Galadriels Spiegel

Die Welt war aus den Fugen geraten. 

Es war, als könnte Aragorn spüren, wie das Geheime Feuer flackerte und zuckte, verwirrt von dem plötzlichen Wechsel im Machtgefüge Mittelerdes. 

Gandalf war gefallen. Und erst jetzt begann Aragorn zu begreifen, dass der Zauberer mehr gewesen war, als ein merkwürdiger, alter Mann, der zu viel wusste und zu viel erahnte. 

Die Welt war aus den Fugen geraten. Und Aragorn hatte einen Freund verloren. 

Wie oft hatte er den Zauberer in Bree getroffen, ein Stück seines Weges geteilt, wie oft hatte er von ihm gelernt und ihm gelauscht, wenn er von alten Zeiten und großen Ereignissen erzählte. Er war ein Mentor gewesen, und vieles Wissen, auf das Aragorn stolz war, stammte von ihm. 

Und jetzt war er einfach nicht mehr da. 

Wieder und wieder spielte sich die Szene vor Aragorns innerem Auge ab. 

Wie Gandalf ihn an der Schulter packte. 

"Führe du sie weiter!"

Und wie Aragorn begriffen hatte, dass er damit nicht nur den Weg aus den Minen meinte. 

Gandalf war gefallen, und er konnte nur hoffen, dass sein Tod schmerzlos gewesen war.

Es war nun Aragorns Aufgabe, seine Verantwortung. Er war bereit, sie zu tragen, aber mit einem Mal lastete die Angst, nicht genug zu sein, einen verhängnisvollen Fehler zu machen, schwer auf ihm. 

Nicht einmal der Zauber Lothlóriens, der Klagegesang der Elben, nicht einmal die Ruhe im Sternenlicht zwischen den Bäumen, konnte diese Angst vertreiben. 

Aragorn saß auf der Wurzel eines großen Baums, versuchte, sich damit abzulenken, sein Schwert zu reinigen. Aber auch diese Tätigkeit war schnell erledigt, und nun saß er einfach nur noch da und starrte ins Leere. 

"Ich habe dich gesucht", sagte Legolas. Er hatte seine dunkelgrüne Reisekleidung abgelegt und trug nur noch eine silbrig weiße Tunika. "Darf ich mich zu dir setzen?"

Der Waldläufer nickte, und Legolas ließ sich neben ihm auf der Wurzel nieder. 

Sie sagten nichts, aber Aragorn war froh, dass er da war. 

Es beruhigte ihn, und er fühlte sich weniger allein. 

Gemeinsam lauschten sie dem Gesang der Elben von Lothlórien, der wunderschön und traurig zugleich war. In der Ferne plätscherte ein kleiner Wasserfall, und die Blüten kleiner weißer Blumen leuchteten merkwürdig hell im Licht der Sterne. 

"Es ist so ruhig hier", sagte Legolas. 

Aragorn nickte. "Als könnte keine Gefahr über die Grenzen dieses Waldes treten"

"Seit wir Bruchtal verlassen haben, habe ich mich nach einem solchen Ort gesehnt. Es tut gut, sich um nichts sorgen zu müssen"

Der Waldläufer schwieg. Er sorgte sich, trotz allem, und es war ein seltsamer, verwirrender Gedanke, dass er es eigentlich nicht tun brauchte. Er war in Lothlórien. Für seine Sorgen war später noch Zeit genug. 

"Darf ich etwas Unerwartetes sagen?", fragte Legolas. 

"Gern"

"Ich mag, wie dein Haar in diesem Licht glänzt"

Aragorn musste lächeln. Das war, in der Tat, ein unerwarteter Satz. Aber er gefiel ihm. 

"Sag, hast du dir schon einmal deine Haare geflochten?"

Er schüttelte den Kopf. 

"Darf ich deine Haare flechten?", fragte Legolas. 

"Wenn du das möchtest" Vielleicht war es Absicht, vielleicht auch nicht. Aber Legolas gelang es, ihn irgendwie von seinen Gedanken abzulenken.

Der Elb stand auf, kniete sich hinter ihn und begann, seine Haare in verschiedene Partien aufzuteilen. 

Aragorn gefiel die plötzliche Nähe, und er widerstand dem Drang, sich an Legolas anzulehnen. Es war viel zu lange her, dass sie das letzte Mal einen gemeinsamen ruhigen Moment geteilt hatten.

