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abgabe für den schreibwettbewerb
von blutkralle. 1563 wörter. thema:
ein tal umgeben von dichten nebeln
und von uralten bäumen. tw: lowkey
scary stuff (schätze ich), tod.
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Seit Jahren wurde es uns verboten, über die Wege hinaus in den Wald zu gehen. Mir war klar, dass es gefährlich dort ist, aber ich fand es übertrieben. Jeder im Dorf kennt die Regeln, die unbedingt zu beachten sind, wenn man lebend zurückkehren möchte. Verhalte dich ruhig. Nimm nur, was du brauchst. Verlasse die Pfade nicht. Und ganz wichtig: Antworte nicht, wenn sie dich rufen. Antworte ihnen niemals und sieh dich nicht um. Sie verstecken sich vor dir, sie kennen sich besser aus, sie werden dir immer einen Schritt voraus sein.
Der Wind ist stiller geworden, der Weg spärlicher und das Dickicht üppiger. Farne streifen meine Beine und vereinzelte Dornen an heruntergefallenen Ästen schneiden über meine Haut. Ich fröstele, nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Angst. Ich weiß, dass ich gerade alle Regeln breche. Ich weiß, dass ich sie verärgere, da ich viel zu weit in ihr Gebiet eingedrungen bin. Und trotzdem kann ich nicht umkehren, obwohl ich es so sehr will.
Vorhin hat mich der Regeneinbruch vollkommen überrascht. Zuerst ist Nebel aufgezogen, was mich nicht sonderlich gestört hat; Ich kenne den vorderen Teil des Waldes auswendig und könnte mich auch in völliger Dunkelheit zurechtfinden. Mein Korb war fast gefüllt mit Beeren und ich hatte gerade einen wunderbaren Strauch gefunden, das wollte ich ausnutzen, denn solch eine Gelegenheit erhält man selten.
Doch das war ein Fehler. Wie ein einzelner Schwall drosch das Wasser auf die Bäume ein, verschlammte den Boden in wenigen Sekunden, sodass ich darin versank. Unwetter dieser Art sind unüblich, aber normalerweise komme ich damit zurecht. Mit jedem Schritt schmatzten meine Füße, meine Kleidung war längst durchnässt, als ich zurück zum Dorf sprintete. Der Nebel ließ die Umgebung weiter verschwimmen, bis ich innehalten musste.
Ich hatte die Orientierung verloren. Angst stach wie ein Dolch in mein Herz. Allein im Wald – Das Todesurteil für so viele Menschen vor mir.
»Hallo? Ist da jemand?«, fragte ich in die Dunkelheit. Die Sonne wurde von den Wolken verborgen. Ich rief erneut, lauschte einige Sekunden. Einzig das allgegenwärtige Rauschen des Wassers dröhnte in meinen Ohren.
Und dann hörte ich es. Am Anfang entzündete es Hoffnung in mir, ein spärlicher Funke in Finsternis, bis ich realisierte, dass es niemand aus meinem Dorf war, der sprach. Es war nicht einmal ein Mensch, weder von einem anderen Ort noch jemand, der eine andere Sprache beherrschte. Es waren sie, die Stimmen, die Waldgeister, die Seelen – Die Seelen der Bäume, der Pflanzen, der Toten. Das erste Mal sprachen sie zu mir. Sie wurden lauter.
Meine Panik übernahm meinen Körper. Der Korb mit den Beeren fiel aus meiner Hand und ich rannte, wie ich noch nie gerannt bin. Antworte ihnen nicht, antworte ihnen niemals, wiederholte ich stumm, und vergaß dabei völlig, dass ich mich alles andere als ruhig verhielt und die Pfade längst verlassen hatte. Ich stolperte bergab, Dornen gruben sich in meine Fußsohlen, meine Arme ruderten für Gleichgewicht, doch ich blieb nicht stehen.
