Prolog - Teil 2
Absolute Dunkelheit, dick und schwer wie die Erde auf einem Grab, erwartete Siegfried, als er wieder die Augen öffnete. Ich bin tot, war sein erster Gedanke, dicht gefolgt von einer Erinnerung an seine alte Heimschwester. Als er noch ein Kind war, hatte er den Fehler gemacht, die bösartige alte Hexe zu fragen, was sie nach dem Tod erwartete.
Dunkelheit, hatte sie gesagt. Lebendig begraben für alle Zeit.
Es bedurfte all seiner Willenskraft sich nicht einem ausgiebigen Schreianfall hinzugeben, doch glücklicherweise machte ihm sein schmerzender Körper unmissverständlich klar, dass er sehr wohl noch am Leben war. Wie es schien, hatte man ihn an Händen und Beinen an eine lange Stange gebunden und nun pendelte er im Schritt seiner Häscher hin und her. Oh ja, er war wahrlich ein Glückspilz ...
Die Schnur, mit der sie ihn gefesselt hatten, schnitt dabei so schmerzhaft in sein Fleisch, dass ihm Tränen in die Augen traten. Sein Helm war zwar fort, doch anhand des Klatschens von nackten Füßen auf Beton hatte er keine Probleme seine Fänger in der Dunkelheit auszumachen. Zudem verströmten sie einen äußerst seltsamen und geradezu verstörenden Geruch: eine Mischung aus frischer Erde, altem Blut und noch etwas, das er nicht einzuordnen vermochte.
Nichts von alledem trug dazu bei, sein hämmerndes Herz zu beruhigen. Das wum-wum-wum drohte seinen Schädel zu sprengen. Einmal mehr wollte er sich diesem ausgiebigen Schreianfall hingeben und sei es nur, um seiner Angst etwas Luft zu machen, doch einmal mehr obsiegte Intellekt über Instinkt – auch wenn es ein verdammt knappes Match war. Keine geringe Leistung im Anbetracht dessen, was ihn vermutlich erwartete. Sein Mund war mit einem Mal sehr trocken und er hatte nicht einmal mehr genug Spucke, um schwer zu schlucken. Die meisten Chimära-Mutanten waren schließlich auf Kannibalismus angewiesen, um zu überleben.
Sie umrundeten eine Ecke und mit einem Mal bildeten sich Konturen in der Dunkelheit. Siegfried reckte den Hals und sein Herzschlag beschleunigte sich. Gott, tat ihm der Nacken weh... Aber ja, das war ganz eindeutig Flammenlicht am Ende des Korridors. Die Luft, die ihnen entgegenwehte war ebenfalls wärmer und trug den Geruch von Rauch und – er schluckte schwer – das unverkennbare Aroma von bratendem Fleisch mit sich.
Menschenfleisch, schoss es ihm durch den Kopf. Was du da riechst ist bestimmt Menschenfleisch. Langschwein!
Als das zunehmende Licht seine Häscher aus der Dunkelheit schälte, wurde selbst dieser verstörende Gedanke beiseite gefegt, wie eine Kanalratte von einer plötzlichen Flut. Seine Augen weiteten sich, bis sie ihm fast aus dem Kopf poppten. Als Thorianer hatte Siegfried so ziemlich alles über die verschiedenen Chimära-Gattungen gelernt, doch diese Dinger waren ihm vollkommen unbekannt.
Beide waren menschenähnlich und geradezu obszön muskulös, mit dicken, wulstigen Adern, die sich wie ein Netz über den gesamten Körper zogen. Ihre Haut war von einer leichenhaft grünlichen Blässe und das einziges Zugeständnis zu Anstand und Kälte war ein Lendenschurz aus – er schluckte schwer – aus menschlichem Skalps.
Sein Drang zu schreien nahm geradezu kosmische Ausmaße an. Siegfried schloss die Augen und versuchte sich voll Verzweiflung an einer angeblich beruhigenden Atemtechnik, die ihm sein Nahkampflehrer einst gezeigt hatte.
