▸ ich darf nicht sterben.
für den wettbewerb von tulaychi
2210 wörter, thema: ein geschichtliches
ereignis. und da ich ohnehin viel zum
vesusvausbruch recherchiert habe...
tw: blut, tod, verzweiflung
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Es hat mit einem Beben angefangen, was hier nicht unüblich ist, sodass sich niemand etwas dabei gedacht hat. Hin und wieder erschaudert die Erde einfach, das ist vollkommen normal. Einige der Älteren haben gemeint, es erinnere sie an das Ereignis vor siebzehn Jahren. Verunsichert haben sie gen Berg geschaut als hätten sie Angst, dass es sich wiederholen könnte. Angeblich hat es genauso begonnen, aber das kann ich nicht beurteilen. Damals habe ich noch nicht gelebt.
Ich bin wie alle anderen in meinem Alter davon ausgegangen, dass es vorübergeht. Kaum bemerkt man, dass die Amphoren wackeln, schon stehen sie wieder gerade. Wir machen Scherze darüber, ich und die jungen Sklaven in unserem Haushalt. Manchmal warten wir darauf, dass der Boden erneut bebt, und lachen dann über denjenigen, den es überrascht und der stolpert. Mutter sagt uns immer, wir sollen das bleiben lassen, da es die Götter erzürnt, wenn man so über ihre Taten spricht. Wir halten uns an ihr Gebot – Bis sie uns den Rücken zukehrt.
Diesmal ist das Zittern zurückgekommen als würde es sich an uns rächen wollen. Nach einiger Zeit haben wir den Spaß an unserem kleinen Spielchen verloren und sind zu unseren Tätigkeiten übergegangen. Schließlich haben wir uns nur noch darüber geärgert, dass dieses ganze Beben stört. Rufia, eine Sklavin, die Vater in Rom mit vielen anderen ersteigert hat, und eine meiner besten Freundinnen, hat sich besonders aufgeregt.
Sie arbeitet sehr gewissenhaft, kann es überhaupt nicht leiden, wenn jemand sie von ihren Arbeiten ablenkt. Und – wenn keine Erwachsenen anwesend sind – wird sie sehr gerne laut. Manchmal denke ich, sie flucht den ganzen Frust darüber, dass sie nicht frei geboren wurde, heraus. Als Ziel muss dann alles leiden, was gerade da ist. Zu dem Zeitpunkt eben die Erde.
»Nein, also wirklich«, hat sie vor sich hingemurmelt, daran erinnere ich mich noch, an ihren genauen Wortlaut, den Ton ihrer Stimme, ihre wütend blitzenden Augen, »Das geht zu weit. Wie soll ich denn tun, was mir aufgetragen wird, wenn selbst die Götter etwas dagegen haben, hm? Eine Unverschämtheit. Wenn das nicht aufhört, statte ich dem Tempel höchstpersönlich einen Besuch ab.«
Darüber haben wir alle gelacht, denn es ist ihr als einfache Sklavin verboten, ohne Erlaubnis ihres Herren den Tempel zu betreten. Als wir das erwähnt haben, hat Rufia bloß geseufzt. Egal, wieviel sie schimpft, ihrem vorbestimmten Schicksal kann sie nicht entkommen. Hin und wieder allerdings habe ich das Gefühl, dass sie das gar nicht will – Wenn sie sieht, wie viele Pflichten ich erledigen muss, zum Beispiel.
Damit war das Thema für uns beendet, unser Gespräch hat sich in eine alltägliche Richtung gewandt. Bis zu diesem Moment. Es knallte so ungeheuerlich laut, dass selbst unsere Schreie nicht zu hören waren. Sie gingen einfach unter, die gesamte Stadt kreischte auf. Es hatte den Himmel zerrissen, offenbarte, was hinter dem hellen Blau lag. Natürlich stürmten wir alle zum Fenster, es war zum Berg gerichtet.
Keiner von uns konnte glauben, was er sah, denn so etwas hat noch nie jemand gesehen. Rufia, die nicht so leicht zu beeindrucken war, konnte sich nicht mehr rühren und mir ging es genauso. Uns allen. Erneut erzitterte das Haus, diesmal heftiger, begleitet von einem unheimlichen Geräusch. Langsam drehte ich mich um. Risse fraßen sich durch die Wand, wurden schneller, immer schneller und größer, wie ein Fluss, den man eine starke Steigung hinabfließen lässt.
