Ein langer Weg
Kapitel 7
Aiden und ich mussten uns beeilen um Melodie nicht aus den Augen zu verlieren. Sie raste durchs Wasser wie ein Torpedo und ich fragte mich, wieso sie es plötzlich so eilig hatte. Klar, wir hatten nicht unbedingt viel Zeit, wenn wir das Heilmittel für mors maris beschaffen wollten, aber ich hatte das Gefühl, dass noch mehr dahinter steckte. Was hatten die Bewohner von Antigua erzählt, dass sie so in Angst und Schrecken versetzt hatte? Ihre Schwanzflosse bewegte sich so kraftvoll durch das Wasser, dass sich kleine Strudel hinter ihr bildeten. Sie war irrsinnig schnell und ich brauchte kein Messgerät um zu sagen, dass sie deutlich über hundert Meilen pro Stunde schnell war. Aiden und ich gaben uns Mühe zu ihr aufzuschließen, aber sie vergrößerte den Abstand zwischen uns immer mehr. Mein Freund hätte Melodie wahrscheinlich spielend leicht einholen können, aber mir fiel es schwer. Als Halbmeerjungfrau war ich weder so erfahren, noch so stark wie die anderen und fühlte schon jetzt wie mein Fischschwanz langsam erlahmte. Ich war noch nie so schnell geschwommen und fühlte mich völlig untrainiert.
Meermenschen schwammen oft weite Strecken. Sie hatten keine U-Boote oder andere Erfindungen. Ich hatte Aiden einmal gefragt, wieso es bei ihnen keine Autos gab. Er meinte, dass die Natur sie zu unglaublich schnellen Wesen gemacht hätte, sodass sie keine Hilfsmittel bräuchten. Natürlich wäre es einfacher gewesen ein Gefährt zu benutzen, aber mein Freund hatte gesagt, dass es sich einfach falsch anfühle sich von etwas schwimmen zu lassen. Meermenschen fühlten sich mit ihrer Umgebung, der Tier- und Pflanzenwelt tief verbunden und lebten in Symbiose mit ihr. Ganz im Gegensatz zu den Menschen waren sie ein insgesamt friedliches Volk, das seine Umwelt nicht zerstörte, sondern alle technologischen Erfindungen auf sie abstimmte. Deshalb wurden auch keine Strahlentechniken verwendet, wie die Menschen sie nutzten. Ich war in Physik nie besonders gut gewesen, aber ich wusste, dass Handys, Satelliten, Mikrowellen und viele weitere technische Dinge mit Strahlen und Wellen arbeiteten. Auch andere Dinge, wie Autos und Flugzeuge verpesteten die Erde, was unter anderem zum Klimawandel führte. Meermenschen kommunizierten nicht über weite Strecken, weshalb sie nicht einfach einen Notruf nach Atlantis hatten absetzen können. Mir kam es auch immer etwas seltsam vor, aber es schien einfach nicht in ihrer Natur zu liegen die Welt auszubeuten.
Melodie, rief ich nach ein paar Minuten und meine Gedankenstimme klang so erschöpft wie nach einem Sprint. Am liebsten hätte ich mein Tempo verlangsamt, aber wir konnten es uns nicht leisten Zeit zu verlieren.
Mel, rief nun auch Aiden, etwas langsamer. Louisa kommt nicht mit.
Wie bitte? Sie nannte er bei diesem albernen Spitznamen, aber ich war Louisa? Und wieso musste er mich als die bedauernswerte lahme Ente darstellen? Nein, ich war nicht eifersüchtig, oder so. Eher „oder so".
Melodie wurde tatsächlich ein bisschen langsamer und wir konnten zu ihr aufschließen. Ihr Gesicht war weiß wie eine Wand, sodass ihr langes rosa Haar dunkler wirkte. In der Hand hielt sie eine schwarze Schachtel, an der ein Band befestigt war. Sie war etwa so groß wie ein Handy.
Darin muss sich die Probe befinden, schoss es mir durch den Kopf und mir wurde flau im Magen. Wie sie das Kästchen wohl durch die Kuppel bekommen hatte? Vielleicht gab es ja irgendwo doch eine Art Tür.
