ARCHETYPE 2.0 Teaser


ARCHETYPE 2.0

PROLOG


Außenbezirke von Waagen

Ruinen von Wernigerode, Harzgebirge

01.11.2158, 23:02 Uhr, Ehemaliges Deutschland


Monster.

Die Welt war voll von ihnen.

Vor zwei Wochen hätte Thorianer-Junker Siegfried Horn dies als lächerlich abgetan – schließlich wusste jedes Kind in Walhalla 23, der letzten großen unterirdischen Bastion der Menschheit, dass die Oberfläche nichts weiter war, als ein radioaktiv verseuchtes Ödland. Höllenfinsternis, er hatte zahllose Stunden damit zugebracht, sich die Live-Videoübertragungen anzusehen, welche genau dies zu belegen schienen!

Schon als Kind hatte er sich am unheimlichen Schauspiel der radioaktiven Stürme ergötzt, die tagelang über das verbrannte Ödland wüteten. Hatte mit großen Augen die Supertornados mit ihren vielfarbigen Blitzen bestaunt, die beständig aus dem brodelnden Wolken herabfuhren, um das Land zu martern und mit neuen Narben zu versehen. Ihr Anblick hatte ihn im Waisenheim mit Trost und Dank erfüllt. Er mochte zwar keine Eltern haben, jedoch hatte er schließlich unverschämtes Glück einer der letzten Menschen, ja sogar eines der letzten Lebewesen auf Erden zu sein.

Alles gelogen ...

All diese fantastischen Aufzeichnungen von der Oberfläche waren nur geschickte Computersimulationen, deren Ziel es war die vielen tausend Bewohner des Superbunkers im Dunkeln über das wahre Schicksal der Welt zu belassen. Mit verdammt gutem Grund, wie sich herausstellte ...

Wie man ihm so gnädiger Weise anvertraute, bevor man ihn und seine Kameraden auf dieses Himmelfahrtskommando geschickt hatte, erwies sich das Genesis Programm als nichts weiter als ein kolossaler Fehlschlag. Die Götterdämmerung – die Nacht des atomaren Feuers von 2056 – hatte den Krieg mit all den Monstern, die der Chimära-Virus hervorgebracht hatte, nicht beendet. Oh nein, kein Neubeginn für die Menschheit, lediglich das Ende des damaligen Lebenswegs – und natürlich der gesamten Zivilisation.

Mit anderen Worten: Ein komplettes, gottverdammtes Desaster!

Also hatte man sie belogen, Generationen lang belogen und mehr als alles andere wünschte Siegfried sich diese Zeit des naiven Unwissens zurück. Denn nun, als Thorianer und damit Beschützer von Walhalla kannte er die Wahrheit.

Die Welt war voll von Monstern.

Er hatte den Beweis dafür die letzten Tage beständig vor Augen gehabt. Das Deutschland von 2156 war geschändet und entstellt worden, jedoch keineswegs unbewohnbares Ödland. Ihr Trupp war auf ihrer Mission durch das winterliche Harzgebirge durch Wälder mit Bäumen aus Fleisch gekommen, hatte verstrahlte Flüsse überquert, und in den verlassenen Siedlungen übernachtet, die die Einöde punkteten wie Nekropolen. Wo immer sie auch hinkamen fanden sie zudem Leben, schrecklich mutiertes Leben, aber dennoch Leben.

Ja, die Welt war wirklich voll von Monstern ... was einfach nur zum Kotzen war!

„Fin... Finsternis! Wie weit ... is es noch?" keuchte Antony "Tank" Topowich über den Gefechtsfunk. Siegfried konnte das Gesicht des riesenhaften Mannes, der neben ihm durch den kniehohen Schnee watete, dank seines verspiegelten Vollvisierhelms nicht sehen, seine Erschöpfung war jedoch nicht zu überhören. All das Keuchen strapazierte seine ohnehin blank liegenden Nerven.

„Nicht mehr weit", meldete sich Lochmann. „Gleich über den Hügel da!"

Tank nickte und sah sich einmal mehr gehetzt um, wobei der rote Ziellaser, und damit auch die Mündung seiner taktischen Mossberg 590A1 Schrotflinte, wieder einmal über Siegfried strich.

Dieser verdammte Vollidiot!

