Die Mutter aller ...

Die Zeit streckte sich wie Melasse, als Anskar mit weit ausgestreckten Armen durch die Luft flog, sein ganzer Wille darauf fixiert, den Felsvorsprung zu erreichen, der bis vor Sekunden noch das Ende der Brücke markierte. Er musste diesen Abhang erreichen. Er musste! Nichts konnte wichtiger sein. Doch so stark sein Verlangen auch war, die Realität war gegen ihn. Er würde es nicht schaffen. Zumindest nicht ganz und die Erkenntnis ließ ihn in Verzweiflung aufschreien.

Er hämmerte bäuchlings auf das Gestein und irgendetwas in seinem Brustkorb gab mit einem widerlichen Knacken nach. Der Aufprall riss ihm die Taschenlampe aus der Hand und sein Atem explodierte, als rote Wolke aus den Lungen. Blut, heiß und metallisch, füllte seinen Mund. Sterne tanzten vor seinen Augen. Für einen Moment, der sich in die Ewigkeit zu strecken schien, konnte er sich nicht bewegen, nicht atmen. Kraftlos begann er über den Rand und in den wurmgefüllten Abgrund zu gleiten. Als sein Fleisch ihm wieder gehorchte, war es fast zu spät.

Seine Finger gruben sich panisch in den Dreck, schabten über Gestein, bestrebt, dem fauligen Orkus zu entkommen. Zähne knirschten gegeneinander, brachen fast, als drei Fingernägel jäh aus ihrem Bett gerissen wurden. Er hieß den Schmerz willkommen, denn irgendwie fand er Halt. Blut spuckend und hustend zog er sich über den Rand, ergriff Leonoras fallengelassene Taschenlampe und richtete sie in die Dunkelheit und auf das Ding, das seine Gefährtin angegriffen hatte.

„Mein Gott ..." flüsterte er.

Das Ungetüm, eine grässliche Mischung aus Spinne und Skorpion, war riesig, hatte sägeartige Greifklauen, gleich den Armen einer Gottesanbeterin und ein einzelnes, weißes Spinnenauge, über einem Holzhäcksler von einem Maul. Acht lange Beine, ein jedes gut zwei Meter lang, ragten aus einem baumstammdicken, segmentierten Rumpf, der übergangslos in einen aufgequollenen, kugelrunden Hinterleib überging. Organe und weißliches Blut pumpten und pulsierten hinter dem glasartigen Chitin-Panzer. Anskar konnte sogar die kabelstrangartigen Muskeln arbeiten sehen, als das Ding sich bemühte, Leonora zu einem Loch in der Höhlenwand zu schleifen.

Bleiche Knochen und unverdaute Häute von Albinowürmern lagen wie gebrauchte Kondome um den Eingang der Höhle verstreut, doch augenscheinlich war diese Kost alleine für das Monstrum nicht genug. Einen Moment später verstand Anskar auch warum, als er Dutzende Embryo-Spinnlinge träge in der gelatineartigen Flüssigkeit des aufgeschwollenen Hinterleibs treiben sah. Anskar schüttelte es bei dem Gedanken, was passieren würde, sollte diese grässliche Brut jemals aus ihrem Mutterleib brechen.

Der Vernarbte rechnete fest damit, dass die Kreatur ihn jeden Moment angreifen würde, doch zu seiner Überraschung schenkte sie ihm nicht die geringste Beachtung. Sie schien nur daran interessiert zu sein, ihre Beute so schnell wie möglich in den Bau zu schleppen. Die dolchartigen Mandibeln zuckten dabei unablässig, fast wie geschäftige Finger, so als könnte das Biest es kaum erwarten, sein Mahl zu beginnen. Ein Mahl, das sich nicht mehr bewegte.

„Nora!"

Sein gutturaler Schrei zerriss die Stille und ließ das grässliche Wesen innehalten. Das Gesicht zu einer Maske namenloser Wut verzerrt, rollte sich Anskar auf die Füße und stürmte auf die Bestie zu. Getrieben von Schmerz und Hass, sah er sich im Geiste bereits dabei, wie er dem Ding langsam die Beine ausriss und dessen Brut unter seinen Stiefeln zerquetschte.

Rache!

Die Mantis-Spinne zeigte jedoch keine Furcht. Ohne natürliche Feinde waren ihr Gefühle dieser Art unbekannt. Sie brachte ihre acht langen Beine unter sich und richtete sich defensiv über Leonora auf, so dass sie sich auf Augenhöhe mit Anskar befand. Ihre Klauenarme hielt sie vor sich wie ein Boxer. Die Ähnlichkeit zu einer menschlichen Kampfstellung war so verblüffend, das Anskar schlitternd zum Stehen kam.

Sein Reflex rettete ihm das Leben.

Mit einer Geschwindigkeit, die er dem aufgeblähten Biest nicht zugetraut hätte, hechtete die Mantis-Spinne vor und attackierte ihn mit einem horizontalen Klauenhieb, der Anskar enthauptet hätte, wäre er weiter gerannt.