Viel zu laut atmete ich, keuchte, schnappte nach Luft, denn langsam ging mir diese aus. An meinen Füßen floss das warme Blut hinunter, ein starker Kontrast zu den eiskalten Tropfen, die auf mich einstachen. Die Bäume kamen mir längst nicht mehr bekannt vor, der Nebel verschleierte die Baumkronen. Aber ich wusste, dass sie zweifellos höher sind als die der Bäume, in deren Nähe ich mich eigentlich aufhalten sollte.
Immer tiefer drang ich in den Wald ein, bis meine Beine aufgaben. Ich sackte zusammen, schaffte es nicht, aufzustehen oder unter Wurzeln zu rücken, ich rollte mich bloß ein und weinte leise. Die Tränen gingen im Regen und dem Wispern der Stimmen unter. Wie lange ich zitternd auf dem Boden lag, weiß ich im Nachhinein nicht. Vielleicht die ganze Nacht.
Auf jeden Fall erinnere ich mich daran, dass der Himmel aufgehört hatte, Wassermassen zu Erden zu schicken, als ich erwacht bin. Das Licht schimmerte schwach durch die Blätter, meine Glieder waren steif und schmerzten, aber irgendwie richtete ich mich auf. Sah mich um. Die Bäume verschwanden nach einigen Metern Höhe im silbergrauen Nebel, Moos säumte ihre Wurzeln und bedeckte gemeinsam mit Farnen und Gräsern den Boden.
Vor einiger Zeit habe ich das Zeitgefühl verloren. Ich wandere nun schon eine unbestimmte Weile durch das Dickicht in der Hoffnung, an einen bekannten Ort zu gelangen, aber bisher ist das noch nicht geschehen. Eher habe ich das Gefühl, mich stetig weiter von meinem Zuhause zu entfernen. Die Sorgen versuche ich zu ersticken.
Meine höchste Konzentration gilt meinen Schritten, damit ich die Stimmen nicht hören muss. Ständig glaube ich Bewegungen zu sehen, ich bin angespannt wie lange nicht mehr. Die Kälte hat meinen Körper fest in seinem Griff, doch Überraschung wärmt mich plötzlich. Wenige Meter vor mir… lichtet sich der Wald! Beinahe schreie ich vor Freude auf, renne darauf zu, obwohl meine Füße brennen.
Aber Enttäuschung schlägt mir in den Magen. Das ist nicht mein Dorf. Langsam betrete ich die Lichtung, das weiche Gras ist eine Wohltat für meine geschundene Haut. Es müsste Tag sein, allerdings ist es dämmrig und der Nebel schwebt über dem Boden. Funkelt und glitzert an einigen Stellen. Bäume, die viel älter als die Häuser im Dorf sein müssen, ergießen sich in das Tal, das merkwürdigerweise eine perfekte runde Wiese aufweist. Was ist das für ein Ort?
»Ist hier jemand?«, rufe ich, warte auf Antwort. Als ich keine erhalte, schleiche ich weiter in die Mitte. Ein Zwitschern erschrickt mich, ich wirbele herum. Ein kleiner Vogel fliegt auf mich zu. Ungläubig hebe ich den Arm und tatsächlich setzt er sich auf meine Hand, blickt mich mit schräg gelegtem Kopf an. Sie können die Form von Tieren annehmen, hat man mir gesagt. Ich will den Vogel wegschütteln, doch er krallt sich an meinem Finger fest und außerdem sieht er zu süß aus, um eine verlorene Seele zu sein.
»Weißt du, wie ich nach Hause komme?«, frage ich ihn und erscheine mir im nächsten Moment komplett dumm. Jetzt spreche ich schon mit Tieren. Natürlich erwidert der Vogel nichts und ich zucke zusammen, als ich nun auch Schritte vernehme. Aus der Richtung, aus der der Vogel flog, schreitet nun ein Reh heran. Ich halte die Luft an. So nah habe ich noch nie eines gesehen.