Der Schnee, der die Straßen bedeckte, war gerade mal tief genug, um all das Treibgut zu verbergen, das einhundert Jahre Wind und Wetter hier angeschwemmt hatten. Stolpern war einfach und den Abzug betätigen noch einfacher. Siegfried wollte dem größeren Mann gerade gehörig die Meinung flöten, als Tank stolperte und hinfiel. Die Mossberg spie donnernd Feuer und plötzlich befand sich ein rauchender Krater neben Siegfrieds rechtem Fuß, welcher mit einem, wie er fand, mehr als gerechtfertigtem Kreischen zurücksprang. Der aus segmentierten Keramikplatten bestehende Thorianer-Körperpanzer, den sie alle trugen, war zwar theoretisch stark genug, um einem Kaliber 12 Beschuss aus nächster Nähe standzuhalten, doch selbst die beste Rüstung hatte schließlich Schwachstellen.

Wie zum Beispiel die Stiefel ...

„Du Vollidiot!" herrschte Siegfried Tank an. „Halt den Lauf deiner Drecksknarre nach unten! Ich schwöre, wenn du noch einmal aus Versehen abdrückst, knall ich dich selber ab!"

„Tschul...digung, Sigi!" japste Tank und kämpfte sich mit Unterstützung ihres Scharfschützen Lochmann wieder auf die Beine.

„Mein Name ist Siegfried! Siegfried verdammt noch mal!" schimpfte er weiter. „Wie Siegfried aus der Nibelungensage! Wie Siegfried der Drachentöter, du übergewichtige, asthmatische Dumpfbacke!"

Gott, es tat gut, sich etwas Luft zu machen.

Truppführer Metzner drehte seinen verspiegelten Vollvisierhelm in ihre Richtung und bellte: „Klappe ihr zwei! Haltet lieber die Augen auf!"

„Yes-sir!" erwiderte Siegfried automatisch, warf Tank jedoch einen vernichtenden Blick zu. Er würde nie verstehen, warum man den Fettsack zu den Thorianern berufen hatte. Sicher, mit seinen über zwei Metern und 160 Kilo war er beeindruckend anzusehen, insbesondere im Körperpanzer eines Thorianers – schwarz macht schließlich schlank – doch im Vergleich zu Siegfried fehlte es ihm an der stählernen Beherrschung, die einen echten Thorianer ausmachte.

In Siegfrieds Augen war er eine Schande für die Schwarze Rüstung, weswegen er auch keine Skrupel haben würde, ihn zurückzulassen, sollten die Mutanten, die Leutnant Henning und Rottenführer Kaiser abgeschlachtet hatten, zu ihnen aufschließen. Das hatte nichts mit Feigheit oder Angst zu tun. Oh nein! Tank war einfach zu schwach. Der Umstand, dass Siegfried – und natürlich die anderen – durch seinen Tod Zeit für einen taktischen Rückzug gewinnen würden, war lediglich ein Bonus. Wie hieß es so schön, man musste nicht schneller laufen als der Drache, sondern nur schneller als das langsamste Gruppenmitglied.

Thorianer Zott blieb stehen. „Hört ihr das auch? Ich glaube, ich kann das Rauschen des Flusses hören! Waagen kann nicht mehr weit sein."

„Fantastisch. Ich bin sicher, die Monster dort werden uns mit Freuden die Tore öffnen", murrte Lochmann. Seine Stimme triefte mit Sarkasmus.

„Schnauze Lochmann!" knurrte Metzner über Funk. „Stell lieber sicher, dass uns die Dreckskerle nicht nochmal von hinten erwischen!"

Siegfried konnte Lochmann nur beipflichten – nicht, dass er dies jemals gegenüber ihrem bärbeißigen Truppenführer aussprechen würde. Er gab schließlich einfachere und weit weniger schmerzhafte Methoden um Selbstmord zu begehen. Finsternis, er war gerade einmal zweiundzwanzig! Viel zu jung um auf einem Himmelfahrtskommando wie diesem zu sterben. Zum tausendsten Mal verfluchte er dieses Flittchen Leonora Hagen und die anderen Verräter, die das Archetype Projekt sabotiert hatten. Er würde alles dafür geben, nie in diese Sache hineingezogen worden zu sein. Gott, er würde seine linke Hand dafür geben, jetzt auf einer langweiligen Patrouille durch die sicheren Betonkorridore seiner Heimat tief im Brocken zu sein.

