Des Himmels Eingeweide

Wartungstunnel 33

Walhalla 23 

28.10.2158, 03:13 Uhr, Ehemaliges Deutschland


Wenige Minuten später führte Leonora sie einen schmalen Seitentunnel entlang, an dessen Ende sie ein vertikaler Schacht in die Eingeweide von Walhalla 23 führte. Für Anskar fühlte es sich an wie ein Übertritt in eine andere Welt. Eine dunkle, verfallene Welt aus Tunneln, Rohrleitungen und alten Schächten, die allesamt so aussahen, als wären sie mit Hacke und Schaufel in den Berg geschabt worden. Leonora leitete sie durch vergessene Korridore, vollgestellt mit allerhand Schrott und Gerümpel.

Die Beleuchtung war schlecht; die meisten Lampen, an denen sie vorbeikamen, flackerten oder hatten ihren Dienst quittiert. Schmale Wartungsschächte bogen immer wieder von ihrem Tunnel ab und streckten sich wie Finger in die Dunkelheit. Das enorme Gewicht des Berges war hier unten sehr präsent mit seinen unzähligen Tonnen Gestein und Erdreich und tränkte die abgestandene Luft. Es bedurfte nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, bei einem Tunneleinbruch lebendig begraben zu werden. Anskar war dankbar für die Stabtaschenlampe, die Leonora ihm gegeben hatte, und es graute ihm bei dem Gedanken, dieses unterirdische Labyrinth alleine und ohne Licht durchwandern zu müssen.

„Ist hier unten schon mal jemand verloren gegangen?", fragte Anskar in der Hoffnung, Leonora würde seine Sorgen entkräften.

„Ja", meinte sie ernst. „Einige wurden nie wieder gefunden."

Anskar schluckte schwer und blickte sich nervös um. Der Tunnel, in dem sie sich befanden, schien noch vergessener zu sein als die, durch welche sie bisher gekommen waren. Kabel und Rohre wanden sich wie Wurzelwerk über ihren Köpfen, Spinnweben aller Art und Größe hingen in unregelmäßigen Abständen von der Decke und die Luft war abgestanden und schal wie der Atem eines alten Mannes. Die Luft wurde wärmer und trockener, je weiter sie vorankamen. Auch das Brummen und die Vibrationen im Gestein nahmen mit jedem Schritt zu, bis sie allgegenwärtig waren.

„Leo— Nora? Was hat es mit dem Brummen auf sich?"

„Was du hörst und spürst, kommt von den Generatoren und Maschinen auf dieser Ebene", erklärte sie ihm. „Walhalla verfügt über einen Atomreaktor, eine Wasserturbine und eine Geothermieanlage. Hinzu kommen noch Abwasseraufbereitung, Recycling und ein dutzend anderer Anlagen, deren Ausläufer alle hier unten liegen. Wir wandeln sozusagen durch die Gedärme Walhallas. Wie zwei Parasiten – nicht, dass es hier nicht schon genug davon geben würde."

Wie um ihre Worte zu bekräftigen huschte kurz darauf etwas Bleiches und Hässliches durch das Licht ihrer Lampen und verschwand in einem Spalt in der Wand, um sie aus dessen Sicherheit mit glitzernden Augen zu beobachten. Anskar hatte solches Getier schon vorher bemerkt und hielt die Kreatur zuerst nur für eine Ratte – doch er fand seinen Eindruck korrigiert, als Leonora sich bückte und die Spalte mit grellem Schein flutete. Er sah den segmentierten Rücken eines Albino-Tausendfüßlers; das Ding war so dick und lang wie der Arm eines Babys.

Anskar wich umgehend von dem Spalt weg. „Verdammte Axt!"

„Hässliche Viecher, nicht wahr?", sagte Leonora, erhob sich und ging weiter.

Anskar schüttelte sich und folgte ihr. „Sollten die Dinger nicht kleiner sein?"

„Mutationen. Die Vibrationen und die Wärme der Anlage ziehen sie an."

„Sind sie gefährlich?"