Einatmen. 1-2-3-4. Ausatmen. 1-2-3-4. Einatmen. 1-2-3-4. Ausatmen.
Zu seiner Überraschung half dies sogar ein bisschen, doch als er die Augen wieder öffnete, verdampfte dieses bisschen Ruhe, wie ein Schneeflöckchen, das sich in die Hölle verirrt hatte. Und das Gleichnis war noch nicht einmal so fehl am Platz. Der Raum, der sich vor ihm ausbreitete, hatte die Ausmaße einer riesigen unterirdischen Kathedrale und war dem Anschein nach einst Teil einer unterirdischen Parkanlage gewesen. Die Decken von mindestens drei Ebenen waren jedoch eingestürzt, was diesen riesigen Raum geschaffen hatte. Im Schein der Flammen und entlang der Galerien über sich konnte er zudem hunderte von schemenhaften Gestalten erkennen – und tausende glänzender Augen.
Warme Nässe breitete sich in seinem Schritt aus, doch es war ihm egal. Er hatte gesehen was sich dort unten auf den geschwärzten Eisenstangen über dem großen Feuer drehte und Thor selbst hätte an dieser Stelle wohl die Kontrolle über seine Blase verloren. Arme. Beine. Torsos. Die Überreste seiner Kameraden, die sich langsam über dem Feuer drehten.
Es half nicht gerade, dass sie köstlich rochen ...
Sie werden dich essen, flüsterte eine seltsam sadistische Stimme in seinem Kopf. Sie werden dich dort runter bringen, dich aus deinem Panzer schälen und dich aufspießen wie ein Schwein. Ein Langschwein. Vermutlich werden sie dir noch einen Apfel ins Maul schieben, wenn sie ...
Sein geistiges Gebrabbel versiegte, als sie den Fuß der Rampe erreichten, denn dort, auf der anderen Seite des Feuers, knieten Tank, Rottenführer Metzner und sogar Lochmann. Lebendig. Sie sind lebendig! Der Umstand, dass sie bis auf ihre Thermalunterwäsche nackt waren, hauchte Siegfried jedoch kein sonderliches Vertrauen ein. Dennoch, sie waren am Leben und er war nicht mehr alleine. Unter diesen Umständen, konnte er sogar über die anschuldigen Blicke hinwegsehen, die ihm Metzner und vor allem Tank zuwarfen. Er schniefte kleinlaut. Es war ja nicht so, als hätte er an seiner Flucht die komplette Schuld – er wäre schließlich geblieben, um Tank zu retten, seine Beine hatten jedoch ganz andere Pläne gehabt.
„Uff!" Einen Moment später knallte er mit der Grazie eines gepanzerten Kartoffelsacks zu Boden, was ihm die Luft aus den Lungen trieb. Mutanten scharten sich augenblicklich um ihn und fingen an, ihm die Rüstung vom Leib zu reißen. Siegfried verhielt sich ganz still, was dem rationalen Teil seines Gehirns – dem Teil, der sich gerade nicht dem Beten und Wimmern hingab – ermöglichte, eingehendere Beobachtungen anzustellen.
Einer seiner Peiniger hatte den gedrungenen Körperbau und die langen Arme eines Zwerges, sowie einen widerlich verkrusteten Bart, der ihm bis auf die breite Brust reichte. Die Gestalt neben ihm wies offensichtliche Strahlungsmutationen auf, was sich in zu vielen Fingern und Augen – alle milchig weiß – bemerkbar machte. Und wieder ein anderer wäre wohl anhand der großen spitzen Ohren als Elf durchgegangen, wenn nicht für den massigen Körperbau und die fleischigen Tentakel, die aus seiner Brust wucherten.
Siegfried erschauderte. Er wusste, dass diese körperlichen Eigenheiten etwas Wichtiges zu bedeuten hatte. Die Erkenntnis, was es war, floh jedoch einen Moment später kreischend und mit den Armen um sich schlagend in den hintersten Winkel seines Verstandes.
Mein Gott ...