Panik brach aus. Die Sklaven rannten aus dem Zimmer, wollten aus dem Ausgang fliehen, einzig Rufia und mich hielt es zurück. Ich musste wieder zum Berg schauen. Es war so faszinierend, so beängstigend. Tiefgrau stieg die Wolke auf, hatte den Gipfel mit sich genommen, erstreckte sich wie die Äste eines Pinienbaumes über den gesamten Himmel, der vor Kurzem noch ein strahlend schön war. Nun verdunkelte er sich schneller als abends in den Wintermonaten.
Ein weiteres Krachen dröhnte in der Luft, in meinem Körper. Zittern überzog meinen Körper, unkontrollierbar, und da krachte es wieder. Lauter als davor, heftiger, eine Druckwelle ergriff Rufia und mich, warf uns zu Boden. Staub hat sich über uns gelegt, ich habe ihn eingeatmet, gehustet, ein Kratzen in meinem Hals. Als die Sicht klarer wurde, wurde auch mir etwas klar – Was gerade passiert war.
Das Haus ist zusammengebrochen, nur unser Raum, der immer etwas außerhalb lag, wurde verschont. Der Teil, in dem alle anderen waren. Mutter, Vater, Schwester, meine Brüder, die Sklaven. Ein Trümmerhaufen. Ich weiß nicht mehr, was danach geschah, ich erinnere mich nur an meine verzweifelten Schreie, die Versuche, die Steine abzutragen. Und das Blut, in dem sich der Staub gelöst hat, das Blut, und die Schreie der Stadt, das Blut, meine Schreie, ein panisches, hoffnungsloses Kreischen, und oh, das Blut…
Rufias Griff an meinem Handgelenk. Ich erinnere mich an die Wärme an meinem Handgelenk. Danach fehlen mehrere Minuten.
»Wir müssen aus der Stadt!«, brüllt Rufia an meiner Seite. Ich stolpere neben ihr her, benommen, überfordert von der Situation, von den Bildern in meinem Kopf und vor meinen Augen. Leichen. Leichen, Blut, Staub, Feuer, Trümmer, Asche. Wie Regen rieselt es unaufhörlich auf uns hinab, alle paar Schritte straucheln wir vor Husten. Es schmerzt tief im Hals und im Oberkörper, jeder Atemzug ist begleitet von einem merkwürdigen, ziehenden Geräusch.
Erschöpfung droht mich zu übernehmen, doch die Panik hält dagegen. Will mich am Leben erhalten. Mich, weil die anderen alle tot sind. Ich will schreien, aber es würde zu sehr wehtun. Zwischen der Asche fallen Steine vom Himmel. Der Berg wirft sie auf uns, pechschwarze, große und kleine, die überall, wo sie eintreffen, Zerstörung anrichten. Die einst prächtigen Anwesen… Alles ein Desaster. Die Götter müssen uns hassen.
»Komm schon, wir müssen raus! Reiß dich zusammen!«
Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich stehengeblieben bin. Schweratmend setze ich unser Tempo fort, weiß aber, dass ich das nicht mehr lange kann. Und Rufia weiß es auch, ihre Stimme ist rau.
»Du musst es für sie überleben! Für deine Familie! Du darfst nicht sterben, wir dürfen nicht sterben!«, schreit sie durch all den Lärm. Es ist finster wie in der dunkelsten Nacht, Tränen ziehen helle Spuren durch den Ruß auf ihren Wangen. Meine Füße bluten.
»Wir schaffen das, ja? Wir überleben! Du darfst nicht sterben!«
Automatisch nicke ich, schaffe es nicht, zu antworten. Die Welt brennt und wir sind mittendrin. Aber Rufia hat Recht. Ich kann jetzt nicht sterben, ich darf nicht sterben, meiner Familie wegen. Ich muss unsere Linie weiterführen, den Handel übernehmen, die Bestattungen organisieren, mich um Rufia kümmern und… Mein Fuß bleibt an einem Stein hängen, ich falle.
