Farewell

Anskar gaffte den blutigen Haufen Waffen vor ihm im Schnee an: zwei abgebrochene Speere, über ein halbes dutzend Messer in unterschiedlichen Größen, zwei Hackbeile, eine Machete und sogar eine kleine Axt, die man ihm in den Rücken getrieben hatte. All das hatte in ihm gesteckt ...

„Wie in einem verdammten Nadelkissen", murmelte Anskar.

Seine Wunden schlossen sich bereits und bluteten kaum oder gar nicht. Es war fast, als hätte sein Organismus während des Kampfes eine Art innere Haut um die Fremdkörper gebildet, um Blutverlust zu minimieren. Morbide fasziniert, hatte er sogar einen Finger in eine seiner Verletzungen gelegt. Der Wundkanal hatte sich wie heißes Leder angefühlt: rau und seltsam trocken. Eine andere Erklärung war, dass sein Körper kein – oder fast kein – Blut mehr innehatte. Ein Umstand, der durch den Hunger, der in seinen Eingeweiden brannte, nur noch unterstützt wurde. Anskar fand beide Optionen gleichsam verstörend. Es war ein kleiner Trost, dass sein Kopf mit jeder verstreichenden Minute klarer wurde. Auch die Welt sah nicht mehr aus, als würde sie jeden Moment zerfließen.

Cannibal Jones warf ihm den schwarzen Umhang des großen Thorianers zu. „Säubern. Ankleiden. Tarnen."

Der Vernarbte sah an sich herunter und verzog das Gesicht. „Ob sich das noch lohnt?"

Sein Mantel und der Rest seiner Kleidung sahen aus, als hätte man ihn zusammen mit jeder Menge Messern in eine Tonne gepackt und dann einen Berg heruntergerollt. Nichtsdestotrotz folgte er den Anweisungen des Kriegscyborgs, jedoch mit mäßigem Erfolg. Nach ausgiebigem Schrubben mit dreckigen Schneematsch war sein Gefechtsmantel zwar mehr schmutzig als blutig, der Rest seiner Kleidung war jedoch noch immer blutdurchtränkt. Er stank vermutlich wie eines der Güllebecken und dachte kurz darüber nach einem der Aspiranten seiner Kleidung zu berauben, verwarf den Gedanken jedoch schnell. Das letzte was er jetzt noch brauchte waren Läuse. Auch der Cyborg hatte die Zeit nicht ungenutzt verstreifen lassen und sich „Stadtfein" gemacht. Er stank noch immer wie ein eine drei Wochen alte, in Rohöl ersoffene Leiche, doch wirkte nun weit unauffälliger. Und zudem deutlich kleiner.

Anskar musterte ihn, die Stirn gefurchten. „Bist du geschrumpft?"

Ein metallisches Surren kam von den Beinen des Kriegscyborgs und er wuchs auf Anskars Augenhöhe, bevor er sich wieder verkleinerte. Cannibal zupfte an seinem Schal, um den massiven Unterkiefer zu verbergen. „Tarnen und Täuschen."

„Hmm", brummte Anskar, nickte und hob Leonora so behutsam er konnte auf, wiegte sie in seinen Armen, so dass ihr Kopf auf seiner Schulter ruhte. Er schluckte schwer, warf dem Leichnam von Theodor einen letzten Blick zu und murmelte, „Mach's gut, Theo. Ich ..." Er stockte, biss die Zähne zusammen und wandte seinen Blick ab, als die Welt sich verklärte. „Mach's gut, Kumpel. Mach's gut."

Anskar sah sich nach den Körpern der Zwillinge um. Es dauerte einen Moment, bis er sie unter den anderen Leichen gefunden hatte. An Denny gewandt meinte er, „Gute Reise, Bro – und gib deinem dämlichen Bruder einen Tritt von mir, ok?"

Für einen Moment schloss er die Augen und versuchte den Gefühlen, die in ihm tobten Herr zu werden. Es war nicht richtig seine Kameraden auf diesem widerlichen Schlachtfeld zurückzulassen. Bei all dem Lärm den sie gemacht hatten, würde es vermutlich nicht mehr lange dauern, bis die Aasgeier dieser Stadt ihren Mut fanden und zum Plündern kamen. Vermutlich würde am nächsten Morgen nur noch der blutige Schnee auf das Massaker hinweisen, dass sich hier zugetragen hatte. In Unterwaagen wurde schließlich nichts verschwendet ... Aber was hatte er schon für eine Wahl? Wie als Antwort, begann der Kragen um Anskars Hals zu piepsen – ein Wink mit dem Zaunpfahl von Cannibal Jones, dass es Zeit war zu gehen.

Keine. So simpel war die Antwort.

Keine.