„Ich würde nicht auf sie treten wollen. Ihr Biss ist schmerzhaft. Einige sind auch giftig. Seit dem Beben, das die große Spalte freigelegt hat, sehen wir immer mehr von ihnen."

Anskar schüttelte sich und folgte ihr grimmig. „Unterirdische Bunker. Monster. Verrückte Wissenschaftler... und jetzt auch noch riesige Insekten. Da hast du mich ja in eine schöne neue Welt aufgetaut."

Leonora antwortete nicht und erst nach einigen Sekunden wurde ihm klar, dass er unabsichtlich gerade ihren Vater beleidigt hatte.

Toll gemacht. Am besten sagst du ihr noch, dass der Overall sie fett macht.

Der Vernarbte widerstand jedoch dem Impuls, sich zu entschuldigen, und folgte Leonora schweigend, bis sie in eine große, von dutzenden Säulen gestützte Halle kamen. Es war der größte Raum, den Anskar bis jetzt gesehen hatte; ein Wald unter dem Berg. Doch erst als sie näher heran waren, erkannte er, dass das, was er für Stützsäulen gehalten hatte, nichts anderes war als gewaltige Sprungfedern.

„Beeindruckend", meinte Anskar und ließ eine Hand über eine der Sprungfedern gleiten. Das Metall war so dick wie sein Arm.

„Das ist eine von vielen Feder-Hallen", meinte Leonora. „Sie stützen und balancieren Walhallas Superstruktur – ein Schutz gegen Erschütterungen durch Erdbeben und Bomben."

Anskar nickte und sah sich mit großen Augen um.

Wenig später gelangten sie an ihr erstes echtes Hindernis. Gedämpfte, in eine Unterhaltung vertiefte Stimmen hallten aus der Dunkelheit vor ihnen, welche kurz darauf von einer sich bewegenden Insel aus Licht erhellt wurde. Zwei Männer kamen in Sicht: ein Thorianer in schwarz glänzendem Körperpanzer und ein Wartungstechniker in grauem Overall. Anskar reagierte sofort und huschte in den Schatten eines Tunnels zu seiner Linken.

Kurz darauf richtete sich ein Kegel Licht auf Leonora und eine Stimme rief: „Nora? Bist das du?"

Die junge Frau schattete ihre Augen ab und antwortete: „Thomas?"

„Jo!" Die Lampe des Wartungstechnikers senkte sich und offenbarte ein jungenhaftes Gesicht unter einem blonden Bürstenschnitt. Eine große Brille, deren Brücke mit Tape zusammengehalten wurde, thronte auf einer langen Nase. „Was machst du denn hier, Nora?"

Leonora schlenderte mit einem Lächeln auf dem Gesicht auf das Duo zu. „Das gleiche wie immer", meinte sie leichtherzig. „Es gibt viel Arbeit für die ‚Königin der Unterwelt'."

Thomas lachte und sie gab ihm eine kurze Umarmung. Der Sicherheitsmann würdigte Leonora nur mit einem Nicken und starrte sie misstrauisch an. Anskar roch Ärger und strengte sich an, ihre Unterhaltung zu belauschen, doch in dem allgegenwärtigen Brummen der Maschinen konnte er nur wenig verstehen.

Das angespannte Warten wurde noch unerträglicher, als der Thorianer begann, in eine Art Funkgerät zu sprechen, seine Augen voller Skepsis. Anskars Fäuste ballten sich. Leonora schien jedoch unbesorgt und plauderte unterdes mit Thomas.

Eine Berührung an seinem Fuß ließ Anskar beinahe aufschreien. Etwas Langes und mit zu vielen Füßen krabbelte über seinen Stiefel. Er versteifte sich. Alles in ihm schrie danach, auszutreten und das Ding weg zu schleudern, doch aus Angst, seine Gegenwart zu offenbaren, ließ er es über sich ergehen.