Als meine Knie auf dem Boden aufprallen, spüre ich den scharfen Schmerz. Sofort greift Rufia meinen Oberarm, zerrt mich hoch. Blutflecken auf meiner verschmutzten Toga, Blutflecken, Blut…
»Wir müssen weiter!«
Wie betäubt nicke ich erneut, lasse mich von ihr mitziehen. Bei jedem Schritt stechen Dolche in meine Beine, ich werde nicht mehr lange durchhalten können. Mein Atem kratzt, mein Inneres scheint zu brennen. Schreie dröhnen in meinem Kopf, vielleicht von mir, Rufia, all den anderen rennenden Menschen.
Unaufhörlich schleudern die Götter Steine auf die Erde, um uns für unsere Verbrechen büßen zu lassen. Ich kreische vor Schmerzen, vor Trauer, Tränen lassen meine Sicht verschwimmen, doch das ist in Ordnung. So genau will ich nicht sehen, was vor uns liegt. Häuser stürzen in ohrenbetäubendem Lärm ein, der mit all dem anderen verschwimmt. Staub wirbelt auf, Rufia hustet, ich huste, wir straucheln. Noch mehr Tränen fließen wegen des starken Reizes über meine Wangen.
Wir kämpfen uns durch die Straßen, Gassen, Wege. Leichen zieren den steinigen Boden, ihre Köpfe sind von den fallenden Trümmern eingeschlagen und blutverkrustet, Blut, an ihren Hälsen, Oberkörpern, Beinen. Übelkeit steigt in mir auf, einzig Rufia ist es zu verdanken, dass ich nicht stehenbleibe und die Hoffnung aufgebe. Ich erkenne einige der Menschen. Viele habe ich in der Stadt gesehen, weiß sogar ihren Namen. Habe mit ihnen gesprochen. Und jetzt sind sie nicht mehr als leere Hüllen zwischen Ruinen, verdammt dazu, von allen vergessen zu werden.
»Wir sind bald am Stadtrand, wir haben es fast geschafft!«, versucht Rufia mich zu ermutigen, aber uns ist beiden bewusst, dass uns das nicht retten wird. Die Götter werden vor den Mauern nicht haltmachen, werden uns weiterhin heimsuchen. Was haben wir nur getan? Ich habe regelmäßig den Tempel besucht, habe Opfer dargebracht, nie eine schlimme Tat begangen. Und nun…
»Wir dürfen nicht sterben, du darfst nicht sterben«, höre ich Rufia erneut, sie wiederholt es ständig. Immer und immer wieder.
»Wir dürfen nicht sterben«, stimme ich ihr zu, meine Stimme bildet einen starken Kontrast zur Aussage. Ich weiß nicht, ob uns das gelingen wird. Die Steinbrocken werden größer, ich schlucke, um meine trockene Kehle zu befeuchten. Es schmerzt. Alles schmerzt. Wir rempeln gegen Leute, schließen uns einer Gruppe an, in der durchgehend Menschen… untergehen. Die Steine treffen sie, strecken sie nieder, die nächsten stolpern über den Körper.
Ein plötzlicher Ruck an meiner Hand reißt mich beinahe zu Boden. Ich wirbele zu Rufia herum, die bis jetzt meine Hand gehalten hat. Ihr Gesicht mit den wütenden Augen liegt im Staub und ich hätte den Brocken fast nicht gesehen, so viel Blut färbt ihn. Ihre dunklen Haare liegen ruhig im Dreck, um das Loch in ihrem Hinterkopf blitzen helle Splitter auf. Knochen. Blut. Tod. Rufia bewegt sich nicht mehr.
Ein eiskalter Stich in meinem Herzen lässt mich auf die Knie sinken. Um mich herum flüchten die anderen Menschen, niemand beachtet mich. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt, im Gegensatz zu ihr. Im Gegensatz zu Rufia, die bis zu ihrer letzten Sekunde an meiner Seite… Mein Körper erbebt durch das Schluchzen. Sie war das letzte, was ich hatte, und jetzt ist mir nur eine Leiche geblieben. Meine zitternden Hände umklammern sie. Halten sie fest als könnte ich sie damit zurück ins Leben holen, doch sie muss längst im Tartarus sein und das ohne Obolus.
Ihre letzten Worte sind das einzige, was meine Gedanken beherrscht, zu mehr bin ich nicht fähig, huste nur, schluchze, weine bitterlich, den Körper meiner Freundin an mich gepresst. Ich darf nicht sterben, hat sie gesagt, und eigentlich hat sie Recht. Ich muss… Ich muss das alles fortführen, oder? Ich muss meinen Verlobten in Rom finden und dann, dann… Ich weiß auch nicht.
