Der Nebel des Palantír

Denethor II., Ecthelions Sohn

Es tat weh. 

Wieso verstanden sie nicht, dass es wehtat?

Er hatte die Zukunft gesehen, er hatte weit geblickt und einen Blick in das Herz des Feindes erhascht - wenn man es denn so nennen mochte. 

Der Palantír von Minas Tirith war eines der wohlbehütetsten Geheimnisse der Festung, natürlich konnten sie nicht wissen, was er gesehen hatte. 

Aber dennoch. 

Sie erwachten jeden Morgen unter einem dunkleren Himmel, und wenn sie ihre Häuser verließen, sahen sie das Unwetter am östlichen Himmel heraufziehen. 

Wieso sahen sie es nicht, wie er es sah?

Bald, sehr bald würde Mordor angreifen. 

Es hatte Osgiliath bereits attackiert, und nur mithilfe des Muts seines älteren Sohns, Boromir, der Stärkere und Tapferere, hatten sie die Stadt, die einst die erste Hauptstadt Gondors gewesen war, zurückgewinnen können. 

Bald, sehr bald, würde Mordor die weiße Stadt Minas Tirith angreifen. 

Seit Jahren zog er bereits seine Truppen zusammen, dort, hinter den Mauern der Schattenberge, unter den düsteren Wolken des Todes. 

Es tat weh. 

Minas Tirith, die Stadt seiner Väter. 

Die Stadt, in der sein Sohn Boromir geboren war (und natürlich auch Faramir, sein anderer Sohn).

Die Stadt, die in der Sonne strahlte, als wäre sie selbst ein Silmaril. 

Sie hatte so viele tapfere Männer hervorgebracht, so viele Helden, und Jahrhunderte überdauert.

Der Feind würde angreifen. 

Bald. 

Er wusste es. Er hatte es gesehen. 

Er träumte davon. 

Er träumte, wie er in den Turm hinaufging, das Tuch vom Palanír nahm und hineinsah. 

Er träumte, wie ein großes flammendes Auge ihn anblickte. Es blinzelte nie. 

Es starrte ihn nur an. 

Und es sah

Es war, als könnte der Feind seine Gedanken sehen, seinen Ängsten lauschen, seine Geheimnisse enthüllen. 

Es tat weh, hineinzusehen. 

Aber zu herrschen bedeutete, Opfer zu bringen. Und einen Blick auf die Pläne des Feindes zu erhaschen war es eindeutig wert. 

Manchmal sprach Er zu ihm. 

Seine Stimme war dunkel wie aus den Tiefen des Schicksalsberges selbst. Die Sehnen in seinem Körper begannen leise zu schwingen, wenn Er sprach. 

Er. 

Sauron. 

Das große Auge. 

Es zeigte ihm Dinge, die dann wahr wurden. 

Es zeigte ihm Dinge, die anderswo geschahen. 

Es zeigte ihm Dinge, die waren. 

Und Denethor merkte sie sich alle. Er suchte diese Informationen, er brauchte sie, sie waren notwendig, damit er herrschen konnte. 

Er wollte ein guter Herrscher sein. 

Er wollte ein Herrscher sein. 

Er wollte ein Herrscher bleiben. 

Diese Stadt war sein Auftrag, seine Bürde, die Last, die er allein tragen musste. Das war der Fluch, das Versprechen seiner Geburt. 

Das Blut Númenors floss in seinen Adern, und er war es, der diese Stadt verteidigen musste. 

Es war seine Aufgabe. 

Seine allein. 

Immer öfter schlich er sich in den Turm und sah in den Palantír. 

Immer öfter erwischte er sich dabei, wie er die gewundenen Treppenstufen hinaufstieg, um einen Blick hineinzuwerfen, bevor er eine wichtige Entscheidung zu fällen hatte. Vielleicht gelang es ihm ja, Sauron die ein oder andere wichtige Information zu entlocken, die ihm helfen konnte. 

Und er träumte. 

Manchmal träumte er, dass er hinaufging, und dann erwachte er, und war wirklich dort, die Hände fest an die gläserne Oberfläche des sehenden Steins gepresst. 

Er musste es tun. 

Es waren verzweifelte Zeiten. 

Es wäre töricht, dieses Werkzeug nicht zu nutzen.

Der Palantír war ein Geschenk, ein Geschenk an die Widersacher Mordors. 

Und das war er, Denethor, schließlich: der Widersacher Mordors. 


Er wusste, dass sein Sohn tot war, bevor man ihm das zerborstene Horn brachte. 

Es war in der Mitte entzweigebrochen, und die Kraft des Flusses hatte bereits die Ränder der Bruchstelle geschliffen. 

Er war tot, sein Sohn war tot. 

Boromir. 

Er hätte ihn niemals fortschicken dürfen. 

Er hatte einen Fehler gemacht. 

Er war schuld an seinem Tod. 


Er wusste, dass Gandalf kommen würde, bevor die Torflügel des Thronsaals aufflogen. 

