BONUS - Die Sünden der Väter - 2
Der Leiter des Archetype-Projekts nickte Michael zu und der kleine Mann beeilte sich, das Experiment einzuleiten.
Der Odin überprüfte den Sitz seiner Krawatte und lehnte sich Hagen zu, seine Stimme ein Flüstern. „Ich würde mich sehr freuen, unseren Dialog später fortzuführen. Auch wenn nichts dabei herauskommen mag, denn wie sagt man doch so schön: Zeit, die man genießt zu verschwenden, ist keine verschwendete Zeit. Ich muss zugeben, ich habe unsere kleinen Gespräche vermisst."
Hagen grinste und war selbst überrascht, wie aufrichtig es klang. „Nur zu gerne, altes Ding." Sie lachten und für einen Moment waren sie wieder die beiden Freunde, die beschlossen hatten, das Gewicht der Welt auf ihren Schultern zu tragen – komme was wolle.
Der Augenblick verstrich, als Warnlampen überall zu flackerndem Leben erwachten und die Welt in Rot und Schatten verwandelten. Hagen rückte seine Brille zurecht, ließ seinen Blick über das Testgelände wandern und steckte seine Hände in die Hosentaschen. Es war besser, wenn Amadeus ihr Zittern nicht bemerkte.
Ein Beben ging durch eine der massiven Schleusentüren, welche die Wände des Testgeländes säumten. Hydraulische Verriegelungen lösten sich und die enorme Stahlplatte senkte sich langsam in den Grund. Das Portal war kaum verschwunden, als eine kolossale Kreatur aus dem eisig wabernden Nebel trat.
Hagen wusste, was ihn erwartet hatte, und dennoch stockte ihm der Atem, als er den Berg aus grün geschuppten Muskeln, Zähnen und Klauen sah. Wenig an der Kreatur erinnerte noch daran, dass sie einst ein Mensch gewesen war. Der Veränderte trug sich auf zwei Beinen, sah jedoch wie etwas aus, das sich auf allen Vierengenauso wohl fühlen würde. Er maß gut und gerne zweieinhalb Meter von seinen klauenbesetzten Füßen bis zum keilförmigen Echsenschädel. Eine Krone ausgezackten Knochen, die von einem gewölbten Horn dominiert wurde, spross vom Kopf, rannte in einem Kamm über den breiten Rücken und endete in einem bösartig aussehenden, stachelbesetzten Schwanz. Es dauerte einen Moment, bis das Monstrum ihn und Gruber jenseits des Panzerglases erfasste. Dann jedoch schleuderte es ihnen seinen Hass in einem langgezogenen Kreischen entgegen, welches sogar noch durch das schallgedämpfte Glas vernehmbar war.
Der Odin verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Showtime."
Der Veränderte stürmte los, vorwärts katapultiert von saurierartigen Beinen, seine schwarzen Augen voller Hunger und Zorn. Der Echsenmensch bewegte sich bemerkenswert schnell für eine so große, so massive Kreatur und Hagen musste gegen den Impuls ankämpfen wegzulaufen. Die Palladium-Vanadium-Glasstahlwand würde einem Panzerfaustbeschuss standhalten und das Wissen war beruhigend, aber dennoch taumelte er einen Schritt zurück, als die Kreatur sich wutentbrannt gegen den Glasstahl warf - und davon abprallte. Knochensplitter ihres Panzers peitschten durch die Luft und sie ging mit einem überraschten Grunzen zu Boden, wo sie für einige Momente benommen das riesige Haupt schüttelte.
„Nicht gerade das cleverste Testsubjekt, nicht wahr?", sagte Gruber und schüttelte den Kopf.
Die Glasstahlwand hatte nicht einmal einen Kratzer abbekommen.
Der Veränderte war jedoch schnell wieder auf den Beinen, riss seinen mit Zähnen überfüllten Schlund auf und brüllte erzürnt. Hagen erschauderte, als er den verrottenden Finger eines Menschen zwischen Reihen dreieckiger Zähnen stecken sah. So eingenommen war er von dem Anblick, dass er mit einem Fluch zurück schreckte, als eine gespaltene Zunge gleich der eines riesigen Frosches gegen die Scheibe klatschte. Der ätzende Klumpen Speichel, der zurückblieb, dampfte und zischte, konnte dem Glas jedoch nichts anhaben.