Ein Riese näherte sich ihnen aus der Dunkelheit des hinteren Gewölbes. Trotz seiner immensen Größe und Masse, bewegte er sich absolut geräuschlos. Wie ein gewaltiger Weißer Hai, der aus den Tiefen des Ozeans auf ihn zu glitt. Die Kreatur war mit Leichtigkeit doppelt so groß wie ein Mann und vermutlich zehn Mal so schwer. Nichts, das so gewaltig war, sollte dazu in der Lage sein, sich so leise zu bewegen. Der Boden hätte unter seinem Schritt zittern sollen, so wie es Siegfried tat, so wie die Flammen zitterten, welche den Schatten immer mehr Details entrissen.
In der Alten Welt hatte es einst einen grünhäutigen Comic-Mutanten mit dem Namen Hulk gegeben – dieses Ding sah aus wie sein größerer, gemeinerer Bruder. Unglaublich muskulös und kompakt, zeigte sich kein Gramm Fett an ihm. Enorme Muskelstränge arbeiteten unter der bleichen, von Adern überzogenen Haut wie Bündel dicker Stahlkabel. Spitze Knochen- und Hornauswüchse schoben sich hier und da durch das Fleisch und ließen ihn noch mehr wie einen wandelnden Berg aussehen. In seiner Rechten hielt er eine enorme Axt, deren runde Klinge ihre Existenz scheinbar als Kanaldeckel begonnen hatte. Die Waffe wog vermutlich mehr als Siegfried, doch das Ungeheuer handhabte sie mit beängstigender Leichtigkeit.
Noch ehe er sich versah, wurde Siegfried an den Armen gepackt und zu seinen Kameraden geschleift. Mit Ausnahme von Metzner, der den Koloss hasserfüllt anstierte, hatte jeder scheinbar genauso die Hosen voll wie er. Eiskalter Schweiß rann in Bächen über seinen Körper und Magensäure kitzelte immer wieder sein Rachenzäpfchen und hinterließ einen bitteren Geschmack in seinem Mund. Er hatte in seinem Leben noch nie solche Angst gehabt. Sein Herz hämmerte nicht nur, es zitterte, und wenn seine Knie nicht so weich gewesen wären, hätte er vermutlich versucht zu fliehen. Er hätte niemals gedacht, dass man so viel Furcht verspüren konnte, ohne gleichzeitig daran zu sterben.
„Haltet euch bereit, Männer", flüsterte Metzner.
Siegfried ignorierte ihn. Er konnte gar nicht anders, zu gebannt, von dem Fleischgletscher, der einige Meter vor ihnen zum stehen kam. Ein Zyklop. Musste einer sein. Der Unhold hatte nur ein Auge. Ein riesiges, milchig-blasses Auge. Siegfried hätte schwören können, dass es blind war, und doch schien das Ding zu sehen – und sein Blick gefiel ihm überhaupt nicht. Da war mehr als nur ein bisschen Hunger und noch etwas anderes, dass er nicht einzuschätzen vermochte.
Wie auf einen lautlosen Befehl eilte einer der Mutanten auf den Riesen zu und überreichte ihm ein knusprig gebratenes, menschliches Bein: in seinen Prankenhänden, wirkte es kaum größer als eine Truthahnkeule. Schartige Zähne, die Siegfried an einen Schaufelbagger erinnerten, senkten sich in das Fleisch und rissen einen großen Brocken heraus. Blutiger Fleischsaft rollte über sein Kinn und tropfte auf die Kette aus Menschenschädeln darunter. Das Monstrum kaute langsam und bedacht, während es sie nachdenklich mit seinem tellergroßen Zyklopenauge anglotzte.
„Jetzt!", schrie Metzner.
Plötzlich brach die Hölle aus und seine Kameraden sprangen brüllend auf die Beine um die Mutanten mit Schlägen und Tritten zu bearbeiten. Ein letzter verzweifelter Akt der Auflehnung oder zumindest ein Versuch, heldenhaft zu sterben. Ohne den bewussten Entschluss gefasst zu haben, war Siegfried plötzlich auf den Beinen und kämpfte ebenfalls.
Gott verdamme sein Training als Thorianer!