Was haben sie gesagt, fragte Aiden, wie ist die Lage in Antigua?
Nicht gut, sagte die Meerjungfrau rundheraus und starrte beim Schwimmen gerade aus. Wir bewegten uns immer noch sehr schnell vorwärts und ich wäre beinah gegen Aiden geschwommen, weil so abgelenkt davon war Melodie anzuschauen, dass ich nicht mehr richtig geradeaus schwamm.
Was haben sie gesagt, bohrte mein Freund weiter, weil Melodie nicht weiter sprach. Sie ließ sich einen Moment Zeit, bis sie langsam zu erzählen begann.
Alle sind ziemlich panisch, was ja auch nur verständlich ist. Langsam organisieren sie sich und isolieren die Infizierten, was allerdings nicht besonders aussichtsreich ist, da die Krankheit sich durch das Wasser schnell übertragen kann und mittlerweile sicherlich viel Erreger in der Stadt herumschwimmen.
Wie viele sind infiziert, unterbrach ich Melodie und biss mir fest auf die Unterlippe.
Bitte, lass meine Mutter gesund sein, betete ich, bitte, lass sie sich irgendwo verstecken und sich nicht mit diesem schrecklichen mors maris anstecken.
Auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünschte, als dass sie sich raushielt wusste ich, dass hier lediglich der Wunsch Vater des Gedanken war. Meine Mutter war immer mit Leib und Seele Krankenschwester gewesen und würde sich von nichts in der Welt davon abhalten lassen so vielen wie möglich zu helfen. Sie war nun einmal eine Helfernatur und dafür liebte ich sie.
Etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung ist betroffen, fuhr Melodie fort, ich habe mit dem Chef des Krankenhauses gesprochen. Er hat mir die Probe gegeben und genaue Instruktionen für die Wissenschaftler und Ärzte in Atlantis. Er meinte allerdings auch, dass es eine Inkubationszeit von zweiundsiebzig Stunden gäbe und man daher die Zahl der Infizierten nur schätzen könne, sicher sei aber, dass es mehr werden.
Moment, unterbrach sie Aiden und ich bemerkte, dass wir unbewusst deutlich langsamer geworden waren, heißt das, auch wir könnten den „mors maris"-Erreger in uns tragen? Schließlich waren wir innerhalb der letzten drei Tage in der Stadt und mit den Meermenschen dort in Kontakt.
Angst stieg in mir hoch, als er das sagte. Wir könnten auch infiziert sein? Und was war mit Geena, meinem Vater und allen anderen an Land? Vielleicht hatten wir auch sie angesteckt und versteilten den Erreger gerade quer durch den Ozean, wo er alles und jeden anstecken könnte.
Das habe ich auch gefragt, aber Elias, der Arzt, meinte, dass das unwahrscheinlich sei, da wir nur recht kurz Kontakt zum Erreger gehabt haben. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das stimmt, weil ich weder von Medizin noch von Biologie besonders viel Ahnung habe. Vielleicht wollte er uns auch einfach nur beruhigen, weil wir ihre einzige Chance sind.
Na super, vielleicht waren wir also alle schon längst krank und bald tot. Sehr rosige Aussichten. Louisa, reiß dich zusammen. Du musst die Nerven behalten und positiv denken. Die anderen zählen auf dich. Ich versuchte mir selbst Mut zu machen. Leider funktionierte das nicht sonderlich gut und ich spürte, wie die kalte Panik sich wie eine Hand um meine Eingeweide schlang und sie nicht mehr losließ. Wenn ich hätte atmen müssen, hätte ich das Gefühl gehabt keine Luft mehr zu bekommen.
Wie merken wir, dass wir es haben, fragte mein Freund.
Elias hat erzählt, dass man im ersten Stadium der Krankheit sich hauptsächlich müde und lethargisch fühlt. Auch Übelkeit und Ausschlag können vorkommen. Die richtig schlimmen Sachen kommen erst im späteren Verlauf der Krankheit, wie Lähmungen, Taubheitsgefühle, Halluzinationen und Ohnmacht.