Stattdessen war er hier auf der Flucht vor mysteriösen Monstern und auf dem Weg zu einer ganzen Stadt voll mit – zugegebenermaßen zivilisierteren – Monstern und Mutanten. Und wofür? In der Hoffnung, dort Einlass und Rettung zu finden. Ha! Die Ironie war geradezu schmerzhaft. Schließlich waren er und seine Kameraden hier, um eine Waffe zurückzuholen, welche alle Monster dieser Welt eines Tages vernichten mochte, was die Bewohner dieses dekadenten Mutanten-Mekkas definitiv mit einschloss. Trotz seiner Abneigung für diesen Pfuhl der Untermenschen, konnte er seine Erleichterung jedoch nicht verleumden, als Waagen sich weniger als einen halben Kilometer entfernt vor ihnen aus dem Nebel schälte. Alle blieben einen Moment keuchend stehen, um die sogenannte Stadt in den Wolken anzugaffen.

Siegfried hatte während der hastig einberufenen Einsatzbesprechung zwar Bilder und Videoaufzeichnungen der Festungsstadt gesehen, doch wie so oft wurden diese Aufzeichnungen der Realität nicht gerecht. Bei Tag breiteten sich das von Magmaflüssen durchzogene Aschland und die grauen Weiten der sogenannten Knochensee wie eine Landkarte jenseits von Waagen aus, doch auch bei Nacht und Nebel war die Festungsstadt mehr als beeindruckend. Hunderte von Lichtern und sogar blinkenden Neon-Reklamen erleuchtete das am Kliff des Harzmassivs erbaute Bollwerk und Siegfried war unweigerlich an eine Stadt der Alten Welt erinnert, die sich Las Vegas nannte: ein Ort der Sünde und Dekadenz, ganz wie Waagen einer war. Nicht einmal der schnell fließende Fluss, der als Burggraben fungierte und die Wasserfälle, die sich im Osten und Westen tausend Meter in die Tiefe stürzten, konnten die mannigfaltigen Geräusche übertönen. Musik, Lachen, Schreie und das gelegentliche Donnern einer abgefeuerten Waffe, hallten über die nebelige Ebene. Dies war kein toter Ort. Er lebte und atmete, keuchte, grölte und schrie.

Ein geringerer Mann als Siegfried, hätte sich von dem Anblick vermutlich einschüchtern lassen, er jedoch nicht. Er schluckte schwer. Schließlich war er einer der wenigen Überlebenden der alten Welt. Ein Titan in einer Welt der Wichtel. Oh ja, es gab keinen Grund, sich wie eine Art hinterwäldlerisches Landei zu fühlen. Er nicht!

Überhaupt nicht ...

Entlang der mit Eis überzogenen und aus Schutt und Autowracks bestehenden Festungsmauer erhoben sich riesige Wasserräder, die sich beständig in den schnell fließenden Fluss bissen, um die hungrige Stadt mit Strom zu versorgen. Die Elektrizität machte Waagen zu diesen finsteren, fast mittelalterlichen Zeiten, zu etwas geradezu Magischem. Zumindest für die vielen Pilger, Händler, und Reisenden, die diesen Ort der Laster frequentierten. Jede Religion und jede Gattung – ob Mensch, Monster oder Mutant – war in Waagen willkommen, solange sie etwas von Wert mit sich brachten und sich zu benehmen wussten.

Siegfried versuchte nicht zu erleichtert zu klingen, als er mit dem Finger auf die Stadtmauern deutete. „Die Scheinwerfer sind an!"

„Vielleicht ... haben sie unser... Gewehrfeuer bemerkt", keuchte Tank.

„Wenn sie schon das Licht für uns angemacht haben, werden sie uns hoffentlich auch das Tor öffnen", grunzte Metzner. „Haltet die Augen auf, Männers, wir haben es fast ge—"

Der plötzliche Schrei der über den Gefechtsfunk erklang ließ sie alle herumfahren. „Oh Gott! Helft mir, verdammt! Helft mir!" Weitere Schreie folgten.

Es war Lochmanns Stimme, doch der Thorianer war nirgends zu sehen. Eine kalte Hand legte sich um Siegfrieds Herz und knetete ein bisschen. Wie war das möglich? Er hätte schwören können, dass Lochi sich noch vor einem Moment genau hinter ihm befunden hatte, doch nun war er wie vom Erdboden verschluckt.

„Lochmann! Lochmann! Scheiße wo bist du?" rief Zott und schwang sein Sturmgewehr von Schatten zu Schatten. Das Kreischen verwandelte sich einen Herzschlag später in ein schreckliches Gurgeln.

„Scheiße!" fluchte Zott. „Da sind nur unsere Spuren im Schnee, wie—"

Ka-Chink!

„Huh?" Siegfried fuhr zu Zott herum – und erstarrte.