Sie kämpften mit der Inbrunst von Männern, die nichts mehr zu verlieren hatten ... und scheiterten kläglich. Nur Metzner gelang es, einem der Mutanten ein großes Fleischermesser zu entreißen und ihm damit die Kehle durchzuschneiden. Während Siegfried und die anderen brutal niedergeknüppelt wurden, warf Metzner sich herum, brüllte „Für Walhalla!" und stürmte auf den titanischen Anführer der Mutanten zu.
Der Koloss machte keine Anstalten sich zu verteidigen, beugte sich sogar herunter, wie um Metzner ein besseres Ziel zu bieten. Der bullige Truppführer stieß einen gellenden Kampfschrei aus, umklammerte das große Messer mit beiden Händen und rammte es dem Koloss in die Brust.
Die riesige Axt fiel zu Boden und ihr Knall hallte unnatürlich laut und mit seltsamer Finalität durch das Gewölbe. Für einen winzigen Augenblick wagte Siegfried zu hoffen – dann schnellte die Hand des Mutanten vor und legte sich um den Kopf des Truppführers und hob ihm mit spielerischer Leichtigkeit hoch. Sie konnten jetzt auch die Klinge sehen. Metzner hätte genauso gut versuchen können, eine Betonwand zu erdolchen: Das Messer war nicht einmal einen Zentimeter tief eingedrungen.
Trotz allem war noch immer Kampfeswillen in Metzner. Er schlug und trat wild um sich, jedoch ohne Erfolg. Siegfried erwartete jeden Moment, das Knacken seines Schädels zu hören und dann das unausweichliche Pop, als dieser unter der immensen Kraft des Mutanten kollabierte. Nichts von dem geschah. Stattdessen warf der Koloss das halb gegessene Bein einem anderen Mutanten zu und brach Metzner das Schlüsselbein mit dem geradezu beiläufigen Druck seines Daumens. Der Koloss hatte dabei augenscheinlich nicht weniger Schwierigkeiten, als er es hätte, ein Streichholz zu zerbrechen.
Der Kampfeswille wich schnell aus Metzner und als der Mutant in losließ, war ihr Anführer so gut wie bewusstlos. Wie zuvor zwang man sie, sich in einer Reihe niederzuknien, wobei jeder dank der neu erhaltenen Verletzungen ächzte und stöhnte. Siegfried war von einem der bleichen Monstren die Nase gebrochen worden und Blut rann über sein Gesicht und tropfte auf die große Mjölnir-Tätowierung auf seiner Brust. Der Hammer Thors in Blut getaucht ... Die Bedeutung schien mehr als nur ein bisschen ominös und Siegfried schickte ein Stoßgebet an jeden Gott, der zuhören mochte. In so einer Situation sollte man ja besser nicht wählerisch sein.
Eine schiere Ewigkeit verstrich in Schweigen. Niemand sprach, erst Recht nicht ihre Häscher, was Siegfried mehr verängstigte, als alles andere. Hunderte blinder Augen waren nun auf sie gerichtet, selbst die vielen Spinnen, die sich in den Netzen hoch über ihren Köpfen tummelten, beäugten sie schweigend.
Ein gefühltes Zeitalter später wurden die gebratenen Menschenteile auf Motorhauben gewuchtet, die man zu riesigen Tellern umgeformt hatte. Zu ihrem erstaunen, wurde eine davon vor ihnen abgestellt. Für einen grässlichen Moment dachte Siegfried, sie sollten davon essen, doch als er nach einer gebratenen Hand reichte bekam er einen deftigen Schlag gegen den Hinterkopf. Seine Kameraden starrten ihn mit einer Mischung aus Abscheu und Entsetzen an. Siegfried schmollte, so dass seine vorgeschobene Unterlippe zitterte. Sollten sie doch! Er würde seine eigene Hand essen, um hier lebend herauszukommen – und zwar roh und von seinem Arm. Er rieb sich seinen brennenden Nacken. Dennoch war er noch nie so erleichtert gewesen, eine Schelle bekommen zu haben.