Bei ihren Worten zog sich mir der Magen zusammen und ich schluckte schwer. Das klang gar nicht gut, gar nicht gut.
Wir müssen uns einfach beeilen.
Das wird nicht so einfach, Aiden, sagte Melodie und klang wie eine Lehrerin, die mit einem naiven Schuljungen sprach, nach spätestens zwei Wochen endet diese Krankheit. Tödlich. Wir haben also nicht gerade viel Zeit um nach Atlantis zu schwimmen, das Gegenmittel zu beschaffen und zurückzukommen.
Wie weit ist es denn überhaupt, fragte ich.
Etwa 10.000 Kilometer. Das müssten wir in acht oder neun Tagen dort sein.
Das schaffen wir doch niemals. Es ist aussichtslos.
Noch ist nicht verloren, gab sich Aiden wie immer optimistisch, in Atlantis werden sie bestimmt Mittel und Wege haben uns schneller zurück zu bringen oder sie haben besonders schnelle Schwimmer, die die Strecke in der Hälfte der Zeit schaffen.
Selbst wenn, ich war weniger optimistisch, dann wären wir immer noch bei zwölf Tagen, also hätten die Wissenschaftler nur zwei Tage Zeit um das Gegenmittel zu entwickeln. Ein Serum, an dessen Herstellung sie schon seit Jahrhunderten scheitern.
Wir haben gar keine andere Wahl, sagte Melodie schnippisch.
Lass uns das durchrechnen, versuchte Aiden uns zu beschwichtigen, als ich gerade zu einer Erwiderung ansetzten wollte, 10.000 Kilometer. Wenn wir, sagen wir, fünf Stunden schlafen, dann haben wir jeden Tag neunzehn Stunden Zeit. Also neunzehn Stunden à 100 km/h ergibt etwas mehr als fünf Tage. Wenn wir noch ein paar Pausen mit einrechnen sind wir in höchstens sechs Tagen da. Also bleibt genug Zeit.
Aidens Rechnung kam mir ziemlich utopisch vor. Mit nur fünf Stunden Schlaf und ansonsten ununterbrochenem Schwimmen würde ich nach nur einem Tag völlig am Ende sein. Ich wusste nicht, wie es den anderen erging, aber ich für meinen Teil fühlte mich schon jetzt ziemlich erschöpft. Das sagte ich aber lieber nicht.
Wir schaffen das, sagte ich stattdessen und versuchte mich selbst dazu zu bringen es zu glauben, obwohl ich bei jeder Silbe die Unsicherheit und Mutlosigkeit in meiner Stimme hören konnte.
Dann schwiegen wir und hingen unseren Gedanken nach. Es gab einfach viel zu viel zu verarbeiten und so wenig, das wir tun konnten, abgesehen davon, so schnell wie möglich Richtung Atlantis zu schwimmen. Unter uns zog der dunkle Meeresgrund vorbei. Er schien sich immer weiter von uns zu entfernen und es dauerte eine Weile, bis ich bemerkte, dass das daran lag, dass das Meer tiefer wurde. Teilweise schwammen wir durch große Fischschwärme, die wahrscheinlich noch kaum ein Meeresforscher so beobachten konnte. Sie hatten keine Angst vor uns, weil sie spürten, dass wir als Meermenschen keine Gefahr für sie darstellten. Einmal schwammen wir über mehrere Haie hinweg, die uns zum Glück nicht bemerkten oder uns zumindest keine Beachtung schenkten. Wir entfernten uns immer weiter von der Küste und schwammen nur etwa zwanzig Meter unter der Wasseroberfläche. Die Sonne brach sich in den Wellen und streute genug Licht, als das wir perfekt sehen konnten. Wie das nachts werden würde, wollte ich mir lieber gar nicht ausmalen, weil ich die Echopeilung, die Meermenschen benutzen konnten um sich zu orientieren, nicht besonders gut beherrschte.
