Helfersyndrom
Kapitel 10
Sicht von Louisas Mutter (Madeleine)
Madeleine hatte kaum geschlafen. Unruhig hatte sie sich im Gästebett ihrer Schwester hin und her gewälzt. Immer wieder war sie aus Albträumen aufgeschreckt. Noch vor Sonnenaufgang gab sie auf und bereitete ein leichtes Frühstück in der Küche zu. Elaine musste bei Kräften bleiben. Doch als sie mit ein paar Leckereien zu ihrer Schwester kam, war diese kaum wachzukriegen.
Elaine, Madeleine rüttelte vorsichtig an der Schulter der Meerjungfrau, Elaine.
Als diese sich nicht regte stellte Madeleine die Schüssel mit dem Frühstück zur Seite und bückte sich besorgt zu ihr herunter. Sie legte das Ohr über Elaines Herz und lauscht. Es schlug rasch und flatternd wie ein Vogel. Madeleine seufzte erleichtert. Sie wusste, dass bei einer Erkrankung an mors maris zwischen vier Stadien unterschieden wurde. Anhand der Symptome ließ sich so ungefähr schätzen, wieweit die Krankheit fortgeschritten war. Sobald Halluzinationen auftraten wurde es wirklich kritisch. Irgendwann verlor man einfach das Bewusstsein und wachte nicht mehr auf. Wenn das Virus sich durch den gesamten Körper gefressen, alle Organe befallen hatte, starb man. Madeleine hatte während ihrer Ausbildung über mors maris recherchiert und war jetzt froh, dass sie zumindest ein wenig Ahnung von dem Virus hatte. So hatte sie das Gefühl zumindest ein wenig helfen zu können. Helfen war das einzige, was sie jetzt noch tun konnte. Ihre Töchter waren außerhalb von Antigua und die Chancen, dass sie sie niemals wieder sehen würde standen hoch. Doch sie war froh, dass zumindest Louisa und Geena in Sicherheit waren. Ihr Mann würde sich um die beiden kümmern. Sie würden nicht allein sein, wenn das hier alles vorbei war. Doch vorbei war es noch lange nicht. Madeleine weigerte sich einfach aufzugeben. Ihre große Tochter war auf dem Weg nach Atlantis, um ein Heilmittel zu besorgen. Die Chancen, dass die Wissenschaftler dort überhaupt in der Lage sein würden eines herzustellen, waren gering. Dazu kam noch, dass ihnen nur so wenig Zeit blieb. Selbst wenn es Louisa und den anderen gelang ein Heilmittel zu bekommen, so könnten es immer noch sein, dass niemand mehr übrig sein würde, den sie retten könnten, wenn sie zurückkämen.
Madeleine verbannte diese Gedanken aus ihrem Kopf. Sie musste sich auf das konzentrieren, was hier und jetzt passierte. Die Dinge, die sie noch verändern konnte. Hier in dem kleinen Haus ihrer Schwester konnte sie wenig tun, aber sie wollte sie auch nicht allein lassen. Es galt nicht mehr Meermenschen davor zu bewahren sich anzustecken. Aller Wahrscheinlichkeit nach war das längst passiert. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Madeleine erste Symptome zeigen würde. Sie vermutete, dass sie sich später infiziert, hatte, weil sie ja eigentlich an Land lebte und erst vor zwei Tagen wieder nach Antigua gekommen war. Wenn man von einer Inkubationszeit von bis zu drei Tagen ausging, könnte sie jederzeit anfangen auch die Farbe in den Schuppen ihres Fischschwanzes zu verlieren oder Zuckungen zu bekommen. Madeleine wollte eine Möglichkeit finden möglichst vielen zu helfen. Sie überlegte.
