▸ norixius.

Abgabe für einen Schreibwettbewerb (alt)

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Wenn man mich sehen würde, würde man sich fragen, was um alles in der Welt ein Mädchen um diese Zeit auf dem Pfad zwischen Meer und Wiese zu suchen hat. Da es aber in gut einer Stunde Mitternacht ist und in diesem Kaff niemand auch nur daran denkt, jetzt rauszugehen, wird das nicht eintreffen. Das ist auch okay so. Dumme Kommentare und Fragen kann ich gerade ganz und gar nicht gebrauchen.

Veronika hat Recht gehabt, das hat sie immer und ich habe trotzdem nicht auf sie gehört. Ich hätte mich niemals auf ihn ein einlassen sollen. Wieso auch sollte er an mir interessiert sein? Er, der beliebteste Junge der ganzen Klasse? Es war zu schön, um wahr zu sein. Die Lüge haben sie mich sehr bitter spüren lassen.

Der Wind lässt meine Tränenspuren kalt werden und reißt an meinen wirren Haaren, die tagsüber noch in einem Dutt gebunden waren. Ich bleibe stehen, damit ich mir einen neuen Zopf machen kann, aber der Gummi reißt und schnippt schmerzhaft gegen meine Hand. Frustriert schiebe ich den Rest in meine Manteltasche, während meine Haare wild um mein Gesicht fliegen. Ich spucke ein paar Strähnen aus, die in meinem Mund landen.

Die Wellen türmen sich hoch auf heute. Ich wende mich dem Meer zu meiner Linken zu, eine gleichmäßige, dunkle Ebene, die das Mondlicht der hellen Sichel reflektiert. Wolken verstecken die Sterne und in dieser Gegend sind die Straßenlaternen deaktiviert, sodass der Himmelskörper die einzige Lichtquelle ist.

Seufzend setze ich mich auf die etwas über kniehohe, steinerne Abgrenzung zum Strand. Es ist kein weißer Traumstrand mit Palmen, der Sand ist dunkel und kalt und voller Kies, riesige Felsbrocken sind wie zufällig verteilt, am Ufer wird stets Seegras angeschwemmt. Dennoch mag ich es, hier zu sein. Ich bin normalerweise die einzige hier - Alle anderen gehen lieber in das Freibad oder den Park und ich kann es ihnen nicht verübeln. Oberflächlich betrachtet sieht widerlich aus.

Doch für mich ist dieser Ort ein Geheimtipp geworden. Nur wenige verirren sich hierher und diese werden von der Kälte und der scheinbaren Unfreundlichkeit vertrieben. Aber in Wahrheit ist es großartig hier, um zu lesen oder zu lernen, wenn man die richtigen, windstillen Ecken hinter den Felsen findet.

Ich fröstele und ziehe meinen Mantel enger um mich. Diese Nacht ist der Wind stark, doch das regelmäßige, laute Rauschen der Wellen beruhigt mich. Langsam kehrt angenehme Stille in mir ein. Ich schließe die Augen und lege den Kopf in den Nacken.

Eine Wette, ich war nur eine Wette für ihn. Natürlich, was sonst? Als würde sich der attraktivste Sportler in den schüchternen Nerd verlieben. Und bis auf Vero haben alle mitgemacht.

Ein merkwürdiges Geräusch reißt mich aus meinen Gedanken und ich öffne die Augen wieder. Zitternd sehe ich mich um, ob vor Kälte oder aus Angst weiß ich nicht. Hat mich jemand verfolgt? Einer der Idioten oder doch ein Creep? Ich lebe zwar in einem kleinen Dorf, aber mittlerweile ist man nirgends mehr sicher. Nervös nestele ich an meinem Kragen.

»Hallo?«, will ich selbstbewusst in die Nacht rufen, doch meine Stimme bricht und ich bringe nur ein Wispern heraus. Niemand antwortet mir, dafür erklingt das Geräusch erneut und ich bemerke, dass es von unten kommt. Und es ist hinter mir. Anstelle von Furcht keimt Irritation in mir auf.