Eine Prozession aus Tellerträgern formte sich und der riesenhafte Anführer bedeutete den Thorianern, dass sie den Teller aufnehmen sollten. Einfacher gesagt als getan. Sie alle waren verwundet und vom Knien auf dem Betonboden waren ihre Beine fast taub, dennoch schafften sie es mit viel Ächzen und leisen Fluchen irgendwie den Motorhauben-Teller auf ihre Schultern zu hieven und den anderen zu folgen. Der Geruch des gebratenen Fleisches war geradezu übermächtig und ließ ihm zu Siegfrieds Grauen das Wasser im Mund zusammen laufen. Er schluckte schwer, versuchte nur durch den Mund zu atmen und die verkohlten Zehen samt Bein zu ignorieren, die er vor der Nase hatte. Mehrere Mutanten mit Fackeln flankierten sie und leuchteten ihnen den Weg, als sie tiefer in diese unterirdische Kathedrale schritten.
Es war in dieser Dunkelheit, dass er es zum ersten Mal hörte.
Atem.
Schwerer, keuchender Atem. Rasselnd. Unheimlich. Krank. Der Atem eines siechenden Titanen. Er wurde lauter und schwerer, je tiefer sie in die Dunkelheit schritten und schon bald spürte Siegfried ihn. Mal blies er ihnen ins Gesicht, mal sog er an ihnen ... Selbst die Fackeln tanzten ihn den asthmatischen Brisen hin und her. Siegfrieds Herz raste, sein Kopf erfüllt von den Bildern der Drachen, die im Großen Krieg der Schrecken der Lüfte waren und er verzweifelte. Vor diesem Drachen würde es kein Entkommen geben. Es dauerte nicht lange, bis sie auf die ersten abgenagten Knochen trafen, die hier und da herumlagen. Schon bald konnte man nicht gehen ohne auf einen zu treten. Gebeine barsten unter ihren nackten Füßen. Es war, als wateten sie durch ein Ozean aus Knochen.
Die meisten davon waren menschlich ...
Siegfrieds Kameraden waren ein Spiegelbild seiner selbst: Angstschweiß perlte über blutige, von Grauen verzerrte Gesichter. Selbst dieser zähe Hund Metzner sah aus, als würde er gleich umkippen. Tank fing an zu beten, verstummte jedoch sofort wieder. Worte hatten keinen Platz in dieser Dunkelheit.
Das Knirschen der Knochen und das immer lauter werdende Röcheln zerrten an Siegfrieds Nerven, bis er das Gefühl hatte, er müsse schreien. Er stand kurz davor – und zur Hölle mit den Konsequenzen – als die fauligen Böen sich mit einem anderen Geruch mischten. Das Miasma von heißem Schweiß, von Verwesung und bitterem Honig hüllten ihn ein. Der Geruch war ... lieblich.
Siegfried fand dies verstörender als alles andere.
Sie schritten weiter und schon bald schälte das züngelnde Fackellicht etwas aus der Dunkelheit. Er hielt es zuerst für einen Geröllberg, wurde jedoch schnell eines besseren belehrt, denn dieser Berg bewegte sich. Er atmete. Dinge wuselten über ihn. Dinge, mit zu vielen Augen; Augen die im Schein der Fackeln funkelten, wie Sterne in der Nacht. Eine weitere siedende Böe umspielte sie und der Geruch nach bitterem Honig war geradezu berauschend. Der Geruch brachte Bilder mit sich. Erinnerungen, lange vergraben und vergessen. Siegfried sah seine Mutter vor sich. Sie lächelte auf ihn herab und ihre blauen, tränengefüllten Augen waren gütig und voll von Liebe. Ihre Stimme brach fast, als sie ihm ein Wiegenlied vorsang.
Mutter ...
Er hatte seine Mutter nie gekannt. Kein Thorianer kannte seine Eltern. Sie waren Waisenkinder oder wurden kurz nach der Geburt von ihren Erzeugern getrennt. Walhalla 23 war die Mutter der Thorianer, der Odin ihr Vater, dennoch liefen nur Momente später dicke, heiße Tränen über Siegfrieds Wangen. In diesem Moment wusste er – mehr als alles andere – dass seine Mutter ihn geliebt hatte.