Um alles im Blick zu behalten, musste sie möglichst viele Meermenschen an einen Platz bringen. Am besten mit Versorgungsmöglichkeiten ausgestattet. Das Krankenhaus, wusste sie, platze jetzt schon aus allen Nähten. Dort konnten gar keine neuen Patienten mehr aufgenommen werden. Sie brauchte etwas Anderes. Etwas wie ein Lazarett. Sie musste neue Kapazitäten schaffen. Sie bräuchte eine große relativ freie Fläche. Am besten ein Feld mit weichem Sand und ohne Steine oder Korallen. So große freie Flächen gab es in Antigua allerdings nicht. Die lagen alle außerhalb der Stadt und somit auf der anderen Seite der Kuppel. Das Seegrasfeld. Plötzlich viel es ihr ein. Sie war schon lange nicht mehr dort gewesen, doch als Kind hatte sie sich häufig dort mit Freundinnen getroffen. Die Fläche lag direkt zwischen den zwei größten Wohnsiedlungen der Stadt, war eben und gänzlich mit Seegras bedeckt. Natürlich könnte sie nicht alle Einwohner der Stadt dorthin bringen, aber ein paar hundert Meermenschen hätten dort ausreichend Platz. Sie wusste, dass es nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein würde. 200.000 Meermenschen lebten in Antigua und sie schmiedete hier Pläne ein paar hundert Meermenschen zu helfen? Nein, sie musste sich etwas anderes überlegen. Doch allein kam sie nicht weiter.
Auf einmal klopfte jemand mit der Flosse gegen die alte Haustür.
Elaine, fragte eine Stimme, die Madeleine nicht kannte.
Sie ist hier, antwortete sie und schwamm zur Tür, um dem Besucher zu öffnen. Vor der Tür schwamm ein älterer Meermann. Sein Fischschwanz war eigentlich schwarz, doch zunehmend von farblosen Flecken durchsetzt, die an ein Kuhmuster erinnerten.
Wer sind Sie? fragte Madeleine. Sie kannte die meisten Freunde ihrer Schwester, weil sie in den letzten Monaten immer wieder hier gewesen war. Allerdings war es auch nicht schwierig die zu kennen, denn ihre Schwester war eher eine Einzelgängerin und ihre Freunde konnte man an einer Hand abzählen. Madeleine konnte nicht verstehen, wie ihre Schwester in so einer großen Stadt so zurückgezogen leben konnte, als wäre ganz allein im Ozean. Einmal hatte sie Elaine darauf angesprochen, ob sie nicht manchmal einsam war. Ihre Schwester hatte gelacht. Komm du erst mal in mein Alter, hatte sie gesagt und gelacht. Elaine war nur zehn Jahre älter als Madeleine. Allerdings war sie schon immer ein wenig seltsam gewesen. Umso mehr überraschte Madeleine der Meermann, der an ihr vorbeischwamm, sobald sie die Tür weit genug geöffnet hatte.
El, meine arme El, sagte er und strich Elaine das dunkelrote Haar aus dem Gesicht.
El. Madeleine hatte noch nie jemanden sie so nennen hören. Die meisten Meermenschen nannten sie crazy Lainy, weil sie zugegebenermaßen manchmal ein wenig wunderlich war. Ihre Freunde und Familie nannten sie einfach Elaine.
Wer sind sie? Fragte Madeleine nochmal, schloss die Tür und schwamm zu dem Fremden.
Verzeihen, Sie, dass ich mich nicht direkt vorgestellt habe. Mein Name ist Timothy. Ich bin..., er zögerte und schien nach dem richtigen Wort zu suchen, ...ein alter Freund von Elaine. Sie müssen Madeleine sein. Die Schwester. El, hat immer viel von ihnen gesprochen.
Madeleine hatte Elaine noch nie viel über irgendetwas reden hören. Sie nahm die Hand, die Timothy ihr reichte und schüttelte sie.
Von ihnen hat Elaine rein gar nichts erzählt, sagte sie, als sie seine Hand wieder losließ.
Ja, so ist sie manchmal, meinte der Meermann, als sei damit alles gesagt.
Ein paar Minuten waren vergangen. Madeleine schwamm mitten im Raum, während Timothy noch immer nah bei Elaine war. Er hatte sich auf dem Rand des Bettes niedergelassen und strich ihr wieder übers Haar. Wahrscheinlich redete er in privater Telepathie mit ihr. Madeleine fühlte sich fehl am Platz und wusste nicht was sie machen sollte. Sie kannte Timothy nicht und es kam ihr irgendwie ungewöhnlich vor, dass er plötzlich einfach auftauchte, aber was wusste sie schon über die Vergangenheit ihrer Schwester. Bis vor wenigen Monaten hatte sie sie jahrelang nicht gesehen. Der Meermann schien sie definitiv zu kennen und keine Gefahr für sie darzustellen. Vielleicht war es eine Fügung des Schicksals gewesen, dass Timothy gerade in diesem Moment gekommen war. Jetzt hatte sie jemanden, der bei Elaine bleiben konnte, während sie selbst rausging und sah wie sie anderen helfen konnte.
