Dead City Central
Nicht lange nach ihrer brutalen Begegnung mit der Arachniden-Brut hallte das Rauschen eines schnell fließenden Gewässers zwischen den zerfallenden Häuserreihen wieder.
Leonora schickte ein Stoßgebet zum Himmel. „Fast da. Könnt ihr den Fluss auch hören?"
Anskar nickte lediglich, doch Theodors Gesicht hellte sich bei ihren Worten merklich auf. Der kleine Mann richtete seine verbogene Brille. „Ich hätte niemals gedacht, dass sich nach unserer Albtraumflussüberquerung tosendes Wasser noch einmal so schön anhören kann. Hoffen wir mal, dass es diesmal nicht radioaktiv verseucht ist ..."
„Ich weiß gar nicht, was du willst", sagte Anskar und grinste schief. „Wir hatten doch einen bärenmäßigen Spaß."
Sowohl Leonora als auch Theodor starrten ihn mit unverhohlener Mordlust an, was den großen Mann nur umso breiter grinsen ließ. Ein Grinsen, das beinahe von Ohr zu Ohr ging, was nur teilweise an den Narben lag, die sich von den Mundwinkeln über seine Wangen streckten. Ein Andenken des Räuberadeligen, das auch der frische Bartwuchs nicht, oder zumindest noch nicht, verbergen konnte. Sie beschleunigten ihre Schritte, begierig, diesen Leichnam von einer Stadt endlich hinter sich zu lassen, stoppten jedoch als sich die Nebelschwaden unverhofft vor ihnen teilten und das Ziel ihrer langen Reise offenbarten.
Die Wolkenstadt Waagen, krude und majestätisch zugleich.
Gelegen an einem gewaltigen Kliff und umspielt von einem schnell fließenden Fluss, thronte die Festungsstadt über den Ruinen. Selbst von ihrer Position aus waren die vielen Gebäude der Kolonie zu sehen. Sie zogen sich Schulter an Schulter die sanft ansteigenden Kämme des Hügels hinauf, bis zu einem massiven, mittelalterlichen Schloss mit spitzen Türmen – fast wie eine gewaltige Krone, die über allem ragte. Die feinen Ohren des Sukkubus konnten sogar Stimmen und das allgemeine Tohuwabohu einer lebenden Stadt ausmachen. Zahlreiche Lichter waren überall zu sehen und zwar nicht nur der flackernde Schein von Flammen, sondern auch das beständige Glimmen von Lampen.
„Könnt ihr das auch sehen?" sagte Leonora. „Elektrizität! Sie haben wirklich Elektrizität."
„Gott sei Dank!", stieß Theodor hervor und wahrlich, lange hatte Leonora ihn nicht mehr so grinsen sehen. „Ich dachte, ich würde die Annehmlichkeiten der Zivilisation nie wieder spüren. Weißt du, was das heißt? Warmes Wasser! Warmes, sauberes Wasser! Und Essen! Echtes Essen und nicht nur diese grässlichen MRE Packs!"
„Haltet mal lieber den Ball flach, ihr zwei Optimisten und spitzt die Ohren", brummte Anskar und beäugte die Häuserreihen misstrauisch. „Sonst landen wir bestenfalls noch im Kochtopf von irgendwas."
Leonora hüstelte gekünstelt ein „Stimmungskiller" in die Hand, was jedem ein Lächeln abrang, sagte jedoch nichts mehr. Sie eilten schweigend weiter, begierig, Waagen noch vor Einbruch der Nacht zu erreichen. Bald schon fanden sie ihren Weg jedoch von weiteren silbernen Fäden versperrt.
„Scheiße", fluchten Anskar und Lenora wie aus einem Mund, was ihnen einen tadelnden Blick von Theodor einbrachte, den sie beide geflissentlich ignorierten. Dies war der dritte Brutbau den sie seit ihrem Zusammentreffen mit den achtbeinigen Ungetümen entdeckt hatten und keiner wollte den blutigen Kampf wiederholen.
Sie mieden das Hindernis, zwangen sich, ruhig und bedacht weiterzugehen, auch wenn der Tag sich unweigerlich zur Nacht wandelte. Dunkelheit würde schon bald über die Ruinen fallen und der Gedanke, bis dahin noch keinen Ausweg gefunden zu haben erfüllte die drei mit mehr als nur ein bisschen Sorge.