Ein großer Wurfspeer, fast schon eine Lanze, aus schwerem Metall hatte sich vom Nacken der Länge nach durch Zotts Rumpf und in den Grund gebohrt. Die gut zwei Meter lange Waffe steckte nun im Asphalt und hielt den Mann wie eine Vogelscheuche aufrecht. Irgendwie lebte er noch und schaffte es einen zitternden Finger auf eines der Dächer zu richten. Ein roter Blitz entlud sich in diesem Moment in der chemisch geladenen Wolkendecke über ihnen, so dass die massige, affenartige Gestalt dort für den Bruchteil einer Sekunde von hinten beleuchtet wurde. Sie holte gerade mit einer zweiten Lanze zum Wurf aus.

Siegfried riss seine Heckler & Koch MP7 hoch und krümmte den Finger um den Abzug. „Die Dächer! Sie sind auf den Dächern!"

Metzner hob sein M4 Maschinengewehr und fing ebenfalls an zu feuern. „Macht sie kalt! Alles abknallen!"

Tank und Klein fielen schnell mit ein. Ein Mündungsblitzgewitter erhellte die Nacht und warf tanzende Schatten gegen die schief dastehenden Gebäude. Ein Hagel aus Flechette-, Explosiv- und Silbermunition hämmerte in das Ding und trieb es zurück – direkt über den niedrigen Rand des Flachdachs. Es nahm den Beschuss hin, ohne einen einzigen Laut von sich zu geben, selbst als es fiel und mit dem Kopf voraus auf dem Asphalt aufschlug, löste sich kein Schrei von seinen Lippen.

„Feuer einstellen!" schrie Metzner und die Waffen verstummten eine nach der anderen.

Trotz des Geräuschfilters in seinem Helm, der den Großteil des Lärms ausgeblendet hatte, klingelten Siegfrieds Ohren. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, wie ein Irrer gegen seine Zellentür. Sein Atem ging stoßweiße. Gott, was würde er dafür geben, diesen verdammten Helm abnehmen zu können. Alle sahen sich nervös um, klammerten sich geradezu krampfhaft an ihre Waffen. In diesem Moment wirkten die baufälligen Strukturen um sie herum wie böswillige Riesen, die sie aus leeren Augenhöhlen anglotzten und sich auf sie hinab zu beugen schienen.

Ruhig, ruh—

„Feind von links!" schrie Metzner, fuhr herum und beharkte einen Hauseingang.

Der Rest der Truppe begann ebenfalls zu feuern. Jeder Schatten war mit einem mal ein Feind, jeder leer gähnende Gebäudezugang ein Versteck. Falls jemand oder etwas getroffen wurde, so starben ihre ungesehenen Feinde schweigend wie das Ding auf dem Dach.

Siegfrieds UMP klickte leer. „Scheiße! Verfickte Scheiße!"

Seine Hände zitterten so stark, das er drei Anläufe brauchte, ein neues Magazin einzulegen. Mündungsfeuerblitze erhellten noch immer die Nacht, warfen zuckende Schatten gegen die Wände, doch von Feinden war nichts zu sehen. Alles in Allem war es höchste Zeit, dass jemand einen taktischen Rückzug einleite. Technisch gesehen war er zwar nur ein Junker und weit unter Metzer, aber der irr lachende Bastard hatte offenbar den Verstand verloren. Also nahm Siegfried die Beine in die Hand, setzte sich an die Spitze der Truppe und rief, „Weiter! Weiter! Wir haben es fast geschafft!"

Und es stimmte auch. Nur noch dreihundert Meter trennten sie vom kahlen Grenzland, dass eine Todeszone zwischen Waagen und den Ruinen bildete. Die großen Scheinwerfer entlang der hohen Festungsmauer schwenkten in ihre Richtung und brannten Kegel aus weißem Licht in den Nebel. Sie mussten es nur noch über das Feld schaffen und dann ...

Siegfrieds Fuß verfing sich in irgendetwas und der Boden raste auf ihn zu. „Schei—"

Sein Helm hämmerte mit so viel Wucht auf etwas Hartes unter dem Schnee, dass das computergenerierte Nachtsicht-Overlay mit einem Mal erlosch. Absolute Dunkelheit umhüllte ihn. Mit ihr kam die Angst. Höllenfinsternis, er hatte gar nicht gemerkt, wie verdammt dunkel die Nacht war! Der Gefechtsfunk war mit irren Schreien und Metzers lachen erfüllt. Wahnsinn. Das alles war doch Wahnsinn!