Wäre es in Ordnung für Sie, wenn ich Sie eine Weile mit Elaine allein lasse?
Timothy schien sie ganz vergessen zu haben, denn er zuckte zusammen, als er ihre Stimme hörte.
Oh, natürlich. Kein Problem. Ich bleibe bei ihr.
Die Straßen von Antigua waren gespenstisch leer, wie schon am Tag zuvor. Wo waren nur die ganzen Meermenschen? Versteckten sie sich alle allein in ihren Häusern?
Sie schwamm in Richtung Krankenhaus. Das wäre ein erster Ansatzpunkt um zu helfen. Ihre Pläne davon ein ganzes Lazarett zu errichten hatte sie fürs erste beiseitegeschoben. Sie musste sich zuerst einen Überblick davon verschaffen, wie schlimm die Lage war.
Plötzlich sah sie etwas Schnelles aus dem Augenwinkel. Sie schaute nach oben und sah zwei Meermänner, die etwa vierzig Meter über ihr gegen die obere Wand der Kuppel schlugen. Sie trugen eine lange Eisenstange und rammten, wie mit einem Amboss, gegen die massive Kuppel. Madeleine zögerte keinen Augenblick und schwamm zu ihnen.
Das bringt nichts, rief sie den beiden zu.
Wir müssen es versuchen, so der Kleinere von beiden. Er war um die dreißig und hatte einen Dreitagebart.
Was sollen wir anderes tun? Ergänzte der andere.
Ihr könnt den anderen helfen. Ihnen gut zu reden. Hoffnung geben.
Es gibt keine Hoffnung. Das war wieder der Kleinere. Er trug noch immer die Eisenstange. Kaum das er zu Ende gesprochen hatte, drehte er sich wieder um und begann von neuem die Kuppel zu bearbeiten.
Natürlich gibt es Hoffnung, wiedersprach Madeleine, Hilfe ist unterwegs. Wir müssen nur lange genug durchhalten, bis das Heilmittel uns erreicht.
Madeleine merkte, dass sie zuversichtlicher klang, als sie sich fühlte, aber Zuversicht und Hoffnung, waren das einzige, was ihnen jetzt die Kraft geben konnte durchzuhalten. Lange genug, bis Louisa kam und ein Heilmittel brachte. Sie würde es schaffen. Madeleine war sich sicher. Wenn jemand es schaffen konnte, dann war es ihre dickköpfige und verdammt mutige große Tochter. Sie war so stolz auf sie.
Wenn wir nur rauskommen... setzte der große Meermann an.
Was dann? Fragte Madeleine.
Ja, was eigentlich dann. Mal angenommen, sie würden es schaffen die Kuppel abzuschalten. Dadurch wären sie einem Heilmittel nicht einen Schritt nähergekommen und würden noch das ganze Meer anstecken. Sie könnten alle Meermenschen ausrotten. Nein, die Kuppel war schlimm und Madeleine fühlte sich gefangen, wie in einer Schneekugel, aber sie wusste auch, dass es die einzige Möglichkeit war die Krankheit auf einen Ort zu beschränken.
Den anderen zwei schienen diese Gedanken auch gekommen zu sein, denn sie schwiegen.
Kommt mit ins Krankenhaus, schlug Madeleine vor, Ich bin mir sicher, dass dort Hilfe gut gebraucht werden kann.
Die Meermänner stimmten zu und folgten Madeleine in Richtung Krankenhaus.
Im Krankenhaus angekommen war die Stimmung genauso, wie Madeleine sie erwartet hatte. Das Gebäude summte vor Betriebsamkeit, wie ein Bienenstock. Überall schwammen und lagen Meermenschen. Sogar die Sitzsäcke im Wartebereich waren zu Krankenzimmern umfunktioniert worden. Madeleine hielt eine Schwester an, die gerade an ihr vorbeieilen wollte.