Anskar wand sich vom Schlachtfeld ab und der Cyberzombie führte ihn im Schnellgang durch die Gassen und Hinterhöfe des Schlachtviertels. Das Tempo das der Kriegscyborg vorlegte, brachte Anskar in seinen geschwächten Zustand schnell an den Rand seiner bereits erschöpften Reserven. Sein Atem ging schwer und Hunger und Schmerz nagten unentwegt an ihm. Er war fast erleichtert, als Jones einen Halt rief. Dann wurde ihm jedoch klar warum.

Zeit für den Abschied.

„Leonora Hagen. Sicherer Unterschlupf lokalisiert", erklärte Cannibal Jones.

Anskar starrte ihn entgeistert an. „Das ... Das kann nicht dein Ernst sein!"

„Adäquates Versteck. Abgelegen. Warm. Innentemperatur: 15 Grad – konstant."

Anskar war sich nicht sicher, ob das Ding versuchte einen Scherz zu machen. „Aber ... Scheiße, das ist ein verdammter Misthaufen!"

„Dekomposition. Wärme. Überlebenschancen 90 %."

Anskar drückte Leonora enger an sich. Sein Kiefer verkrampfte sich, als sein Blick über den großen, teilweise mit einer schwarzen Plastikplane abgedeckten Misthaufen wanderte, der leicht in der Bodensenke vor sich hin dampfte. Bis jetzt waren sie noch keiner Menschenseele begegnet, was nicht viel heißen mochte. Ein Teil von ihm wünschte sich sogar, dass jemand sie sah und Leonora zu Hilfe kommen würde, doch ein anderer Teil fragte sich, was dieser jemand mit einer bewusstlosen Frau anfangen würde.

Unterwaagen war kein Ort der gütigen Samariter.

Anskar fixierte den Cyberzombie mit seinem Blick. „Wenn ... Wenn ihr irgendetwas zustößt werde ich dich töten."

Cannibal musterte ihn kalt und emotionslos. „Unwahrscheinlich."

„Können wir nicht—" begann Anskar. Ein Warnton von seinem Sklavenhalsband ließ ihn wissen, dass ihr Argument am Ende war – und dass er verloren hatte. „Schon gut, schon gut!" knurrte der große Mann und stieg in die Misthaufengrube.

Es war in der Tat merklich wärmer hier, über dem Gefrierpunkt, doch alles in ihm schrie danach sich dem Kopfgeldjäger entgegenzuwerfen und Leonora dies hier zu ersparen. Doch kein Plan der ihm einfiel endete mit einem Ergebnis, bei dem sie beide mit dem Leben davon kamen. Anskar legte Leonora so sanft er konnte auf dem stinkenden Heu ab. „Nicht gerade drei Sterne, aber wenigstens wirst du es warm haben. Ich weiß doch, wie verfroren du bist."

Er beeilte sich und schaufelte mit den Händen eine Kuhle frei, um das wärmere Material darunter frei zu legen. Es war ihm ein kleiner Trost, das der Gestank erträglicher war als erwartet, wenn auch nicht viel. Nach getaner Arbeit bettete er Leonora auf ihr verrottendes Nachtlager.

Er schüttelte sein vernarbtes Haupt. „So hätte ... So hätte ich mir unser Ende nicht vorgestellt", sagte er zögerlich, überrascht wie schwer die Worte ihm über die Lippen kamen. „Nicht gerade was man sich als Abschluss einer leidenschaftlichen Romanze vorstellen würde, nicht wahr?"

Er versuchte seine Worte leichthin klingen zu lassen, erstickte jedoch fast daran. Die Erkenntnis, dass er Leonora vermutlich niemals wieder sehen würde löste eine Flut von Erinnerungen und Gefühlen in ihm aus, die drohte ihn davon zu spülen. Er schloss die Augen, als Szenen an seinem inneren Auge vorbeirauschten, zu schnell, als dass er mehr als einen flüchtigen Eindruck gewinnen konnte.

Er saß in einem Zug und blickte durch eine regennasse Scheibe auf einen Bahnsteig, sah Freunde und Familie, die ihm zuwinkten – nicht wenige mit Tränen in den Augen. Kurz darauf saß er in einer Zelle mit stählernen Wänden, die bedeckt waren mit Namen. Alle geschrieben in Blut. Die Szene wechselte wieder und er saß in einem kleinen schäbigen Apartment und starrte auf das Handy in seiner Hand. Er lächelte, als er den Absender der Nachricht sah: Angelina. Ein Ruck und er war an einem anderen Ort, gefangen in einem gläsernen Sarg, der sich und dann seine Lungen langsam mit Schleim füllte. Blaue Augen begleiteten ihn in die Dunkelheit. Im nächsten Moment hielt er seine Liebste im Arm, spürte wie sie sich an ihn klammerte. Wieder sah er diese blauen Augen, sah den Schmerz darin. Damals hatte er die Trauer in ihnen nicht erkannt, jetzt konnte er sich ihr gegenüber nicht verschließen. Weitere Bilder und Eindrücke rauschten an ihm Vorbei, eine Existenz komprimiert zu einem Sandkorn in der Zeit. Alle hatten dieselbe Resonanz.