Es ist ein weibliches Tier, ihr Kopf reicht mir etwa zur Schulter, und das dunkelbraune Fell ist weiß getupft. Sie betrachtet mich ebenfalls aus dunklen Augen. Als ich denke, dass es nicht verrückter werden kann, stolziert ein Fuchs aus dem Nebel, ein Hase folgt ihm, weitere Vögel segeln zu mir. Die Tiere umgeben mich und alles, was sie tun, ist mich anschauen. Mir wird mulmig. Das ist kein normales Verhalten.
»Lauf«, wispert eine Stimme aus dem Nichts, »Lauf, lauf weit weg, so schnell du kannst. Hör zu. Lauf. Fliehe. Renne. Kannst du mich hören? Du musst laufen.«
Ich erstarre. Die wunderschönen Tiere bewegen sich nicht, bis auf den Vogel, der sich erhebt und auf dem Kopf des Rehs landet. Er ist weiß und schwarz, das Helle wirkt wie Zeichnung auf einem schwarzen Bild. Ich darf den Stimmen nicht antworten. Ich darf nicht tun, was sie sagen.
»Kannst du uns hören? Lauf weg. Lauf schnell weg. Lass die verlorenen Seelen dir einen Rat geben. Du darfst sie nicht zu lange ansehen. Du musst fliehen.«
Ich soll auf die Seelen hören? Auf diejenigen, die schon so viele in den Tod getrieben haben?
»Bleib nicht weiter stehen. Vertrau uns. Lauf.«
»Ich kann euch nicht trauen«, entfährt es mir. Ein eiskalter Wind schneidet über meine Haut, reißt an meiner durchnässten Kleidung. Ich habe ihnen geantwortet.
»Du hast den Geist des Waldes geweckt.«
Dunkelheit erhebt sich vom Boden, umstreicht die Tiere wie finsterer Nebel und durchdringt ihre Haut. Die Schwärze breitet sich in ihren Körper aus, erfüllt ihre Augen, sie senken die Köpfe.
»Du hättest der Regel folgen sollen.«
Der Fuchs faucht angriffslustig, das Reh bleckt die Zähne und der Vogel zwitschert. Es klingt tödlich.
»LAUF.«
Diesmal lasse ich mir das nicht zweimal sagen. Ich stürme zwischen Reh und Hase hindurch und kaum habe ich das getan, preschen sie hinter mir her. Panik kontrolliert meinen Körper. Mir bleibt nichts anderes übrig als wieder in den Wald zu laufen und die Lichtung zu verlassen. Ständig blicke ich über meine Schulter, die Meute wird größer, wie ein Fluss ergießen sich die Tiere über den Waldboden. Sie alle haben diese schwarzen Augen.
»Der Geist hasst Menschen.«
»Du musst schneller laufen.«
»Er ist ohnehin mächtiger als ein Mensch.«
»Leise! Dieser Mensch darf sich uns nicht anschließen.«
Wie Brisen wehen die Gespräche der verlorenen Seelen um mich herum, ermutigen mich, treiben mich vorwärts. Trotz meiner Angst begreife ich. Es waren nicht die Toten, die uns Böses wollen. Es ist der Wald. Der Wald hasst uns Menschen und wir machen auf uns aufmerksam, wenn wir antworten. Ich hole die letzten Energiereserven hervor. Meine Verfolger müssten schneller sein als ich, aber das tun sie nicht. Sie jagen mich, weil sie Spaß daran haben. Für den Geist ist es nur ein Spiel.
Die Äste greifen nach mir, scheinen mich festhalten zu wollen. Nein, Moment… Ich schreie. Sie wollen mich tatsächlich festhalten. Die Zweige biegen sich um meine Arme, meinen Körper, schrauben sich fester. Kreischend strampele ich, sehe zurück, die Tiere kommen näher, die Äste schließen sich enger um mich. Seit Jahren wurde es uns verboten, über die Wege hinaus in den Wald zu gehen. Jetzt verstehe ich es, jetzt, in meinen letzten Sekunden.
»Schade. Ich hatte Hoffnung für diesen Menschen.«
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Eine Stimme und sonst nichts.
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