Wir drei sind hier um zu helfen. Wo brauchen Sie uns am meisten?
Überall. Hier geht alles drunter und drüber, aber selbst mit Planung und Organisation können wir kaum etwas ausrichten. Wir können nur die Symptome bekämpfen, nicht die eigentliche Krankheit. Dazu kommt noch, dass auch die Ärzte und anderen Pfleger infiziert sind. Sobald mors maris bei ihnen zu weit fortgeschritten ist, werden sie selbst zu Patienten.
Sie sah ganz verloren aus. Madeleine viel auf wie jung sie war. Nicht älter als ihre Tochter Louisa. Wahrscheinlich war sie noch in der Ausbildung. Außerdem war ihre blassrote Schwanzflosse an der Spitze schon ganz weiß, beinah durchscheinend. Auch bei ihr würde es nicht mehr lange dauern, bis sie zur Patientin wurde.
Ich bin selbst Krankenschwester, versuchte Madeleine das Mädchen zu beruhigen.
Die Meerjungfrau nickte und deutete auf den hinteren Teil des Wartebereiches.
Dort warten die neuen Patienten. Schauen Sie nach welche Symptome sie haben. Dort ist auch eine Tür zum Vorratsraum. Sie werden alles Notwendige finden.
Madeleine bedankte sich kurz, doch die junge Krankenschwester war schon weitergeeilt. Die beiden Meermänner im Schlepptau schwamm Madeleine in den ihr zugewiesenen Bereich.
Mors maris zeigte sich in verschiedenen Symptomen und Ausprägungen. Viele fühlten sich müde und lethargisch. Ihre Augen waren gerötet, als hätten sie plötzlich eine Allergie gegen Salzwasser entwickelt. Sich weiß verfärbende Fischschwänze kamen auch häufig vor. Bei einigen war es nur dir Spitze, doch viele hatten ein richtiges Zebra- oder Kuhmuster auf der Schwanzflosse. Wäre es kein Symptom einer tödlichen Krankheit gewesen, hätte Madeleine den Anblick amüsant gefunden.
Einige Meermenschen mussten sich auch ständig übergeben, was unter Wasser alles andere als eine schöne Angelegenheit war. Es gab spezielle Tüten, die das ganze untere Gesicht verdecken konnten und sich komplett verschließen ließen. Madeleine hoffte nur, dass alle es rechtzeitig schafften so eine Tüte in die Hände zu bekommen. Zum Glück waren noch sehr viele davon im Vorratsraum. Sie schickte die beiden Meermänner los, damit sie die Tüten überall verteilten.
Madeleine schwamm zu allen Patienten hin und redete mit ihnen. Sie erzählte von ihrer Tochter, die unterwegs war Hilfe zu holen. Hoffnung. Das war das einzige, was diesen Meermenschen wirklich helfen konnte. Sie mussten daran glauben, dass sie alle noch eine Chance hatten. Sie mussten gegen mors maris kämpfen. Lange genug, bis sie geheilt werden konnten. Wenn sie kämpften, dann konnten sie überleben, doch wenn sie jetzt aufgaben, hatten sie schon verloren.
Sie müssen sich auch mal ausruhen, sagte eine Meerjungfrau plötzlich neben Madeleine. Es war die junge Krankenschwester, die sie getroffen hatte, als sie das Krankenhaus betrat.
Mir geht es gut. Besser, als den meisten anderen hier, antwortete sie, ich habe noch gar keine Symptome.
Sind sie da sicher? Die Meerjungfrau deutete auf Madeleines Fischschwanz, der von weißen Schlieren durchzogen war.
So das war das neuste Chapter. Ich hoffe es hat euch gefallen. Das nächste ist dann wieder aus Louisas Sicht. Ich habe leider gerade viel mit der Uni zu tun und weiß nicht wann ich das nächste uploaden kann. Ich kann aber schon mal versprechen, dass es echt spannen wird. :)
Wie hat euch dieses Chap gefallen? Gerne wie immer fleißig Voten und Kommentieren. Ich freue mich immer sehr darüber.
Viele Grüße
Eure Anni
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