Schweiß trat ihm auf die Stirn, als das Ding sein Bein ein Stück weit hoch krabbelte. Er fühlte ein Knabbern an seiner Hose, das den Stoff nicht ganz durchbeißen konnte und bereitete sich mental darauf vor, das Ding zu greifen und entzwei zu reißen. Als hätte die Kreatur seine Gedanken erahnt, hörte es auf und siedelte an die nahe Wand über, wo es mit einem fast unhörbaren Klick-Klick-Klick zurück in die Dunkelheit kroch.

Anskar wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Minuten später verabschiedete sich Leonora und kam wieder in seine Richtung, während die zwei Männer dem Gang in die entgegengesetzte Richtung folgten.

Ihr Lächeln erlosch in der gleichen Sekunde, in der sie um die Ecke kam. Wortlos ergriff sie Anskars Hand und begann, ihn in die Dunkelheit des Tunnels zu ziehen.

***

„Probleme?", fragte Anskar nachdem sie ein gutes Stück zwischen sich und ihre beiden Überraschungsgäste gebracht hatten.

„Allerdings. Das war Thomas, ein Kollege von mir, der andere war ein Thorianer. Gerüchten zufolge soll sich in diesem Sektor eine illegale Protein-Farm befinden und die beiden suchen danach. Das heißt, wir müssen einen Umweg nehmen, um ihnen den Weg abzuschneiden, wenn wir unseren Zeitplan einhalten wollen – und das müssen wir!"

„Eine Protein-Farm?"

Leonora nickte. „Schwarzmarkt. Nahrungsmittel sind hier unten streng reglementiert. Jeder bekommt täglich nur genau soviel Nahrung, wie er anhand seines standardisierten Kalorienverbrauchs benötigt, der sich wiederum aus Alter, Geschlecht, Körpergröße und Beruf ermittelt. Arbeiter bekommen mehr Nahrung als Techniker, die wiederum mehr bekommen als Verwaltungsmitarbeiter und so weiter. Dreizehn Prozent Körperfettanteil ist die allgemeine Norm in Walhalla."

„Das klingt super! Ihr habt also Fettleibigkeit eliminiert?"

„Super?", fauchte Leonora ihn an und fuhr herum. „Du findest es ‚super', dass andere dein gesamtes Leben reglementieren? Dir sagen, wieviel und wann du zu essen bekommst? Dass du dich so gut wie nie richtig satt essen kannst? Sie dir einen Beruf zuweisen – egal ob du ihn willst oder nicht –, nur weil ein obskures Programm kalkuliert hat, dass du in dieser Position am wertvollsten für die Gesellschaft bist?"

Anskar hob beschwichtigend die Hände und meinte: „Woah ... Das war nicht böse gemeint. Woher hätte ich das alles wissen sollen?"

Leonora funkelte ihn einen Moment länger an, dann wich alle Feindseligkeit aus ihr und sie senkte beschämt ihren Blick. „Nein. Ich ... Ist schon gut. Hunger, weißt du, Hunger ist etwas Schreckliches."

Anskar nickte, unsicher darüber, was er darauf sagen sollte, und erkannte erst in diesem Moment, dass sein eigener Hunger sich stark gemindert hatte, seitdem sie das Labor verlassen hatten. Nein, früher schon, wurde ihm klar.

Der Hunger war fort, seitdem er den jungen Mann getötet hatte.

„Komm, wir müssen weiter", sagte Leonora und zog ihn tiefer in die Dunkelheit.

***

„Finsternis! Eine Lichtbogenschranke."

Anskars Blick wanderte von der bläulich schimmernden Energiewand vor ihnen fragend zu Leonora.

„Eine elektronische Barriere", erklärte Leonora. „Siehst du die Bolzen, die in den Stein getrieben wurden? Das sind Tesla-Spulen. Pass auf, was passiert, wenn ich den Steinhier da durch werfe!"

Als der Stein dem in die Wand getriebenen Tesla-Bolzen nahe kam, schossen Blitze aus ihnen hervor und badeten den Tunnel in Kobaltblau. Geblendet wandte Anskar die Augen ab.

