Elendils Erbe
Der Lauf der Sonne näherte sich dem Horizont, als Aragorn und Legolas Bree erreichten.
Nach so vielen Tagen in der Wildnis war es ungewohnt, auf der Straße anderen Reisenden zu begegnen. Ein Bauer kehrte abends von seinen Feldern heim, ein Hirte scheuchte seine Schafherde durch das große Eingangstor und ein Hobbit auf einem Pony, der die gelbe und grüne Uniform der Auenland-Post trug, beeilte sich, vor Einbruch der Nacht ins Innere des Städtchens zu gelangen.
Auf Aragorns Anraten hin trug Legolas eine Kapuze, die sein blondes Haar und die spitzen Ohren verdeckte. Allein die Anwesenheit eines Elben konnte hier für allerhand ungewünschte Aufregung sorgen.
Der Waldläufer grüßte den Torwächter - von allen, die er in Bree hatte kennenlernen dürfen, war er der angenehmste Geselle - und führte Legolas von der Hauptstraße weg, durch einige Seitenstraßen zum Gasthaus Zum Tänzelnden Pony.
Ein Nachtwächter kreuzte ihren Weg und entzündete die Laternen, bevor der letzte Sonnenstrahl hinter den westlichen Bergen verschwand.
"In meiner Heimat ist das Entzünden der Laternen, außer zur Zeit des Sternenfestes, ein geheiligtes Ritual", sagte Legolas.
Aragorn nickte. "Davon habe ich gehört"
"Eines Tages werde ich es dir zeigen, Estel", sagte Legolas. Aragorn hatte es noch nicht gewagt, jemandem außerhalb von Bruchtal seine wahre Herkunft zu verraten, und Legolas bei ihrem ersten Zusammentreffen daher den Namen genannt, der ihm in seiner Jugend zur Tarnung gegeben wurde.
Aragorn -oder Estel- blieb vor der Tür des Gasthauses stehen. Gelächter und der Klang einer schlecht gestimmten Laute drang durch das Holz. "Bereit?", fragte er.
"Gewiss", antwortete Legolas. Aragorn nickte, und überlegte kurz, ob der Elb irgendeine Ahnung von dem hatte, was ihn erwartete. Es war nicht anzunehmen, dass er Erfahrung mit Gasthäusern am Rande langer Straßen hatte. Er beschloss, es darauf ankommen zu lassen und öffnete die Tür.
Ein Schwall warmer, nach Bier riechender Luft schlug ihnen entgegen.
Im Inneren der Schankstube herrschte das typische Chaos. Düstere Gestalten tauschten Münzen, Nachrichten und Informationen, ehrliche Händler und Bauern vergnügten sich mit Geschichten und Liedern. Ein paar Hobbits- die in Bree deutlich robuster und abenteuerfester wirkten, als sie es im Auenland taten- spielten Karten.
Butterblume beugte sich über den Tresen und sortierte Besteck in unterschiedliche Körbe.
"Sei gegrüßt", sagte Aragorn und legte seinen, in lange, fingerlose Handschuhe gehüllten Unterarm auf der Platte des Tresens ab.
Der Wirt sah von dem Besteck auf. Er hatte dunkles, vage an blond erinnerndes Haar und trug eine lustige Mütze.
"Streicher", sagte er. "Dich habe ich lange nicht mehr in dieser Gegend gesehen. Und wer ist deine Begleitung?"
"Ein Freund von mir. Man kann ihm trauen" Aragorn neigte den Kopf in Butterblumes Richtung. "Ich brauche ein Zimmer für uns beide, für heute Nacht. Auf der Straße können wir nicht bleiben"
Butterblume nickte. "Ich habe nicht mehr viel frei. Ihr werdet euch mit einem einzigen Bett begnügen müssen"
"Es wird gehen. Ich danke euch"
"Ich werde Hinz rufen, damit er euch beiden den Weg zeigt" Butterblume läutete eine Glocke, die sich unter dem Tresen befand, und ein geschäftig wirkender Hobbit mit roten Locken tauchte von irgendwoher auf.
Aragorn bezahlte, und sie ließen sich von Hinz in ein Zimmer im ersten Stock führen. Es hatte eine niedrige Decke, die von dicken Balken gehalten wurde. Das Fenster führte in den Hof, wo einige Reisende ihre Pferde untergestellt hatten. Das Glas war milchig.
"Hier also bist du Stammgast?", fragte Legolas mit einem Schmunzeln.
Aragorn nickte. "Das Verlorene Reich von Arnor hat nicht besonders viele Gasthäuser. Es lohnt sich, sich in den wenigen, die es gibt, auszukennen, wenn man als Waldläufer in diesen Gegenden unterwegs ist"
Legolas setzte sich zu ihm auf die Bettkante. "Es ist traurig, wie sehr diese Gegend in sich zusammengeschrumpft ist, seit Arnor zerfiel und die folgenden Königreiche einer nach dem anderen zerstört wurden"
Aragorn sah ihn von der Seite an. Es war eines dieser Dinge, die Elben manchmal sagten, und man wusste nicht so recht, was sie damit meinten.