Mit gerunzelter Stirn drehe ich mich um und betrachte den Boden des Bürgersteigs unter mir. In der Dunkelheit kann ich nichts erkennen. Großartig, jetzt habe ich auch noch Halluzinationen. Das verräterische, kribbelnde Gefühl in meiner Nase kündigt weitere Tränen an. Zumindest sind meine Eltern momentan nicht zuhause, dann fällt es ihnen auch nicht auf, wenn ich später komme.

Ich wende mich zurück zum Meer, als erneut das Geräusch ertönt. Irgendetwas schleift über den Asphalt... Diesmal habe ich es mir aber nicht eingebildet, das kann nicht sein.

Um sicherzugehen, hole ich mein Handy aus der Manteltasche. Das Display sticht grell in meine Netzhaut, nachdem ich es angeschaltet habe. Rasch aktiviere ich die Taschenlampe und beleuchte den Boden. Schockiert schnappe ich nach Luft, als ich die Quelle der Geräusche entdecke.

»Was hast du denn gemacht?«, flüstere ich der kleinen, dunkelgrauen Eidechse zu, die sich in einem Plastiknetz verfangen hat. Anstelle einer Antwort zappelt das Tier weiter, der Müll kratzt auf dem Stein und verursacht das Geräusch.
»Ich werde dich jetzt vorsichtig hochheben und da rausholen, keine Angst, okay?«

Die Eidechse reagiert nicht und so beuge ich mich langsam hinunter. Als ich meine Hand vor den Kopf des Tieres halte, krabbelt es so gut es kann darauf. Überrascht blinzele ich. Hat es mich verstanden? Unglaublich. Behutsam lege ich es auf meinen Schoß und positioniere das Handy so an meinem Körper, dass es die Eidechse beleuchtet.

»Wenn es wehtut, sag Bescheid«, murmele ich eher mir selbst zu und entwirre vorsichtig das Netz, darauf bedacht, bloß nicht die Eidechse zu verletzen. Auf Blut auf meinem Mantel habe ich keine Lust - Und auf ein verletztes Tier natürlich auch nicht. Es sitzt einfach ruhig auf meinem Bein und bewegt sich kein bisschen.

»Wir sind wohl beide in einer scheiß Situation gerade, was?«, beginne ich leise und ehe ich mich selbst dafür verspotte, mit einer Eidechse zu sprechen, rede ich weiter, »Weißt du, meine beste Freundin hat mich vor diesem Typen gewarnt und trotzdem habe ich mir Hoffnungen gemacht.«

Wütend reiße ich ein Stück des losen Plastiks ab. Erneut fließen Tränen über meine Wangen und tropfen auf das kleine Tier, das kurz zusammenzuckt.

»Tut mir leid«, entschuldige ich und schluchze, »Heute hat er eine Party geschmissen und ich als seine Freundin war natürlich eingeladen. Aber es war nur eine Feier, bei der sie mir eröffnet haben, dass das alles nur eine Wette war. Er hat gewettet, dass er jedes Mädchen haben könnte und... Das hat er wohl geschafft. Ich weiß gar nicht, was er gewonnen hat.«

Ich löse die letzten Fäden von der Eidechse und streiche ihr sanft über den Rücken. Sie erwidert meine Berührung, indem sie sich meinen Fingern entgegenstreckt. Ein kleines Lächeln erscheint auf meinen Lippen.

»Bitte, jetzt bist du frei«, schmunzele ich und nehme meine Hand von dem Tier. Doch anstatt zu fliehen, bleibt es sitzen.
»Du willst nicht gehen? Na gut, bleiben wir eben beide noch etwas hier...«

Obwohl ich den Schmerz nach wie vor tief in mir spüre, spüre ich ein bisschen Glück. Diese kleine Eidechse ist liebenswert, das muss ich zugeben. Ich stecke mein Handy weg und beobachte das Tierchen im Licht des Mondes. Es sitzt ruhig auf meinen Beinen, als plötzlich Licht von dem kleinen Körper ausgeht. Ich ziehe überrascht Luft ein. Kaum hat das Tier wieder normale Farbe angenommen, komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Es fliegt direkt vor meinem Gesicht - Ja, es fliegt! Handgroße Flügel sind aus seinem Rücken gesprossen und der Hals ist gewachsen, die vorderen Beine sind kleiner geworden und an beiden Paaren sind Krallen. Dunkelgraue, im Mondlicht schimmernde Schuppen bedecken den zierlichen Körper. Das Tier blickt mich direkt mit graublauen, funkelnden Augen mit schlitzförmigen Pupillen an. Jetzt bin ich komplett wahnsinnig geworden.