Schweigend bahnten sie sich ihren Weg über Hinterhöfe und Seitenstraßen, immer in Sichtweite ihres Ziels, so nah und doch so fern. Es war fast so als würde Waagen sie mit seiner Nähe necken. Schon bald konnten sie auch den beeindruckenden Festungswall besser erkennen: Mauern, nicht nur aus Stein, sondern auch Metall trennten die Stadt vom Umland und ragten jenseits des schnell fließenden Flusses in die Höhe.
Theodor blieb wie angewurzelt stehen. „Nora, spinne ich oder bestehen die Wälle wirklich aus Schrott?"
„Du siehst schon richtig", erwiderte der Sukkubus. „Scheinbar haben sie die Stadtmauern aus Beton- und Asphaltblöcken, sowie alten Automobilwracks gebaut."
Anskar nickte anerkennend. „Primitiv, aber effektiv."
Theodor schüttelte sich. „Es sieht so ... so unordentlich aus."
Schiefe Wachtürme erhoben sich in regelmäßigen Abständen vom Bollwerk und schon jetzt patrouillierten Männer mit Sturmlampen dessen Länge. Die Gefährten eilten weiter, das Licht des Tages fast erloschen, umrundeten ein Gebäude – und fanden den Weg frei.
Der Vernarbte drehte sich mit einem Grinsen zu seinen zwei Gefährten. „Endspurt Leute."
Sein Enthusiasmus erhielt jedoch einen Dämpfer, als schon bald eine Reihe dunkler Schemen aus dem Nebel aufragte. Anskar hob seine Faust und die Hände der Gefährten schlossen sich fester um ihre Waffen. Sie näherten sich schweigend und Leonoras Augen weiteten sich, kaum da sie ein paar Schritte näher heran waren.
„Pfähle", flüsterte sie. „Das ... Das sind Pfähle mit ... mit aufgespießten Köpfen."
Der barbarische Anblick schnürte dem Sukkubus die Kehle zu. War Waagen nichts weiter als ein weiterer Hort des Grauens, voll von menschenverachtenden Bestien, wie der Rest des Niemandslands, durch das sie sich gekämpft hatten? Es wäre die ultimative Ironie, der absolute Betrug. Sie näherten sich den tief in den Boden getriebenen Stangen vorsichtig. Es wurde ihnen jedoch schnell klar, dass dies keine menschlichen Schädel waren. Sie waren zu groß, zu massiv, zu monströs.
„Was zum ...", flüsterte Theodor. „Was sind das für Dinger?"
Leonora schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Vielleicht Veränderte? Jedoch keine wie ich sie schon mal gesehen habe."
„Mutanten", sagte Anskar und ließ seinen Kopf nachdenklich zur Seite fallen. „Irgendwie kommen sie mir jedoch bekannt vor. Ich glaube ich hab mal einen Film mit ähnlich hässlichen Bastarden gesehen. Irgendwas mit einer Zeitmaschine und Kannibalen, die in lichtlosen Tunneln unter der Erde hausten und Menschen von der Oberfläche entführten."
Leonora musste ein Schaudern unterdrücken. Auch sie kannte diesen Film, hatte ihn als Kind gesehen – und hassen gelernt. Sie hatte tagelang Albträume gehabt und zu ihrem Schrecken erinnerten sie diese Dinger tatsächlich an die Monstren ihrer Kindheit.
Die mit Eis überzogenen Häupter sahen vage menschlich aus, waren jedoch breiter und massiver, mit einem Mund voll schartiger, fast pferdeähnlicher Zähne. Die Lippen waren permanent gefletscht und sogar noch im Tod in einem Ausdruck brachialer Wildheit eingefroren. Die meisten hatten keine Ohren oder Nasen, nur Löcher und Schlitze, wo diese sein sollten. Viele hatten nur ein einziges Auge, und dieses war groß und weiß wie ein gekochtes Ei, ihre Haut blass und von bläulichen Adern durchzogen.