„Mutter", murmelte Tank und sie alle sahen sich einen Moment später erschüttert an.
Die Wahrheit stand in ihren weit aufgerissenen Augen: sie alle hatten an das gleiche gedacht, hatten das gleiche gefühlt.
Fackelschein fraß sich durch die Schatten und Oberschenkel dick wie Eisenbahnwagons schälten sich aus der Finsternis, dann immense Hüften, ein gewaltiger Bauch – und riesige Brüste. Was da vor ihnen Gestallt annahm, war das fleischgewordene Ebenbild einer Venusfigurine, einer Fruchtbarkeitsgöttin aus den Anfängen der Menschheit. Mächtig wie die Erde, schrecklich wie die See und so wunderbar wie das Leben selbst.
Der betörende Geruch der Göttin war nun so stark, dass es all seiner Willenskraft bedurfte, sich nicht vor ihr niederzuwerfen. Nur der Umstand, dass dabei das Mahl dieser Göttin in den Schmutz fallen könnte, hielt Siegfried zurück. Das durfte auf gar keinen Fall geschehen! Er wollte, musste sie glücklich machen. Nichts war wichtiger. Nichts konnte wichtiger sein.
Die ersten Träger stellten die enormen Teller vor der Göttin ab, verbeugten sich und eilten lächelnd davon. Sie lächelten ... und wer konnte es ihnen verdenken? Siegfried grinste von Ohr zu Ohr. Tank. Lochmann. Metzner. Sie alle strahlten das göttliche Wesen vor sich an, zitterten geradezu vor nervöser Aufregung, als sie ihren Teller vor den untergeschlagenen Beinen abstellen durften.
Mittlerweile konnte Siegfried auch erkennen, was über ihr bleiches, göttliches Fleisch krabbelte. Spinnen. Hunderte von Spinnen. Einige mit Körpern kaum größer als Eier, andere fast so groß wie sein Kopf. Spinnlinge. Kinder. Ein Teil von Siegfrieds Verstand schrie in Entsetzen, als ihm aufging, das die Arachniden das aufgedunsene Fleisch der Göttin zu ihrer Heimat gemacht hatten: sie krochen aus verpuppten Öffnungen im Fleisch, wuselten zwischen den Fettrollen herum... Der Großteil von Siegfrieds Wesen war jedoch mit einer ganz anderen Empfindung erfüllt: Neid. Brennender, verzehrender Neid. Er wollte ihr ebenfalls so nahe sein, auch wenn ein immer leiser werdender Teil seines Verstandes vor Grauen schrie.
Siegfried war das egal. Alles war egal. Alles außer ihr.
Sie türmte über ihm wie ein Haus und verströmte ein Gefühl der Sicherheit und Wärme, wie er es nie in seinem Leben gekannt hatte. Der Atem stockte ihm, als sie sich herabbeugte und die Fackeln zum ersten Mal ihr Gesicht beleuchteten.
Es war das Schönste was Siegfried je gesehen hatte ...
Der Kopf war so hoch und breit wie Siegfried groß war, aufgedunsen, jedoch noch immer weiblich. Eine Mähne aus silberweißem Haar fiel auf ihre Schultern. Lippen rot wie frische Wunden lächelten ihn an. Silberne Augen glänzten im Fackelschein, wie Zwillingsmonde in der Nacht.
„Wunderschön", flüsterte Lochmann, wozu Siegfried nur dümmlich nicken konnte.
Während die Thorianer sie anhimmelten, reichte die Göttin aus und bediente sich von den Tellern. Ein ganzer Torso verschwand in ihrem Mund. Als sie zubiss, platzte dieser einer enormen Kirschtomate gleich und versprühte seine Innereien. Siegfried war der grässliche Anblick jedoch egal. Die Göttin lächelte zufrieden und das war alles was er brauchte, um glücklich zu sein.