Leonora kaute auf ihrer Unterlippe. „Das ist schlecht, ganz schlecht. Ich glaube, wir haben unsere Protein-Farm gefunden."

„Gibt es einen anderen Weg?"

„Ja, aber das würde zu lange dauern." Sie seufzte. „Wir müssen hier durch."

„Und wie?"

„Du hast Glück, dass du einen von Walhallas besten Hackern bei dir hast. Vielleicht sogar den einzigen Hacker", meinte Leonora und krempelte die Ärmel hoch. „Das sollte nicht allzu lange dauern."

Anskars Augen weiteten sich, als die Innenseite von Leonoras rechter Hand erst zu glühen begann und dann durchscheinend wurde, um ein Computerinterface zu offenbaren.

„Was zum ...", begann Anskar. „Ist das ein ... das sieht aus wie ein Mini-Monitor."

„Ja. Nicht das Beste vom Besten, aber die meisten Wartungstechniker haben keinen Zugang zu Augmentationen, also kann ich mich nicht beklagen. Netzhautimplantate oder Cyberaugen wären natürlich besser gewesen, aber wie heißt es so schön: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Ah ... Da bist du ja, kleines Funksignal."

Ein dutzend Fragen schossen Anskar durch den Kopf, da sein Verstand mit der Technologie, die er sah, nichts anzufangen wusste, doch Leonoras angespannte Miene hielt seine Zunge im Zaum. Stattdessen stellte er sich hinter sie und beobachtete sie gebannt. Programmfenster öffneten und schlossen sich in schneller Folge auf dem Handmonitor, ohne dass Leonora auch nur einen Finger rührte. Nur ihre Augen huschten im Einklang mit dem technologischen Wunderwerk. Knapp zwei Minuten später stahl sich ein überlegenes Lächeln in ihre Züge und die Lichtbogenschranke erlosch mit einem Flackern.

Leonora grinste. „Weiter geht's!"

„Warte mal. Ich weiß zwar, dass wir es eilig haben, aber ich gehe keinen Schritt weiter, bis du mir erklärst, was gerade passiert ist", sagte Anskar.

Die Bildoberfläche auf Leonoras Hand erlosch und nahm wieder den Ton alabasterfarbener Haut an. Sie blickte Anskar verwirrt an. „Diese Technologie ist dir nicht bekannt?"

„Computer, ja. Das da", er deutete auf ihren Arm, „sieht für mich wie Science-Fiction aus ..."

Sie blickte ihn nachdenklich an und meinte: „Wenn dir kybernetische Modifizierungen wie mein MM-Palm-Comp unbekannt sind, bedeutet das, dass man dich vielleicht noch vor seiner Markteinführung eingefroren hat – oder dass du hinter dem Mond gelebt hast."

„Gehen wir mal davon aus, dass ich kein Höhlenmensch war; zu welcher Zeit wäre diese Markteinführung gewesen?"

Leonora zuckte mit den Schultern. „Das M/M Interface – Mensch-Maschine – kam irgendwann in den 2030ern auf den Markt und wurde sehr schnell sehr beliebt. Besonders in militärischen Anwendungen, weil kybernetische Modifizierungen die Kampffähigkeiten der rein menschlichen Truppen erhöht haben. Robotik und bionische Modifikationen hatten in den letzten zwanzig Jahren der alten Welt ihren großen Boom. Den goldenen Jahren des Krieges. Das ... Das waren die schlimmsten Jahre für die Veränderten: Unterdrückung, Konzentrationslager, Experimente ..."

Anskar strich sich mit der Hand über die Brust. Er konnte das Gewebe der Narben sogar noch unter den Lagen Stoff erfühlen. „Ein Puzzlestück mehr."

Leonora nickte grimmig. „Komm, wir müssen weiter. Vorsicht jetzt, wer weiß, was uns auf der anderen Seite erwartet."


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Heya. 

Ich hoffe, meine Geschichte hat euch soweit gefallen, falls ja, bitte auf den Vote Button klicken. Freue mich auch über jede Art von Feedback.

Bis bald!

Marco

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