»Bist du ein... Drache?«, bringe ich heraus und strecke vorsichtig die Hand aus. Das Wesen fliegt kunstvoll um diese herum und streicht sanft mit dem Schweif über meine Haut.
»So nennt man meine Rasse. Habt Dank, junge Prinzessin, es ist keine Selbstverständlichkeit, dass solch zarte Hände verdreckte Schuppen berühren«, erwidert der Drache mit einer männlichen, jungen Stimme, die alles andere als menschlich klingt und dennoch absolut verständlich ist. Sie hallt etwas und ich kann nicht genau festlegen, aus welcher Richtung die Aussage kommt.

»Sprechen kannst du auch?«, frage ich ungläubig und halte meine Handfläche offen. Der Drache lässt sich auf dieser nieder, faltet die Flügel ordentlich zusammen und legt den Schweif um die Hinterbeine. Die Krallen kratzen leicht.

»Mir sind viele Talente, darunter auch die perfekte Ausführung des Hauptmittels der menschlichen Kommunikation, Prinzessin«, erklärt er.
»Nenn mich nicht so«, schmunzele ich, »Ich bin keine Prinzessin. Ich bin nur ein normales Mädchen.«

Das Wesen schnaubt und schüttelt den kleinen Kopf.

»Das kann unmöglich der Wahrheit entsprechen. Ein Teil meiner Aufgabe ist es, Prinzessinnen zu finden, zu beschützen und zu unterstützen und Ihr seid wahrlich eine Prinzessin, die Prinzessin des Meeres!«, verkündet der Drache enthusiastisch und deutet eine Verbeugung an, »Man nennt mich Norixius!«

Ich muss auflachen. Das ist ein so süßes Wesen, wie kann ich ihm seine Verwechslung übelnehmen? Er scheint ein liebenswerter Drache zu sein, ich sollte wohl mitspielen.

»Norixius, gerne habe ich dich als meinen Begleiter, aber bitte duze mich und nenn mich einfach bei meinem Namen«, erbitte ich und er nickt so heftig, dass ich dem Kopf kaum folgen kann. Ich muss mich zurückhalten, um nicht erneut aufzulachen.
»Und wie lautet dein Name, Prinzessin?«

»Kendra.«

»Nun denn, Kendra!«
Norixius springt von meiner Hand und dreht eine Runde um meinen Kopf, ehe er wieder vor meinem Gesicht anhält und mich mit Wasser bespritzt. Anscheinend ist er kein Feuer-, sondern ein Wasserdrache!

»Hey!«, lache ich und wische mir über das Gesicht, »Das ist unfair, das kann ich nicht!«
»Was meinst du, Kendra? Nun hast du mich als deinen Begleiter und damit die Möglichkeit, deine unglaublichen, zerstörerischen Kräfte zu entfesseln! Gab es da nicht diesen jungen Mann, der dir übel mitgespielt hat?«

Ich halte inne und betrachte das kleine Wesen, das mich neckisch anfunkelt. Ob es da nicht jemanden gab? Ja. Da gibt es tatsächlich eine Person, nein, gleich mehrere, die es verdient hätten, wenn man ihnen eine kleine Lektion erteilt. Das Lächeln, das diesmal auf meinem Gesicht erscheint, ist nicht amüsiert, sondern rachsüchtig.

Wenn man mich sehen würde, würde man sich fragen, welche diabolischen Gedanken diesem Mädchen und ihrem Begleiter durch den Kopf gehen - Und man würde sich vor den Antworten fürchten.

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