"Legolas", sagte er langsam. "Wie alt bist du eigentlich?"
Der Elb zuckte die Schultern. "Ich bin irgendwann durcheinander gekommen und habe nie nachgerechnet"
"Das klingt verständlich" Aragorn lachte. "Aber erinnerst du dich noch an die Zeit, als das Königreich von Arnor nicht zerfallen war?"
Legolas nickte. "Ich war nie dort. Aber als ich noch sehr jung war, bekam mein Vater Besuch von König Earendur. Ich beobachtete, wie er und seine Gefolgschaft unseren Palast erreichten"
"Du hast König Earendur getroffen." Aragorn wusste nicht, was er dazu sagen sollte.
"Wieso fragst du?"
"Er war der Letzte in meiner Linie, der einen elbischen Namen annahm"
"In deiner...du heißt nicht wirklich Estel, oder?", fragte Legolas leise.
Aragorn schüttelte den Kopf. "Ich bin Aragorn, Sohn von Arathorn. Ich bin Elendils Erbe, und auch Earendurs Erbe"
Der Elb schwieg lange, bevor er schließlich sagte: "Du kommst aus einem großen Hause, Estel, ich meine, Aragorn. Ich glaube, du bist würdig, das Erbe deiner Vorfahren eines Tages anzutreten"
Der Waldläufer zuckte die Schultern. "Ich komme aus dem Hause desjenigen, der es versäumte, den Ring der Macht zu zerstören, aus dem Hause derjenigen, denen es nicht gelang, sich mit ihren Geschwistern zu einigen, sodass das Königreich von Anor zerfallen und verfallen musste. Ich weiß nicht, ob ich das Erbe antreten, ob ich wiedergutmachen kann, was sie getan haben"
Legolas seufzte. "Darf ich?", fragte er, bevor er Aragorns Hand nahm. Der nickte. "Als ich dich das erste Mal traf, warst du allein an den Grenzen des Waldlandreichs unterwegs. Du fandest ein verletztes Reh, hast dich um es gekümmert und es geheilt"
Aragorn zuckte die Schultern. Was hatte ein geheiltes Tier damit zu tun?
"Die Hände eines Königs sind die Hände eines Heilers. Es heißt, daran werden die Menschen von Gondor ihren König erkennen, wenn er eines Tages zurückkehrt. Hast du dich je gefragt, warum das so ist?"
Er schüttelte den Kopf.
"Derjenige, der diesen Thron besteigen wird, wenn die Dunkelheit besiegt ist, wird viel Zeit damit verbringen müssen, Dinge zu heilen. Es gibt zerrissene Königreiche, von Kampf und Krieg geplagte Landstriche, Generationen von Traumata, die aufgearbeitet werden müssen. Derjenige, der den Thron besteigt, braucht die Hände eines Heilers, um zu flicken, was einst kaputt gegangen ist, und diese Welt wiederaufzubauen, nachdem vieles über Jahrhunderte hinweg im Niedergang gewesen ist."
Aragorn lehnte sich an die Schulter des anderen.
"Wenn das dein Weg ist, dann wirst du ihn beschreiten können. In deiner Linie gab es nicht nur Elendil, Isildur und die Geschwister, die sich nicht einigen konnten. Earendur war ein guter König, er war weise und gerecht. Arvedui, der letzte König von Arthedain, war großzügig und gütig. Dein Vater, Arathorn, war mutig. Und deine Mutter Gilraen...es ist auch ihr Blut, das durch deine Adern fließt"
"Danke", sagte Aragorn leise.
Eine Weile saßen sie so da, die Hände miteinander verschränkt, Aragorns Kopf in der Halsbeuge des Elben angelehnt.
"Erst dachte ich, es wäre ein Fehler, mich dir zu offenbaren", sagte Aragorn dann. "Aber jetzt bin ich froh, dass ich es getan habe"
Legolas strich ihm mit der freien Hand über den Rücken. "Ich danke dir für dein Vertrauen, Aragorn, Arathorns Sohn"
"Es ist schon spät. Wir sollten schlafen gehen"
Der Elb nickte. Sie standen auf und legten Mäntel, Waffen und Wämser ab, bis sie beide nur noch Tunika und Hosen trugen. Dann legten sie sich in das Bett, das so schmal war, dass sie sich aneinander schmiegen mussten, um beide hineinzupassen.
Aragorn spürte den warmen Atem des Elben dicht an seinem Hals, spürte, wie sich seine Brust langsam hob und senkte.
Legolas legte seinen Arm um ihn, als wolle er ihn beschützen, und bald war Aragorn eingeschlafen.
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