Ein Teil von ihm wollte einfach liegen bleiben, wo er war und sich in Embryohaltung zusammenrollen, dann jedoch erinnerte Siegfried sich wieder daran, dass er ein extrem gut ausgebildeter Kämpfer mit technologisch überlegenen Waffen war. Es gab keinen Gegner, den er nicht bezwingen konnte! Keinen!

Außerdem würden ihn diese feigen Bastarde bestimmt zurücklassen, wenn er nicht schnell wieder auf die Beine kam ...

Er drückte sich hoch, schüttelte benommen den Kopf und musste gegen den Instinkt ankämpfen, Blut auszuspucken. Beim Fall hatte er sich in die Zunge gebissen und metallischer Geschmack füllte seinen Mund. Er rappelte sich auf und fiel erneut hin. Die Dunkelheit war wirklich desorientierend. Dann ergriff plötzlich etwas seinen Arm und Siegfried versuchte in Panik seine Waffe herumzureißen und abzudrücken. Sein Finger hatte sich schon fast um den Abzug gekrümmt, als die Stimme seines vermeidlichen Angreifers zu ihm durchdrang.

„Ich bin's nur! Ich bin's!" bellte Tank. „Beweg dich, Sigi!"

Siegfried war mit einem Mal sehr glücklich, dass Tank bis jetzt überlebt hatte. Soweit sogar, dass er ihm die Verballhornung seines Namens durchgehen ließ. Hinter ihnen brüllte Metzner etwas davon, dass sie gefälligst stehenbleiben und kämpfen sollten wie echte Thorianer. Dieser degenerierte Irre! Soll er sich doch pfählen lassen wie dieses arme Schwein, Zott.

Siegfried und Tank rannten weiter und es war schwer genug einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sein Sturz musste schlimmer gewesen sein als erwartet: Säure brannte in seinem Rachen und sein Herz schien bei seinem Sturz irgendwie in seinen Kopf gerutscht zu sein. Er hatte das Gefühl, als presse es seine Augen mit jedem Herzschlag aus deren Höhlen. Thorianer Klein – dieses feige Schwein – rannte mittlerweile gut zwanzig Meter vor ihnen. Wider willen musste Siegfried auflachen. Scheinbar wusste auch er, wie man vor Drachen davonlief ... der dreckige kleine Feigling.

Sie hatten den äußeren Rand der Ruinenstadt fast erreicht, als zwei Dinge auf einmal geschahen. Ein wutentbrannter Schrei Metzners riss mit einer geradezu schockierenden Finalität ab und Klein ... Klein zerfiel einfach zu Stücken. Siegfrieds Nachtsicht war zwar im Eimer, doch die Silhouette seines Kameraden zeichnete sich mehr als deutlich gegen das Licht von Waagens Suchscheinwerfern ab. Einen Moment rannte der Thorianer so schnell ihn seine Beine trugen und dann zerfiel er, fast als hätte ihn ein Laser mehrfach durchschnitten.

„Was ist das!" kreischte Siegfried. „Scheiße, was ist mit Klein passiert?"

„Fäden!" rief Tank. „Da verlaufen Fäden über die Straße. Sind so gut wie unsichtbar. Heilige Scheiße, so was hab ich noch nie—"

Tanks Worte gingen in einem Grunzen unter, als ihm etwas die Beine wegriss und er mit dem Gesicht voran in den Schnee knallte. Siegfried ging ebenfalls unsanft nieder, stieß sich erneut den Kopf – und wie durch ein Wunder war seine Nachtsicht zurück. Er richtete sich auf und wollte gerade zu zetern anfangen, als Tank von ihm wegschnellte, so als würde er von einem Automobil weggezogen. Siegfrieds Augen weiteten sich, als er verstand was geschah. Eine Art Falltür hatte sich knapp zehn Meter hinter ihnen geöffnet und bildete nun ein gähnendes schwarzes Loch, das drohte Tank zu verschlingen.

Tanks Finger krallten sich in den Schnee auf der Suche nach irgendetwas um sich festzuhalten. „Hilf mir! Sigi! Hilf mir verdammt!"

Sigfrieds Gedanken wanderten zu Drachen ... und keiner war mehr überrascht als er selbst, als er aufsprang und auf Tank zu hechtete. Er erreichte den massigen Thorianer kurz bevor er vom Loch verschluckt wurde. Ihre Hände schlossen sich umeinander und ein Ruck ging durch den großen Mann, als er mit einem Mal in zwei Richtungen gezogen wurde.