Der Odin grinste amüsiert. „Ein Carnifex, nicht wahr?"
Hagen räusperte sich und steckte seine Hände tiefer in die Taschen. „Ja. Der Einzige, den wir haben. Sehr zäh, sehr stark ... und sehr, sehr hungrig."
„Und sehr wütend, wie mir scheint. Das dürfte interessant werden ..."
Hagen nickte und gab den Befehl, die zweite Phase einzuleiten.
Das Tor zu einer weiteren Zelle, weit größer als die, welche den Carnifex gehalten hatte, senkte sich langsam in den Boden. Der tobende Echsenmensch bemerkte dies jedoch nicht, warf sich stattdessen immer wieder gegen das Panzerglas. Er sah den Fleisch gewordenen Alptraum nicht, der sich suchend und tastend aus den nebelverhangenen Tiefen der Zelle in das pulsierende rote Licht streckte. Einige der Tentakel die in Sicht kamen waren kaum dicker als ein Finger, andere breit wie ein Mann, doch sie alle bewegten sich mit der trägen Eleganz tanzender Schlangen. Tiefe, im Morast des Unterbewusstseins vergrabene Ängste regten sich in Hagen. Er beobachtete gebannt, wie die Fangarme sich gegen den Stahl pressten um sich dort zu verankern.
Der Moloch erwachte.
Das Portal verschwand mit einem finalen Widerhall im Boden, was den Carnifex innehalten ließ. Seine gespaltene Zunge zuckte hervor, schmeckte die Luft und nahm Witterung auf. Kurz darauf legte der Veränderte den Kopf schief, als versuchte er die neue Situation zu verstehen.
Dann weiteten sich seine schwarzen Augen und er fuhr herum, kauerte sich mit gefletschten Zähnen nieder, die Klauenhände bereit zu zerreißen und zu zerfetzen. Einen Herzschlag später taumelte die massive Kreatur jedoch erschrocken zurück und das Knochenkammgebirge auf seinem Rücken knirschte gegen das Glas.
Als wäre diese Reaktion ein Startsignal, schoss ein massives Etwas aus der Dunkelheit der Zelle, unaufhaltsam und zielstrebig. Der Carnifex brüllte, doch der Laut hielt keine Aggression mehr, nur noch Angst.
Hagen wusste, was passieren würde, und trat mehrere Schritte zurück. Er hatte es oft genug gesehen. Der Odin unterdes blieb, wo er war, und taumelte nicht einmal, als das Labor – ein mehrerer hundert Tonnen schwerer Stahlbunker – von der Wucht erschüttert wurde, mit der der Moloch den Carnifex über die Panzerglasscheibe verteilte wie ein riesiges Insekt.
Knochen brachen mit widerlichem Knirschen und grünes Blut spritzte über das Glas. Hagen war dankbar, dass das Blut ihm zumindest teilweise die Sicht nahm. Dem Moloch bei der Nahrungsaufnahme zuzusehen, war verstörend, geradezu alptraumhaft. Der Odin jedoch schlenderte unbekümmert zur Seite, zu einer Stelle, an der das Glas noch sauber war, und setzte seine Observation mit Interesse fort.
Hagen blieb, wo er war. Auch so konnte er mehr sehen, als ihm lieb war: die peitschenden Tentakel, die von Blut besudelten Klauen, Berge aus rot glitzernden Muskeln, Schlünde mit blutigen Zähnen und natürlich die Augen, diese wild rollenden, von Hunger fast wahnsinnigen Augen.
Dutzende Fenster zur Seele.
„Ein wahres Meisterwerk", sagte der Odin mit Bewunderung. „Formstufe 4, nicht wahr?"
Hagen nickte und zwang sich zu einem Lächeln. „Er ist ... schon etwas. Sollen wir fortfahren?"
„Gewiss."
