kopf, rang nach Worten. „Wa... Das weißt du nicht, vielleicht ist er noch—"

„Lebenszeichen Bio-Scan: Negativ. Eliminiert."

Eliminiert ...

Ein so simples Wort und dennoch war es schmerzhafter als der Speer, den man ihm durch die Eingeweide getrieben hatte. Er schüttelte vehement den Kopf. „Nein. Nein, das glaube ich nicht... Ich... Ich..." Anskars Hände fingen an zu zittern. Er suchte nach Anzeichen, dass Cannibal Jones log, suchte nach Theodors Atem in der Luft oder der noch so kleinsten Bewegung. Alles, was er jedoch sah, war das Blut seines Freundes, das in der kalten Luft dampfte. Alles, was er hörte, war das Eis, das hungrig unter ihm knackte. Feuchtigkeit füllte für einen Moment Anskars Augen und die Welt verklärte sich, doch er rang die Trauer nieder, ließ stattdessen Zorn in sich aufflammen „Du... Du hast ihn getötet, nicht war? Das warst du."

Kameraaugen surrten, als der Kriegscyborg ihn einen langen Moment musterte. Seine Antwort war ein gefühlloses: „Kollateralschaden."

„Du dreckiger—", zischte Anskar und war schon halb auf den Beinen, als der Geschützarm in Leonoras Richtung schwenkte. Anskar erstarrte.

„Einheit Theodor Kapp eliminiert", sagte Cannibal Jones, die Stimme bar jedweder Gefühle. „Einheit Leonora Hagen: Überlebenschancen derzeit 86 %."

Anskar zitterte vor unterdrückter Wut. Der Kriegscyborg musste die Drohung nicht einmal aussprechen. Sein Blick huschte von diesem kybernetischen Monster, zu Theodor und letztendlich zu Leonora. Er schloss die Augen. Trotz all seiner Macken war Theodor sein Freund gewesen, vielleicht der einzig echte Freund, den er in dieser beschissenen Welt je hatte – und jetzt war er tot. Er war tot, weil Anskar seine Rolle nicht erfüllt hatte, weil er ihn nicht beschützen konnte. Der Vernarbte öffnete die Augen und sein Blick fiel auf Leonora. Er wusste, was getan werden musste, auch wenn es ihn innerlich umbrachte. Für Theodor mochte es zu spät sein, doch vielleicht konnte er wenigstens noch seine Gefährtin retten – auch wenn sie ihn belogen und vielleicht nur benutzt hatte.

Anskar lachte bitter, blickte auf und starrte in die zwei leblosen Linsen, die dieses Ding als Augen hatte. „Du wirst mich zurück nach Walhalla 23 bringen, nicht wahr?"

Ein Surren. Ein Nicken.

„In Ordnung", sagte Anskar. „Solange Leonora nichts passiert, werde ich dir keinen Ärger machen ..."

Ein Surren. Ein Nicken.


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Theo ... :(



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