Einsamkeit. Abschied. Verlust.

Doch das war nicht alles. Zwischen den Splittern seiner Vergangenheit tanzten auch Momente des Glücks und der Zweisamkeit, die er mit Leonora in den letzten Wochen erleben durfte. Ihr von der Sonne liebkostes Gesicht, als sie ihn in der Einöde des Harzes glücklich angrinste. Ihr erstes Treffen im Labor aus dem sie ihn gerettet – oder wohl eher entführt hatte – und das schlecht überspielte Glucksen, als er den Kittel den sie ihm zugeworfen hatte mit dem Gesicht fing. Ihr erster Kuss in dem verfallenen Jagdschloss. Ihre erste Liebesnacht ...

Es war fast zu viel um es zu ertragen.

Wie so oft ließ der Ansturm aus Erinnerungen ihn zitternd und mit einem Gefühl der Übelkeit zurück. Tränen hatten sich in seinen Augen und kalter Schweiß auf seiner Stirn gesammelt und Anskar brauchte kostbare Sekunden, bis er sich wieder gefasst hatte.

„Vielleicht ... Vielleicht ist all das ja für das Beste", murmelte er, als er Leonora mit zitternden Fingern liebevoll über die Wange strich. „Mit mir aus dem Weg, wirst du ein besseres ...", er stockte, nicht in der Lage weiter zu sprechen und setzte noch einmal an. „Ein sichereres Leben führen können. Ohne Sorge, ob diese Bastarde aus Walhalla uns hinter der nächsten Ecke auflauern."

Er sah über den Rand der Grube und auf zu den verfallenen Gebäuden, die um sie herum auftürmten. „Du wirst das hier überleben, hörst du? Du kannst an diesem Ort glücklich werden." Er strich ihr eine rote Strähne aus dem blutverklebten Gesicht und spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. „Wirst schon zurecht kommen", sagte er schwach und küsste sie sanft auf die Stirn. Er lächelte, obwohl der Gedanke sie zu verlieren sich wie Säure in seine Seele brannte. „Treib es nicht zu wild und pass auf dich auf, ok? Keine Freaks mehr wie diesen Benedikt. Dafür bist du zu gut."

Sein Sklavenhalsband piepste und ließ Anskar unmissverständlich wissen, dass Cannibals Geduld sich dem Ende näherte. Zorn flammte kurz in ihm auf, wurde jedoch schnell von dem Gram in seiner Brust ertränkt. Er drehte sich langsam um und sah den Cyberzombie mit traurigen Augen an. „Gib mir... gib uns nur noch einen Moment. Bitte."

Kameraaugen surrten im Schatten der Kapuze. Das Piepen verstummte.

Anskar nickte dem Cyberzombie knapp zu, schälte sich aus seinem zerschlissenen Mantel und breitete ihn behutsam über Leonora aus. Danach begann er Lagen dreckigen Heus über sie zu schaufeln und zog die schwarze Plane herunter, bis nur noch ihr Gesicht frei lag.

Widerwillig musste er lachen. Tarnen und Täuschen.

Er küsste Leonora auf die Lippen und flüsterte, „Ist vielleicht sogar besser so. Wer weiß, sonst verliebe ich mich noch in dich und du brichst mir irgendwann das bisschen Herz, das ich noch habe." Er grinste schief, schniefte und murmelte liebevoll, „Verlogenes Miststück, du." Er starrte sie einen langen Moment an und strich ihr ein letztes Mal über die Wange. „Vergiss mich nicht", sagte er traurig, drehte sich um und stieg aus der Grube und aus ihrem Leben.

Es war eine kleine Gnade, dass er die Tränen, die nach seinen Worten aus Leonoras Augen sickerten nicht mehr sah.


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(;′⌒')

Ich weiß, ich weiß ... in letzter Zeit, müsst ihr (und unsere Helden) ganz schöne Schicksalsschläge hinnehmen. :/ Erst Theo und jetzt das hier ... 

Schickt mal viel positive Energie. Wer weiß, vielleicht hilft es ja das Jones eine Sicherung oder sowas durchbrennt. *Fingers crossed*

Wie ihr gemerkt habe bin ich auch mal wieder sehr spät dran euch zu antworten, aber ich hab die nächsten Tage etwas Zeit und werde mich bemühen das aufzuarbeiten. 

M.

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