„Fuck!", fluchte Anskar und ließ sich zwei Schritte zurückfallen, die Hände in Abwehrhaltung erhoben. Die abscheuliche Brutmutter folgte ihm jedoch nicht, bewachte lediglich ihre Beute und schien zufrieden mit ihrem Fang.

„Miststück!", zischte Anskar.

Er zwang sich zur Ruhe und sah sich nach etwas um, das er als Waffe benutzen konnte, um den Reichweitenvorteil der Bestie auszugleichen. Sein Blick fiel auf einen großen Stein, halb vergraben im Dreck.

Er bückte sich und riss den Brocken mit aller Kraft aus dem losen Erdreich. Er taumelte überrascht zurück, denn der Stein war sehr viel leichter als erwartet. Er blickte ihn verwirrt an. Ein fleischloser Schädel stierte ihm grinsend entgegen. Haare, Haut und Fleisch waren bis auf die Knochen abgenagt und ein Loch im Hinterkopf verriet, was mit dem Gehirn geschehen war. Wer auch immer der Tote war, Anskar hoffte, dass sein Geist ihm gewogen war, als er den Schädel mit aller Kraft auf das zyklopische Auge der Bestie schleuderte.

Er hatte gut gezielt.

Der grinsende Schädel raste wie eine Kanonenkugel auf die kauernde Bestie zu, die keinerlei Versuch machte, dem provisorischen Geschoss auszuweichen. Der Vernarbte setzte zu einem Siegesschrei an: vor seinem geistigen Auge sah er das Auge platzen wie ein rohes Ei. Sein Ausruf erstarb ihm jedoch auf den Lippen, als die Kreatur den Schädel beiläufig beiseite fegte. Er zerschellte mit einem trockenen Knacken an der Wand.

„Miststück!" brüllte Anskar.

Erzitterte vor Wut, und die Sorge um Leonora machte ihn fast wahnsinnig. Panischsah er sich nach einer neuen Waffe um. Der Strahl seiner Taschenlampezerschnitt die Dunkelheit, doch er sah nichts außer Knochen und kleinerenSteinen.

Dann huschte das Licht seiner Lampe über einen Stützpfosten, dem einzigen Teil der Brücke, der nicht mit in den Schlick gefallen war. Wenig mehr als eine rostige Stahlstange, eingelassen in einen Klumpen Beton, sah das Stück Schrott für Anskar jedoch aus wie das heilige Schwert Excalibur selbst.

Die Frage war nur, würde er es aus dem Erdreich ziehen können, bevor die Mantis-Spinne Leonora in ihren Bau verschleppte? Ein schleifendes Geräusch ließ Anskar herumfahren und er sah, dass die Mantis-Spinne wohl einen ähnlichen Gedanken hegte. Wie ein Einbrecher, den man in flagranti erwischt hatte, hielt die Kreatur inne und verharrte. Der Anblick war fast komödiantisch. Sie hatte im Schutz der Dunkelheit versucht, Leonora näher an ihr Nest zu ziehen, und war nur noch wenige Meter davon entfernt.

Es ging um alles oder nichts.

„Waaaagh!", schrie Anskar und tat so, als würde er zu einem erneuten Sturmangriff ansetzen, was die Mantis-Spinne in ihre schützende Position schnellen ließ. Er grinste, klemmte sich die Taschenlampe zwischen die Zähne, drehte sich um und rannte zu dem Brückenpfosten. Angetrieben von der Vorstellung, dass Leonora einen schrecklichen Tod sterben könnte – falls sie nicht schon tot war – schlossen sich seine Hände um den mit Rost befleckten Stahl. Er zog mit der Kraft der Verzweiflung. Wieder musste er an die Excalibur-Legende denken, in der nur die Würdigen die heilige Klinge aus ihrem steinernen Gefängnis ziehen konnten. Anskar schien nicht dazu zu gehören, denn die Stange ließ sich keinen Millimeter aus dem Beton ziehen.

Der Klumpen Beton aus dem Erdreich hingegen schon.

Die provisorische Waffe kam mit einem Sprühregen aus loser Erde frei. Anskar verschwendete keine Sekunde. Er drehte sich um, schockiert zu sehen, dass die Spinne nur noch knapp zwei Meter von ihrem schützenden Bau entfernt war.

Nein!

Den provisorischen Streitkolben fest in beiden Händen stürmte er los. Wie zuvor brachte sich die Mantis-Spinne schützend über Leonora in Stellung und Anskar betete, dass sie diesen Moment nicht nutzte, um ihre Angriffstaktik zu ändern.

Sie tat es nicht – und in dem Moment, als der gewaltige Arachnid hervor schnellte, schlug Anskar mit aller Kraft zu. Seine Waffe war unausgewogen, kopflastig und glitschig, doch sie war auch mächtig und der schwere Betonklotz würde seine Arbeit tun, solange er nur traf.

Und das tat er.