Mir kam es vor, als seien wir viele Stunden schweigend Seite an Seite geschwommen, aber es hätten auch nur dreißig Minuten sein können. In dieser Umgebung und ohne jegliche Anhaltspunkte war mir mein Zeitempfinden schon nach kurzer völlig abhandengekommen. Ich war einfach stur geradeaus geschwommen und hatte versucht mich gänzlich auf die kräftigen Schläge meines Fischschwanzes zu konzentrieren, um nicht an meine Mutter, die Krankheit und all meine anderen Probleme denken zu müssen. Die Monotonie hatte etwas beinah meditatives, was ein wenig einschläfernd auf mich wirkte. Zum Glück riss ich die Augen immer sofort wieder auf und ein Adrenalinstoß durchfuhr mich, wenn sie drohten mir zuzufallen. Leider schienen sowohl meine Adrenalinreserven, als auch meine Kräfte restlos aufgebraucht zu sein, als Melodie plötzlich das Tempo verlangsamte.
Wir müssen eine Pause machen, keuchte sie und ließ sich treiben.
Aiden und ich kamen neben ihr zum Halten und er schien genauso froh, über die Unterbrechung, zu sein wie ich.
Wir müssen uns unsere Kräfte einteilen. Das ist ein Marathon, kein Sprint.
Du hast Recht, sagte Aiden und sah sich um.
Wonach suchst du, fragte ich und folgte seinem Blick.
Um uns war nichts als karger Meeresgrund. Ein paar langweilig graue Fische schwammen umher und einige grüne Pflanzen trieben im Wasser.
Wir müssen etwas essen.
Und wo sollen wir bitte hier etwas zu essen finden? Kein McDonalds und auch kein KFC weit und breit. Wenn ich Hunger hatte, konnte ich ein bisschen grantig werden. Und Hunger hatte ich und was für einen. Bisher hatte ich es nicht richtig bemerkt, doch jetzt, als wir davon sprachen, bemerkte ich was für einen Kohldampf ich hatte.
Was ist McDonalds. Aiden sah mich fragend an und ich beschloss ihn, wenn das alles hier vorbei war, in das menschliche Kulturgut einzuweisen. Wie konnte es sein, dass er nicht mal eine der größten Fast-Food-Ketten der Welt kannte?
Wir können hier schon etwa finden und es wird sicher nicht so fettig und ungesund sein, wie McDonalds, sagte Melodie.
Na bitte, zumindest sie kannte sich in der Menschenwelt aus, auch wenn ihr Geschmack etwas fraglich war.
Als wir eine Weile später und nur ein Stückchen weiter im Wasser trieben und das aßen, was Melodie unter einer „leckeren Mahlzeit" verstand. Meiner Meinung nach taugte der seltsame Seetang nicht mal als Salat, aber in der Not Fraß der Teufel Fliegen, wie mein Vater immer so schön sagte. Melodie hatte mir schon in ihrem üblich überheblichen Tonfall erklärt, dass es sich bei unserem „Essen" nicht um Seetang, sondern um eine Cochayuyu-Alge handelte, die angeblich total gesund war. Als Melodie dazu noch einen kleinen Fisch verspreiste wurde mir endgültig übel und mir verging der Appetit. Aiden schien das Essen zu schmecken. Er langte zu, als gäbe es Spaghetti Bolognese. Das war mein Lieblingsessen und ich hätte einiges darum gegeben es jetzt hier zu haben, auch wenn sich das unter Wasser wahrscheinlich nicht so gut bewerkstelligen ließe.
Vorsichtig knabberte ich an einer Cochayuyu-Alge. Sie war widerlich salzig, was angesichts unserer doch recht salzlastigen Umgebung nur logisch war. Insgesamt bekam ich es aber runter. Besser als Brokkoli, aber schlechter als so ziemlich alles andere essbare.
Wir müssen weiter, sagte Aiden schließlich.
Ich war gerade wieder richtig zu Atem gekommen. Diese Redensart passte zwar nicht ganz, weil wir ja streng genommen gar nicht atmeten, aber das hielt mich nicht davon ab völlig erschöpft zu sein. Ich hatte sogar irgendwie Seitenstiche. Trotzdem protestierte ich nicht, als die anderen beiden sich wieder in Bewegung setzten, sondern folgte ihnen sofort. Ich wollte nicht, dass wir meinetwegen langsamer vorankamen.