Theodor schluckte schwer und versuchte seine offensichtliche Angst mit Humor zu überspielen. „Nun, wenigstens ist Anskar jetzt nicht mehr das hässlichste Monster ... Ähm, ich meine natürlich, der hässlichste Kerl, den ich je gesehen habe."
Der große Mann grinste. „Touché, Gartenzwerg. Touché."
„Warum ... Warum glaubt ihr hat man sie hier aufgestellt?", sagte Leonora.
„Ich kann mir denken warum", meinte Anskar und drehte sich zur Ruinenstadt um. „Sie sind eine Warnung. Mein Bauch sagt mir, die Spinnen sind nicht die einzigen Bewohner dieses Lochs."
Das alte Wernigerode wirkte mit einem Mal noch finsterer und feindseliger, die gähnenden Fenster wie Augen, die sie boshaft anstarrten. Der Moment war so unheilschwanger, dass Theodor fast aus der Haut fuhr, als plötzlich das ominöse Heulen einer Fliegersirene die Luft erfüllte. Die Gefährten fuhren herum. Das Jaulen kam von Waagen.
„Kommt", sagte Anskar und warf einen letzten Blick auf den dicker werdenden Nebel, der die verfallenen Häuser umspielte. „Ich habe mit einem Mal ein ganz mieses Gefühl."
Theodors schweres Schlucken war sogar noch über das Heulen der Sirene vernehmlich. Die Gruppe eilte weiter, angetrieben von einem beklemmenden Gefühl der Dringlichkeit, die Sonne wenig mehr als ein schnell schwindender heller Fleck am östlichen Horizont. Sie fanden den Grund jenseits der grässlichen Wegbegrenzer frei von Geröll und Vegetation – ein gut hundert Meter breiter Streifen von hier bis zum rauschenden Fluss.
Anskar wand sich um. „Haltet Abstand und tretet nur da hin wo auch ich hintrete. Das hier ist eine Todeszone. Keine Deckung, nichts wohinter man sich verstecken könnte. Würde mich auch nicht wundern, wenn sie hier Minen ausgelegt haben."
„Minen?!", keuchte Theodor und blieb wie angewurzelt stehen.
Leonora zog ihn weiter und warf Anskars breitem Rücken einen vorwurfsvollen Blick zu. „Anskar macht nur Spaß. Komm, Theo! Hier gibt's keine Minen."
Beide achteten jedoch peinlichst darauf, immer nur in seine Fußstapfen zu treten.
Das Tosen der Zwillingswasserfälle, die sich zu beider Seiten von Waagen hunderte Meter in die Tiefe stürzten, wurde beständig lauter und schon bald schälte sich eine am Fluss entlanglaufende Straße aus dem Weiß.
„Stark befahren", murmelte Anskar. „Da sind Spuren im Schneematsch, sollte also sicher sein."
Wie um seine Worte Lügen zu strafen, offenbarten sich ihnen jedoch ebenso weitere Hinweise darauf, dass Waagen vielleicht nicht das erleuchtete Utopia war, das zu finden sie gehofft hatten.
„Oh Gott – Scheiße! – wo habt ihr mich nur hingebracht?", flüsterte Theodor, als sie die Uferstraße entlangeilten.
Hoch über ihnen baumelten schwere Eisenkäfige mit frostüberzogenen Insassen von alten Straßenlaternen. Die Käfige waren zu schmal als dass ihre Insassen sich je hätten hinsetzen können um die Pein in ihren Beinen zu lindern – ein Umstand, der sich deutlich in ihren schmerzverzerrten Gesichtern abzeichnete. Eine schwarze Krähe pickte am gefrorenen Augapfel einer relativ frischen Leiche und musterte die drei unverhohlen, als diese vorbeieilten.
Leonora wand ihren Blick ab. „Barbarisch."
„Kannst du erkennen was auf dem Schild unter dem Käfig steht?", fragte Anskar.
„Ja." Sie runzelte die Stirn. „Da steht Vergewaltiger, glaube ich. In Deutsch, Englisch, Russisch und einigen Sprachen die ich nicht kenne."
Anskar nickte grimmig. „Kein schlechtes Zeichen. Die Herren der Stadt wollen wohl sicher gehen, dass Besucher wissen, worauf sie sich hier einlassen. Vorzeitige Warnung und gerechte Strafe."