Das Biest zischte durch die Luft wie ein gliederfüßiger Kanonenball – und wie einen Ball fegte Anskar es beiseite und schmetterte es in die naheliegende Höhlenwand. Das Brechen der Chitinplatten war Musik in seinen Ohren, die kreischenden Töne, die das Biest ausstieß, Engelsgesang.

Mit tiefer Befriedigung sah er den Schaden, den er angerichtet hatte. Der linke Greifarm der Bestie endete in einem gezackten Stumpf, und zwei Beine hingen zuckend und gebrochen herab. Eine zähe, durchsichtige Flüssigkeit quoll aus mehreren Bruchstellen entlang des segmentierten Körpers; selbst der ballonartige Hinterleib hatte Schaden genommen. Schleim troff aus einer Quetschwunde des Brutsacks und tote Spinnen-Embryos trieben bewegungslos in der Geleeartigen Flüssigkeit.

Er schickte sich an, nachzusetzen, als ihn eine Bewegung zu seinen Füßen erstarren ließ.

Was zum ...?

Angewidert stellte Anskar fest, dass eines der Spinnlinge durch den Angriff aus dem Brutbeutel gerissen worden war und einen knappen Schritt von ihm entfernt auf dem Boden herum zappelte. Es gelang der kleinen Bestie, einen Moment später auf die Beine zu kommen und es nahm umgehend dieselbe Kampfposition ein, die Skar bei dem Muttertier gesehen hatte. Seine kleinen Greifarme zuckten herum wie die Fäuste eines lächerlich winzigen Boxers.

„Das soll wohl ein Witz sein?!", nuschelte Anskar an der Taschenlampe in seinem Mund vorbei und spielte mit dem Gedanken, das Vieh in die Grube hinter ihm zu fegen. Dann jedoch kam ihm ein besserer Gedanke. 

Die Taschenlampe wie eine Zigarre zwischen den Zähnen, rief er: „Hey Mutterschiff!"

Die Mantis-Spinne, gerade wieder auf die Beine gekommen, wandte sich ihm zu und Anskar trat vor – direkt auf das kreischende Jungtier, das unter seinem Stiefel barst wie ein mit Schleim gefüllter Luftballon.

Diese Provokation blieb nicht unbeantwortet.

Das Muttertier katapultierte sich mit unerwarteter Geschwindigkeit auf ihn zu. Für einen Moment zweifelte er an seinem Plan, dann ließ er sich nach hinten fallen und hielt seine provisorische Waffe schützend vor sich. Als die Mantis-Spinne auf seine ausgestreckten Stiefel knallte, geschah dies mit genug Wucht, um ihn in den Boden zu pressen. Er grunzte, leitete die Wucht der Attacke um, streckte beide Beine durch und schleuderte das Monster in hohem Bogen über sich hinweg – jedoch nicht, bevor die Brutmutter nicht selbst etwas Schmerz austeilen konnte.

Anskar schrie, als sich die Sensenklaue von seiner Stirn, über die Augenhöhle und die rechte Wange zog, wobei ihm die Taschenlampe aus dem Mund gefegt wurde. Der Schmerz war im Einklang mit seinen verletzten Rippen wie ein glühend heißes Eisen – und doch hieß er ihn willkommen. Schmerz war der Preis des Sieges und das Platschen, das er kurz darauf hinter sich hörte, war eines der schönsten Geräusche, das er jemals vernommen hatte.

Eine bleierne Schwere überkam ihn, als er sich auf die Beine rollte und nach seiner Taschenlampe griff – nur mit Mühe schüttelte er sie ab und konzentrierte sich auf das panische Plätschern aus der Wurmgrube. Seine Betonkeule fest in beiden Händen, machte er einen vorsichtigen Schritt nach vorne und spähte über den Rand. Das Untier war mit dem Rücken voran im Morast aufgekommen und seine langen Beine zuckten wild auf der Suche nach etwas, in das sie sich krallen konnten. Doch da war nichts. Sie versank schnell und ihre Panik beschleunigte den Prozess nur.

Für Anskar ging es jedoch nicht schnell genug.

Ein kaltes Lächeln huschte über seine blutverschmierten Züge, als sein Blick über seine Waffe glitt. Er wog den kalten Stahl in den Händen, nickte der Mantis-Spinne zu und murmelte: „Fang."

Dann schleuderte er die provisorische Waffe auf seinen Gegner.

Der weiche Unterbauch hatte dem Betonklotz nichts entgegenzusetzen. Er durchschlug ihn wie eine dünne Eisschicht, zerquetschte und zerriss Organe und Eingeweide. Die Gegenwehr der Mantis-Spinne erlahmte, doch sie zuckte und zitterte weiterhin, als das Gewicht der Waffe sie wie einen Anker tiefer in ihr lichtloses Grab zog. Anskar trat vom Rand der Grube weg, als der Schlick mit seinen weißen Würmern sich wie eine Decke über sie breitete, bis nur noch die Spitzen der Beine emporragten.

Dann wandte er sich zu Leonora um.

Sie lag da, wie die Mantis-Spinne sie zurückgelassen hatte, die Augen starr und blicklos.    


*********************************

Nora ... (;′⌒')



Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top