»Es tut mir leid, es tut mir so leid«, wispere ich, kann mich über den Lärm nicht einmal selbst hören. Ich halte Rufia so nah an mir, dass das Blut ihres Hinterkopfes an mein Gesicht kommt. Ich will sie nicht umdrehen, denn dann würde ich ihren, toten Blick sehen – Und was ich im Gedächtnis behalten will, ist das Funkeln in ihren Augen. Ich darf nicht sterben, ich muss mich daran erinnern. Es muss jemanden geben, der sich daran erinnert, an sie, meine Familie, meine Freunde, diese Stadt.
Ich weiß, dass ich weiterrennen muss, um überleben zu können. Hinter mir schreit der Berg erneut, der Aufprall der ausgespuckten Trümmer trifft lautstark auf alles um mich herum. Ich weiß, dass ich aufstehen muss, aber… Ich kann nicht. Noch einen Moment, noch einen Moment so verharren, mit der rauchigen Luft um mich herum und den fliegenden Steinen. Dann werde ich weitergehen, nach Rom reisen und alles neu aufbauen. Genau. Das werde ich tun.
Ich darf nicht
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Spektakulärer Fund: »Ein sehr eindrucksvolles Zeichen, auch zweitausend Jahre nach ihrem Tod«
Pompeji, der 9. November 2023 – Auch wenn der Beginn der Ausgrabungen in der verschütteten Stadt bereits 1748 begann, stoßen Archäologen noch heute auf bedeutende Funde. Sie alle weisen auf das Leben der Menschen hin, die 79 nach Christus vom Ausbruch des Vesuvs überrascht wurden, an dessen Fuß sie lebten. Da es früher öfter Erdbeben in der Region gab, war niemand auf das gefasst, dass sie erwartete.
Nach Asche- und Bimssteinregen ergossen sich pyroklatische Ströme, eine Art lavaartige Masse, über die Stadt mit damals knapp 20.000 Einwohnern und begruben alles unter sich – Zum Glück der heutigen Wissenschaft. Alles, was die Ströme verschluckt hatten, ist beinahe perfekt erhalten, zum Beispiel kunstvolle Fresken, Altäre, Statuen, sogar Nahrung und natürlich die bekannten Körper der Pompejaner.
Der neueste Fund ist eher dem Zufall zu verdanken. Die »Freundinnen bis zum Ende« wurden nahe der Stadtmauern gegenüber des Vesuvs gefunden. Untersuchungen haben ergeben, dass die beiden Mädchen, beide zwischen zwölf und zwanzig Jahre alt, dem Bimssteinregen zum Opfer gefallen sind. Vermutlich hat ein Stein die erste im Hinterkopf getroffen, der dort ein Loch aufweist. Außerdem fand man einen Haarriss an ihrem rechten Oberschenkel, der wohl viel früher aufgetreten ist. Bei ihrer Flucht muss sie große Schmerzen erlitten haben.
Die andere Freundin habe sie festgehalten und wohl aus Trauer und Schock nicht mehr auf die Umgebung geachtet. Ein 80 Kilo schwerer Stein hat sie getroffen. Von ihrem Oberkörper konnten nur noch Knochensplitter gefunden werden, man arbeitet gerade daran, den Schädel zusammenzusetzen. Wer die Mädchen sind und welche Vorgeschichte sie hatten, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Man vermutet, dass sie beide Schwestern waren, die bis zum bitteren Ende gemeinsam durchgehalten haben.
»Diese beiden Mädchen sind ein sehr eindrucksvolles Zeichen, auch zweitausend Jahre nach ihrem Tod«, so der Ausgrabungsleiter, »Wir gehen davon aus, dass die zweite Freundin weiterflüchten konnte, sich allerdings dazu entschieden hat, bei ihrer Freundin zu bleiben. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Art der Freundschaft diejenige ist, die den Tod überdauert.«
Immer wieder fördern die Archäologen neue Artefakte zum Vorschein, die uns mit jedem Mal mehr Informationen über das alltägliche Leben geben – Und sie vermuten, dass diese Stadt noch Geheimnisse für weitere Jahrzehnte Ausgrabungen birgt.
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Gedenke, dass du sterben wirst.
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