Wir waren nochmal in paar Stunden geschwommen. Meine Arme waren lahm und meine Schwanzflosse fühlte sich an wie ein nasser Sack. Völlig erledigt träfe es nicht mal ansatzweise. Aiden und Melodie schienen bei weitem nicht so erschöpft zu sein, wie ich, was vermutlich daran lag, dass sie ganz Meermenschen waren. Wir redeten nur wenig, weil auch Telepathie bei dem schnellen schwimmen mehr anstrengte, als ich erwartet hätte.
Schwimmen wir eigentlich in die richtige Richtung, fragte ich irgendwann, weil ich die drückende Stille einfach nicht mehr aushielt.
Ja, sagte Melodie kurz angebunden.
Woher weißt du das, bohrte ich weiter. So schnell würde ich mich nicht geschlagen geben.
Ich weiß, wo der Ort ist und muss mich nur innerlich dafür öffnen und schon weiß ich wo es lang geht.
Aber wie, fragte ich. Ich wollte mich um jeden Preis davon abhalten darüber zu grübeln wie kaputt ich war, weil mich das nur noch erschöpfter machen würde. Da nahm ich schon lieber ein Gespräch mit Miss-„Ich weiß alles und bin toll" in Kauf.
Es liegt an unserer Fähigkeit uns am Magnetfeld der Erde zu orientieren. Wir können ziemlich leicht Dinge orten, wenn jemand uns telepathisch quasi die Koordinaten geschickt hat, erklärte Aiden.
Das war ja schon mal viel aufschlussreicher. Zu schade, dass ich diesen Supersinn nicht zu haben schien. Ich konzentrierte mich wie wild, aber ein Magnetfeld konnte ich nicht wirklich spüren. Vielleicht lag es daran, dass ich nur eine halbe Meerjungfrau war oder daran, dass ich mich einfach nicht genug fokussieren konnte, während ich irrsinnig schnell schwamm.
Vor drei Monaten hatte Aiden mir ein bisschen von den weiteren Meermenschenfähigkeiten erzählt. Dazu gehörten neben der Magnetfeldsache auch noch schnelle Selbstheilungskräfte und die Möglichkeit sich bei völliger Dunkelheit unter Wasser zu orientieren. Darin hatte ich mich als wenig begabt erwiesen. Nur die Selbstheilungskräfte schienen zu funktionieren, denn als ich mir mal den Arm an einem Felsen aufgeschlagen hatte, war der Schnitt innerhalb von einer Minute verschwunden gewesen. Mit größeren Wunden hatte ich es zum Glück noch nie ausprobieren müssen.
Langsam wurde es dunkel um uns herum. Das Licht schien sich immer weiter nach oben zurück zu ziehen. Meermenschen hatten ziemlich gute Augen und so konnten wir, da diese Fähigkeit auch bei mir hervorragend funktioniere, auch bei fast vollkommender Dunkelheit noch etwas erkennen. Ich hielt mich zwischen Melodie und Aiden, um sie nicht zu verlieren. Sie waren deutlich sicherer darin sich im Dunkeln und im Meer zu orientieren. Unter uns schien das Meer immer tiefer und schwärzer zu werden. Ich konnte nur noch wenige Meter unter mir etwas erkennen. Darunter erstreckte sich ein schier endloser Abgrund. Es fühlte sich sehr ungewohnt und gefährlich an. Ich hatte ständig das Gefühl, dass gleich etwas hochkommen und mich packen würde. Mein Bauch schien schrecklich angreifbar und ungeschützt. Was, wenn jetzt ein Hai kommen würde?
Aiden, das ist echt unheimlich, sagte ich zu meinem Freund in privater Gedankensprache. Es ging Melodie nichts an, dass ich Schiss hatte.
Ich pass auf dich auf, Lou, beruhigte mich Aiden sanft und nahm meine Hand. Sobald sich seine Finger um meine schlossen fühlte ich mich viel sicherer.