Leonora schüttelte den Kopf. „Gerechte Strafe? Jemanden so qualvoll krepieren zu lassen? Das ist unmenschlich. Es hätte bestimmt andere Möglichkeiten gegeben!"
Der große Mann schüttelte den Kopf. „Das hier ist nicht Walhalla 23, Nora. Du hast gesehen, wie es dort draußen zugeht. Besser ein Hauch von Zivilisation als gar keiner."
„Zivilisation?", äffte Theodor. „Bei meinem Bolzenschneider, habt ihr diese – Scheiße! – Rechtschreibfehler nicht gesehen? Zwei Fehler. In einem Wort! Zwei! Vergewaldiga. Wirklich? Und in Englisch steht: Rapper! Man sollte diesen Vergewaltiger der Sprachen gleich mit aufhängen!"
Sie passierten weitere Käfige und jedes Mal ließen die mit diversen Körperflüssigkeiten verkrusteten Schilder darunter sie wissen, was der Insasse des Käfigs verbrochen hatte. Einige hielten sogar Piktogramme. Die Schilder lauteten: Mörder, Sklavenhändler, Marodeur und auch Menschenfresser – meist falsch geschrieben.
„Mörda", murmelte Theodor immer wieder. „Mörda! Diese Sprachschänder haben tatsächlich Mörda geschrieben. Unfassbar!"
Leonora sah seine übertriebene Entrüstung jedoch als das, was es war: ein Schutzmechanismus. Sie konnte es ihm nicht verdenken, nicht nach allem was sie durchgemacht hatten, um diesen Ort zu erreichen. Sie selbst musste um Beherrschung kämpfen, insbesondere als sie sah, dass es sich beim Insassen des letzten Käfigs um einen Veränderten handelte. Was für einen konnten sie nicht sagen, da von der Leiche wenig mehr als ein Skelett übrig war – ein Skelett mit Raubtierzähnen.
Anskar musterte Leonora besorgt. „Alles ok?"
Der Sukkubus nickte. „Ja ich ... Nun ja, zumindest wissen wir jetzt, dass es auch Veränderte in der Stadt gibt. Die Strafen sind zwar drakonisch, doch wenigstens ... wenigstens scheinen auch Monster hier willkommen zu sein."
„Hey!" begehrte Theodor auf. „Wieso darfst du das M-Wort benutzen und ich nicht?"
„Is halt so ..."
Theodor schnaubte.
Das Heulen der Fliegersirene schickte einmal mehr sein Klagelied über das Land aus. Ihm folgte das Klirren und Klatern von Metall und die Gefährten sahen kurz darauf etwas ausgesprochen Seltsames. Das hintere Ende von etwas, das wie ein LKW-Schwerlasttrailer aussah, erhob sich nur knapp einhundert Meter weit entfernt aus dem Nebel. So unerwartet war der Anblick, dass die drei einen Moment verwirrt innehielten.
Theodors Augen weiteten sich. „Eine Zugbrücke! Das ist eine Art Zugbrücke!"
Anskar fluchte. „Und das verdammte Ding wird hochgezogen. Kommt, gebt Gas! Arme und Beine ergeben eine rotierende Scheibe! Kommt! Kommt!"
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Hey Leute!
Ich hoffe, dass etwas verspätete Update hat euch gut gefallen. Ich hab die Leipziger Buchmesse wie ihr sehen könnt auch gut überstanden. Ok, ich hab sie überstanden. Insgesamt fühle ich mich wie jemand, den man in eine Waschmaschine gesteckt hat, diese dann angezündet und den Himalaya heruntergetreten hat. Total Klasse, quasi. :P
War echt schön und ich denke ich werde die nächsten Tage - oder beim nächsten Update - auch einige meiner Eindrücke mit euch teilen.
So, jetzt aber wieder zurück zum Abenteuer unserer Drei. Was denkt ihr geht da ab? Was hat es mit den Köpfen auf sich? Werden sie es schaffen, die Zugbrücke noch zu erreichen bevor alle Schotten dicht sind oder müssen sie sich mit den Spinnen des alten Wernigerode zusammenkuscheln.
Was denkt ihr?
M.
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