Das wundervolle Wesen labte sich und sie alle beobachteten sie dabei, glücklich, in ihrer Nähe zu sein. Siegfried merkte, dass er weinte und keiner wehrte sich, als sie vor die Göttin geführt wurden, nachdem diese ihr Mahl beendet hatte. Sie beugte sich zu ihnen herab und lächelte. Ein riesiger Finger deutete auf Metzner und der Truppführer wurde vor das majestätische Wesen gebracht. Siegfried und die anderen warfen ihm neidvolle Blicke zu, schrien vor Enttäuschung fast auf, als die Göttin sich vorlehnte und eine ihrer gewaltigen Brüste über Metzner brachte. Mit einer Mischung aus Grauen und Neid musste Siegfried mit ansehen, wie sich ein großer Tropfen Milch aus dem geschwollenen Nippel löste und in Metzers Rachen verschwand. Das Gesicht ihres Anführers wirkte verzückt, als er von zwei Mutanten in die Dunkelheit geschleift wurde.
Dreckiger Glückspilz...
Als nächster wurde Tank vor die Göttin geführt und die Prozedur wiederholte sich. Ein alles verzehrender, kranker Neid erfüllte Siegfried, als der große Mann stöhnend niederging, kaum da er sich vom göttlichen Nektar genährt hatte. Lochmann war der nächste und als zuletzt Siegfried vor die Göttin gebracht wurde, schlug sein Herz so wild, so voller Erwartung, dass er meinte, es würde jeden Moment platzen. Er stand unter dem riesigen Nippel und starrte mit irrsinnigem Verlangen auf den enormen Milchtropfen, der über ihm glänzte, fast so, als wollte er ihn necken. Siegfrieds gesamte Realität konzentrierte sich auf diesen einen Tropfen, so nah, und doch so fern ...
Komm schon. Komm schon!
Der Tropfen fiel ein gefühltes Zeitalter später und es war der glücklichste Moment seines Lebens, als er auf seine Zunge traf. Die Milch schmeckte ranzig und sauer, war stellenweise dick wie Quark und kleine Dinge zappelten darin, doch all das kümmerte Siegfried nicht. Denn in dem Moment, da die Milch seine Kehle hinunterrann, kannte er zum ersten Mal in seinem Leben Liebe.
Wahre Liebe ...
Die Liebe einer Mutter für eines ihrer Kinder.
Er sank zu Boden, ohnmächtig von Glück und erfüllt von absoluter Zufriedenheit. Er nahm kaum war, dass er in einen kleinen, dunklen Raum gebracht wurde. Hier bettete man ihn auf Stein und Stunden voll mit Pein und Wonne wandelten sich zu Tagen. Er schrie nicht ein einziges Mal, als sein Körper sich veränderte, als seine Muskeln sich verdickten, als Knochen brachen und sich neu formten. Die Pein war immens, doch die Liebe ... ihre Liebe war immer da. Wärmend. Heilend. Sie brannte seine Vergangenheit hinfort wie Sonne den Morgennebel. Sein Leben in Walhalla 23, sein Auftrag, den Prototypen des Archetype Projekts zurückzubringen, die Angst, die ihn sein ganzes Leben erfüllt hatte, seine Feigheit ... alles wurde hinfort gebrannt.
Und Siegfried genoss es zu brennen.
Die Dunkelheit, die ihn umgab lichtete sich in diesem Feuer. Er konnte sehen ohne zu sehen und ein Sammelsurium aus veränderten Sinnen tauchte die Welt in neue Farben und Empfindungen. Stimmen, die keine waren, erfüllten seinen Verstand. Das Gemurmel und Geflüster seiner Geschwister erfüllte ihn und über allem, wie der lieblichste Sirenengesang, erklang die Stimme ihrer Mutter.
Seine Mutter ...
Siegfried war endlich glücklich und zufrieden, denn schließlich hatte er gefunden, was er sein Leben lang vermisst hatte: Eine Mutter und eine Familie. Eine echte Familie. Die Welt war zwar immer noch voll von Monstern, doch das war in Ordnung.
Schließlich war Siegfried nun eines von ihnen ...
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