Was zur Hölle machst du, du Vollidiot! kreischte Sigfrieds alter Freund, der Selbsterhaltungstrieb. Lass den Fettsack gehen und lauf! Drachen! Denk an die Drachen!

Siegfried zeigte seinem Selbsterhaltungstrieb den mentalen Mittelfinger und lernte, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben, wie verdammt gut sich das anfühlte. Ein Gefühl von Stolz erfüllte seine Brust und gab ihm Kraft. Er zog an Tank und zu seinem endlosen Erstaunen rutschten dessen über 160 Kilo in seine Richtung.

Heldentum verlieh also wirklich sagenhafte Stärke. Entweder das, oder ... oder ihr Angreifer hat das Seil losgelassen! Wie um seinen Gedanken zu bestätigen, erhob sich das Ding mit einem Mal aus der Dunkelheit des Loches, wie eines der Monster, dass er als Kind immer unter seinem Bett wähnte. Ein Teil von ihm wünschte sich, dass seine Nachtsicht wieder erlöschen möge.

Die blasse Haut des Dings leuchtete grün in der Monochromansicht. Es war menschenähnlich, größer noch als Tank und zu dem massiver, mit einem geifernden Maul voll schartiger Zähne und Augen, weiß wie gekochte Eier. Diese blinden Augen brannten sich in seine Seele. Ohne es zu wollen, ohne eine bewusste Entscheidung getroffen zu haben, ließ Siegfried los.

Tank wurde von der Dunkelheit verschlungen.

Siegfried kämpfte sich wieder auf die Beine und rannte.

„Sigi! Sigi! Ich... lasst mich los! Lasst mich los! Nein! Nein!" Das pop-pop-pop von Tanks schallgedämpfter 9mm erklang, dann füllten nur noch seine Schreie das Interkom.

Siegfried rannte weiter, verfolgt von Schreien, die nicht abreißen wollten. Ab und zu hörte er seinen Namen in einer kläglichen, verzweifelten Bitte. Er rannte jedoch nur schneller, angetrieben vom Anblick dieser seelenlosen weißen Augen, tauchte in eine Gasse, hoffte, dass sie ihn aus diesem Ort des Grauens wegbringen würde.

Weg hier, nur weg hier!

Ein Häusereingang mit offen stehender Tür klaffte zu seiner Linken und er kam schlitternd zum stehen. Wenn es je einen dunklen und unheilvollen Gebäudeeingang gegeben hatte, dann war es dieser hier. Nicht einmal seine Nachtsicht konnte die Schwärze mehr als ein paar Schritte penetrieren. Er hielt sich so weit wie möglich davon fern, presste sich so stark mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand, dass seine Rüstung den alten Putz abschabte. Die Türöffnung starrte ihn an, wie ein gewaltiges schwarzes Auge. Dies war die Art Dunkelheit, in der Monster auf unbedachte Wanderer lauerten.

Er sollte Recht behalten ...

Siegfried war kaum auf Höhe mit dem Eingang, als ihn ein riesiges Ding mit viel zu vielen Beinen und Augen aus der Dunkelheit ansprang. Er kreischte, betätigte den Abzug und fegte das Ding im Sprung aus der Luft. Im Schein des Mündungsfeuers erkannte er, dass es eine Spinne war: eine riesige, mutierte Spinne mit einem Panzer wie Eis. Weißer Ichor spritzte auf den Schnee und die vielen Beine des Dinges trommelten auf den Grund, als weitere Kugeln in es fuhren. Er hörte erst auf zu schießen – und zu kreischen – als seine Waffe leer klickte. Mit zitternden Finger suchten nach einem neuen Magazin. Er fand eines – und ließ es vor Schreck fallen. Dass Ding zappelte immer noch, wollte einfach nicht sterben!

Das Magazin schlitterte auf die im Todeskampf befindliche Spinne zu.

Höllenfinsternis!

Siegfried drehte sich um und rannte weiter, nicht gewillt dem Ding zu nahe zu kommen – und lief frontal in eine Wand, die einen Moment zuvor noch nicht dagewesen war. Er taumelte zurück, sah in was er gerannt war, und wünschte sich, er hätte die letzte Kugel für sich aufgespart.

Weiße Augen richteten sich auf ihn.

Sie brannten sich in seine Seele, wie das das Feuer eines Drachen.


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Na? Hat euch dieser kleine Teaser gefallen? Wenn ja, dann schaut doch gleich mal zu ARCHETYPE 2. :)






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