"Was genau tust du eigentlich?", fragte er nach einer Weile. 

Legolas lächelte. "Ich flechte ein Muster, dass ich als Kind getragen habe, als mein Haar noch nicht so lang war"

Das sagte Aragorn wenig, aber er beschloss, einfach abzuwarten. 

Manchmal strich Legolas mit den Fingerspitzen über seine Stirn, um einzelne Haare in die Frisur zu integrieren, dann streifte er mit der Hand sein Ohr. 

"Brauchst du noch lange?"

"Ich bin gleich fertig" Er gab Aragorn ein paar dünne Fäden in die Hand. "Halt die kurz fest, ja?"

Mit einem Faden nach dem anderen band er die einzelnen Zöpfe zu. 

"Jetzt bin ich fertig" Der Stolz in der Stimme von Legolas war nicht zu überhören. 

Aragorn stand auf, tastete vorsichtig nach seinen Haaren. Aber es gelang ihm nicht, zu verstehen, was genau der Elb da eigentlich getan hatte. 

"Komm, lass uns einen Spiegel suchen", sagte Legolas und griff nach seiner Hand. 

Der einzige Spiegel, den sie fanden, war der Galadriels. Verlassen lag das steinerne Becken da. Die Wasseroberfläche war glatt, obwohl ein leichter Wind ging, der sie hätte kräuseln müssen. 

Aragorn sah hinein. Er lächelte.

Legolas hatte seine Arbeit gut gemacht. 

Plötzlich aber änderte sich das Bild. 

Eine weiße Stadt, die brannte. Aragorn spürte den Hauch der Flammen auf seiner Haut, blinzelte, als er spürte, wie ihm Ascheregen in die Augen gewirbelt wurde. 

Gerstenmann Butterblume, der Gastwirt aus Bree, wie er gefesselt vor einigen Orks kniete. 

"Ich habe euch doch schon gesagt, ich weiß nicht, wo er ist! Ich habe ihn seit Monaten nicht mehr gesehen!" Er weinte. 

Aragorn wollte wegsehen, wollte, dass der Spiegel wieder blank wurde, aber sein Blick blieb fest auf die Oberfläche gerichtet. Und nichts schien die lange Schlange an Bildern, die der Spiegel für ihn bereit hielt, aufhalten zu können. 

Er sah Legolas, doch von den Spitzen seines blonden Haars tropfte Blut. 

Er sah Gandalf, wie er in eiskaltes Wasser fiel, sein Körper umschlungen von den Krallen des Balrogs. 

Er sah Frodo, der an den Hängen des Schicksalsbergen lag, müde und kraftlos. Seine Lippen waren aufgesprungen, und sein Mund zu trocken, um etwas zu sagen. 

Er sah - 

Eine Hand legte sich auf Aragorns Schulter. 

"Sieh mich an, Aragorn, Sohn von Arathorn", sagte eine Stimme. Sie klang wie Wasser, sanft und gleichzeitig machtvoll. Als wäre es nur eine Frage des Augenblicks, und sie würde sich in mächtige Wasserfälle und Regengewitter verwandeln. 

Aragorn richtete sich auf, und es gelang ihm endlich, den Blick vom Spiegel abzuwenden. 

"Du hast in Galadriels Spiegel geschaut", sagte sie. Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Mitleidig? Vielleicht. 

Legolas, der neben ihr stand, schaute betreten drein. 

"Es tut mir Leid, Frau Galadriel", sagte er. "Ich wollte nicht-"

"Dein Geliebter hat Dinge gesehen, die er nicht so bald vergessen wird, Legolas Thranduilion", sagte sie. "Du wirst ihm beistehen müssen, wenn die Erinnerung an den drohenden, nahenden Schatten zu groß wird. Er wird die Hoffnung brauchen, die du ihm geben kannst"

Aragorn spürte, dass sie Recht hatte. 

Er würde die Bilder nicht vergessen. 

Er würde sie in seinem Herzen tragen, und sie würden ihn antreiben, bis zum Äußersten zu gehen, um das Schlimmste zu verhindern.

Er würde sie in seinem Herzen tragen, und wenn er nicht aufpassen, würden sie nachts einen Weg in seine Albträume finden.

Legolas griff nach seiner Hand.
Aragorn drückte sie.

Er war froh, dass der Elb bei ihm war.

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