Weitere Zellentüren öffneten sich und Veränderte verschiedenster Gattungen betraten das Testgelände: ein abgemagerter Ghul, der sich auf allen Vieren bewegte und hungrig um sich schnappte. Eine Elfe, so anmutig und schön, wie der Zwerg neben ihr robust und solide war. Ein geflügelter Mantikor mit dem Körper eines Löwen, dem Schwanz eines Skorpions und dem Gesicht einer jungen Frau. Ein Gesicht, das in Terror erstarrte, als es den Moloch sah.
„Morituri te salutant", flüsterte der Odin.
Die Todgeweihten grüßen dich.
Die meisten Veränderten schrien entsetzt, als sie den Moloch sahen und versuchten, in ihre Zellen zurückzuweichen, nur um festzustellen, dass man diese unter Strom gesetzt hatte. Einige kämpften gegeneinander, halb wahnsinnig vor Hunger; andere bildeten Gruppen und warfen sich dem Moloch in einer verzweifelten Offensive entgegen. Schreie erfüllten die Luft. Blut spritzte eimerweise über glänzendes Metall. Sie kämpften tapfer, doch letztlich fielen alle Testsubjekte dem Hunger des Molochs zum Opfer. Alle bis auf eines.
Hagens Hände zitterten nun sehr stark. Gruber selbst hatte das Testsubjekt bestimmt, doch niemals würde er sich verzeihen, dem zugestimmt zu haben. Seine Augen wanderten zu ihr: ein junges Mädchen in einem weißen Patientenhemd, klein und schmächtig und so unglaublich zerbrechlich mit ihren sechs Jahren. Man sah ihr den Krebs, der sie zerfraß, kaum an. Doch in Walhalla 23 war kein Platz für die Kranken, für die Schwachen, für die, die anders waren. Hagen kämpfte gegen den Kloß in seinem Hals; das Kind erinnerte ihn so sehr an eine junge Leonora. Sie wirkte so unschuldig.
Von all den Testsubjekten war sie der einzige Mensch und für das heutige Experiment von höchster Bedeutung. Sie lag in Embryohaltung auf dem Boden, halb betäubt von dem, was sie gesehen hatte und den wiederholten Stromschocks, die sie aus ihrer Zelle getrieben hatten. Hagen hatte schon viele wie sie für das Archetype Projekt geopfert: Männer und Frauen, die ihren Platz in Walhalla 23 und damit ihre Lebensberechtigung eingebüßt hatten. Einige waren krank, andere hatten gegen Walhallas Regeln verstoßen, wieder andere waren Chimära zum Opfer gefallen. Doch das hier war umso vieles unmenschlicher, denn sie würde umsonst sterben.
Nein, nicht umsonst, sagte er sich. Sie wird sterben, damit unzählige andere leben können.
Hagen biss die Zähne zusammen, wandte seinen Blick jedoch nicht ab.
Er schuldete ihr wenigstens so viel.
Es dauerte nicht lange, bis der Moloch die Leichen der Gefallenen verschlungen hatte und sich dem Kind zuwandte. Er griff jedoch nicht sofort an, sondern näherte sich ihr nur zögerlich, schlich um sie herum, während seine schwarzen Tentakel aufgebracht die Luft peitschten. Hagens Stirn legte sich in Falten. Das war unerwartet. Etwas hielt den Moloch zurück. Hunger loderte in seinen Augen, abgrundtiefer, endloser Hunger, doch Hagen sah auch etwas anderes darin.
Horror?
„Es wirkt!", hörte er eine Frau hinter sich sagen.
Hagen zuckte erschrocken zusammen, sah sich um und fand Laura, eine Freundin und Kollegin hinter sich. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass der Großteil seines Teams seine Posten verlassen hatte, um zum Observationsfenster zu gehen. Eine Mischung aus Hoffnung und Wunder lag in ihren Zügen. Ein paar hielten sich die Hände vor den Mund.
Tränen liefen über Lauras Wangen. Freudentränen.
„Bei Gott! Das letzte Update hat gewirkt!", rief Michael. „Er hat die Veränderten gefressen, jedoch nicht das Testsubjekt! Er kann sie nicht fressen! Kann keinen Menschen fressen!"