Er hatte falsch gelegen. Vielleicht war es gar nicht seine Schuld gewesen. 

Boromirs Reise nach Bruchtal war ehrenwert und von guten Zielen gewesen. 

Es war dieser Zauberkünstler gewesen, der ihn von seinem Weg abgebracht hatte. 

Wut stieg in ihm hoch. 

"Heil, Denethor, Ecthelions Sohn, Herr und Truchsess von Gondor. Ich komme mit Botschaft in dieser dunklen Stunde und auch mit Rat", sagte Gandalf. Der Halbling stolperte hinter ihm her. 

Denethor hob den Kopf. "Vielleicht kommt Ihr, um das hier zu erklären" Das Horn lag in seinem Schoß, eine immer wiederkehrende Erinnerung an seinen Schmerz, an den Tod seines Sohnes. 

Ein Schmerz, der nun in Wut umschlug, da Gandalf da war. 

Wieso glaubte der Zauberer, er könnte Minas Tirith retten, wenn er nicht einmal Boromir, den stärksten Sohn Minas Tiriths hatte retten können? 

"Vielleicht kommt Ihr, um zu erklären, warum mein Sohn tot ist", sagte Denethor. 

"Boromir fiel, um uns zu retten, meinen Vetter und mich, als er uns gegen zahlreiche Feinde verteidigte" Der Halbling ging an Gandalf vorbei und sank vor ihm, Denethor, auf die Knie. 

"Pippin!" (Es war ehrenhaft von dem Halbling. Natürlich gefiel das Gandalf nicht.)

"Was ich an Diensten leisten kann, biete ich Euch an, um diese Schuld abzutragen", sagte der Halbling. 

"Dies ist mein erster Befehl an dich: Wie bist du entkommen, mein Sohn jedoch nicht, er, der doch ein so starker Mann war?"

"Der stärkste Mann mag sterben durch einen einzigen Pfeil. Und Boromir wurde von vielen durchbohrt"

Die Grausamkeit der Aussage drang zu ihm durch. All die Größe, all die Tugendhaftigkeit und Stärke seines Sohnes, sie war am Ende nutzlos gewesen. 

Es war nicht gerecht. 

Nichts davon war gerecht. 

Es tat so weh. 

"Steh auf!", befahl Gandalf, und der Halbling gehorchte. Das würde Denethor ihm noch austreiben. "Mein Herr! Die Zeit, Boromir zu betrauern, wird es geben, aber sie ist nicht jetzt" 

Wer wagte es, ihm vorzuschreiben, wann er trauerte? 

"Krieg zieht herauf. Der Feind steht vor Eurer Türschwelle. Euch als Truchsess obliegt die Verteidigung dieser Stadt. Wo sind Gondor Streitkräfte? Ihr habt noch Freunde. Ihr seid nicht allein. Benachrichtigt Théoden von Rohan. Entzündet die Leuchtfeuer!"

Die Wut, die in ihm aufgestiegen war, brach hervor. 

"Du hältst dich für weise, Mithrandir. Doch besitzt du bei all deinem Scharfsinn keine Weisheit! Dachtest du, dass die Augen des weißen Turms blind seien? Ich habe mehr gesehen, als du weißt. Mit der linken Hand willst du mich als Schild gegen Mordor benutzen und mit der Rechten trachtest du danach, mich zu verdrängen. 

Ich weiß, wer mit Théoden von Rohan reitet, oh ja.

Ich habe Gerüchte gehört von diesem Aragorn, Arathorns Sohn und ich sage dir: Einem solchen Waldläufer aus dem Norden beuge ich mich nicht! Er ist der letzte aus einem lausigen Haus, seit langem der Herrschaft und Würde beraubt!"

Gandalfs Miene war unbefriedigend reglos. "Ihr habt keine Befugnis, dem König die Rückkehr zu verweigern, Truchsess!"

Das war zu viel. 

Denethor erhob sich, überragte den Zauberer von seinem Platz auf den Stufen des Throns. 

"Die Herrschaft über Gondor ist mein, und keines anderen!"

Einen Moment lang starrte Gandalf ihn an. Sein linkes Auge zuckte. 

Dann wandte er sich um. 

"Komm"

Sie gingen. Der weiße Mantel mit dem schmutzigen Saum wehte hinter ihm her. 

Der Halbling folgte ihm hastig, in übereilendem Gehorsam. 

Den würde er ihm wirklich austreiben müssen. 

"Alles ist zu eitlem Ehrgeiz verkommen. Selbst seinen Schmerz benutzt er als Deckmantel", sagte Gandalf. 

Er wusste, das Denethor ihn hören konnte. 

Aber Denethor hörte es gern. Er wusste gerne, was seine sogenannten Freunde wirklich über ihn dachten. 

Und einen Moment lang fragte er sich, ob Sauron nicht recht  hatte. 

Es gab in der Welt der freien Völker nicht mehr viel, was es wert war, verteidigt zu werden. 

Vor allem jetzt nicht mehr, da sein Sohn, da Boromir, nicht mehr dort war. 

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