Die Wissenschaftler jubelten und stießen Siegesschreie aus, umarmten sich und klopften sich gegenseitig auf die Schulter. Das war es, wofür sie ihr Leben lang gearbeitet hatten. Wofür ihre Väter und Großväter ihr Leben gegeben hatten. Die Kulmination eines Projekts, das sich über ein Jahrhundert erstreckte. Sogar Amadeus wirkte erfreut, als Hagen einen Jubelschrei ausstieß und zusammen mit seinen Mitarbeitern lachte und Hände schüttelnd und Schultern klopfend durch die Menschentraube wanderte.
Dies hier war der schwerste Teil. Er musste überzeugend wirken, so viel hing davon ab, den Schein aufrecht zu halten. Innerlich jedoch stählte er sich. Er wusste, was den Moloch hemmte, und es war nicht das letzte Update – denn das hatte er selbst sabotiert. Nein, er hatte es in den vielen Augen des Molochs erkannt. Nicht die Menschlichkeit des Mädchens hielt ihn davon ab sie zu verschlingen, sondern die seine. Am Ende jedoch war das Monster in ihm stärker, der Hunger zu schrecklich.
Der Moloch brüllte und alle erstarrten. Es war der erste Laut, den das Ungetüm seit langer Zeit ausgestoßen hatte. So viel Schmerz lag in diesem einen Schrei, so viel Verzweiflung ... so viel Hunger.
Es war schnell vorbei, ihr Tod gnädig.
Hagen wandte sich ab und starrte in die Gesichter seines Teams, sah den Schock, spürte die Niedergeschlagenheit, die Enttäuschung und, vielleicht am wichtigsten, die Scham. Es war leicht zu vergessen, dass viele von ihnen nur ihre Arbeit machten, auch wenn einige diese mit Sicherheit verabscheuten. Hagens Blick suchte den seines alten Freundes, hoffte wider Willen, vergleichbare Gefühle in den hageren Zügen des Odins zu finden. Alles war ihm recht: Enttäuschung, Wut, Scham, sogar Hass.
Doch da war nichts. Keine Emotionen – weder gute noch schlechte.
Was haben sie nur mit dir gemacht?
Der Odin von Walhalla lächelte Hagen aufmunternd zu und wandte sich an das Team. Schweigen legte sich über den Raum und der Odin hielt es für einen langen Moment.
„Ich weiß, dass Sie alle enttäuscht sind", sagte er. „Wer wäre es nicht? Doch es gibt keinen Grund zu verzagen. Sie haben alle gute Arbeit geleistet, meine Damen und Herren. Trotz allem sind wir einen Schritt weitergekommen. Ich denke, dass-"
Ein erneutes Brüllen brachte die Luft zum vibrieren und alle außer dem Odin fuhren zusammen und wandten sich dem Observationsfenster zu. Der Moloch tobte, seine Tentakel peitschten die Luft, sein Körper zitterte vor Zorn. Er warf sich ihnen entgegen, überbrückte die Distanz in gewaltigen Sätzen und warf seinen tonnenschweren Körper mit genug Wucht gegen das Observationsfenster um den Boden erzittern zu lassen.
Das Vanadium-Panzerglas hielt stand, so wie immer.
Der Moloch trat einen Schritt zurück und fixierte sie alle mit seinen zahlreichen Augen und weder Hagen noch seine Mitarbeiter konnten diesem sengenden Blick standhalten. Erst jetzt drehte der Odin sich langsam und ohne besondere Eile zu dem riesigen Monstrum um, hob eine Augenbraue und richtete seinen kalten Blick auf ein schildgroßes Auge mit zwei überlappenden Pupillen. Un-Mensch und Ungeheuer musterten sich für einen zeitlosen Augenblick durch das blutige Panzerglas.
Der Moloch brach den Blickkontakt zuerst, knurrte und stapfte davon.
Der Odin lächelte Hagen zu und zuckte die Schultern. „Monster sollten ihren Platz kennen."
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Es wird dunkler und dunkler... aber ich hoffe, ihr habt euren Spaß!
M.
PS: Ich habe auch ein gelungenes und zu diesem Kapitel gehörendes Stück Fan-Art von der überaus talentierten Drachenschneckchen! Ich hoffe, ihr findet es genauso toll wie ich! :D
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