Mit einem Mal war es da. Ich zuckte zusammen und hatte das Gefühl, dass meine Eingeweide sich sprichwörtlich zusammenzogen. Ich wurde mit einem Ruck nach hinten gerissen und schaffte es nicht Aidens Hand festzuhalten. Etwas hatte sich um meine Flosse geschlungen und drückte so fest zu, dass ich dachte, sie müsste jeden Moment abfallen. Es fühlte sich einfach nur stark an, unfassbar stark und es machte mich völlig bewegungsunfähig. Ich ruderte mit den Armen, aber es war, als würden eine kleine Maus und ein Elefant ihre Kräfte messen. Und ich war definitiv die Maus.
Aideeen, schrie ich hilflos und griff mit den Händen in das Wasser vor mir, als könnte ich ihn so erreichen.
Aiden. Melodie. Keine Antwort. Absolute Stille.
Ich drehte mich halb um, was bedeutete, dass ich meine Befreiungsversuche für einen Moment aufgeben musste, aber sie waren ohnehin nicht gerade von Erfolg gekrönt gewesen. Es war beinah dunkel, deshalb brauchte ich einen Moment um das, was hinter mir war richtig zu erkennen. Ich blinzelte und geriet dann völlig in Panik. Um meinen Fischschwanz schloss sich ein gigantischer Tentakel mir riesigen Saugnäpfen daran, die sich jetzt an meinen Schuppen festsaugten. Ich entdeckte noch zwei, nein drei, weitere Tentakeln, die um mich herumwaberten, als wäre sie nur Schemen. Das, was sich jetzt mit unerbittlichem Griff um meine Flosse schloss war aber alles andere, als ein Schemen. Ein Krake ein riesiger Krake hatte mich in seiner Gewalt und würde mich wahrscheinlich jeden Augenblick zum Abendessen verspeisen.
Ich schrie und kaltes Salzwasser füllte meinen Lungen. Ich schrie trotzdem weiter, obwohl kein Laut zu hören war. Ich war so panisch, dass ich mich verhielt wie ein Mensch, aber ich war kein Mensch. Sobald mir das klar wurde, wusste ich, was zu tun war. Ich rief noch einmal laut und diesmal mit Telepathie nach Aiden und Melodie. Hoffentlich warn sie schon auf dem Weg und würden mich schnell finden, obwohl selbst Meermenschen bei dieser Dunkelheit nur wenige Meter weit sehen konnten. Die beiden waren vermutlich noch ein ganzes Stück weiter geschwommen, als ich zurückgerissen worden war, bis sie anhalten konnten und wer wusste schon, ob der Krake mich nicht bereits irgendwo hin zog.
Vielleicht bring er mich in seine Höhle, dachte ich und unwillkürlich schoss mir ein lächerliches Bild von einer Krakenfamilie an einem Esstisch durch den Kopf. Ich brauchte Sauerstoff definitiv und ein kleines bisschen weniger Panik hätte mir vermutlich auch gut getan.
Ich sammelte mich einen Moment und spuckte dann das ganze Salzwasser wieder aus, das in mich geströmt war, als ich geschrien hatte. Mir als Meerjungfrau würde es sicherlich nicht schaden ein bisschen davon zu schlucken.
Ich hörte auf mit den Armen zu rudern und verrenkte mich stattdessen so, dass ich mit den Händen meine Flosse und damit den Tentakel der Kraken erreichen konnte. Mit zitternden Fingern griff ich danach und versuchte sie von mir zu lösen. Leider war der Krake um ein vielfaches stärker als ich und es gelang mir nicht den Tentakel auch nur ein Stück zu bewegen. Ich gab auf zu ziehen und krallte einfach meine langen Fingernägel hinein. Fast sofort trat eine rote Flüssigkeit aus der Stellen aus, in die ich so fest gekniffen hatte, wie ich konnte. Es dauerte einen Moment, bis ich bemerkte, dass es Blut war und nicht meines, sondern das des Kraken. Ich hatte ihn tatsächlich verletzt. Leider schien es ihn nicht im Mindesten zu stören, dass ich meine Nägel in ihn bohrte. Im Gegenteil, er schien eher noch fester zuzudrücken. Ich erhöhte meine Bemühungen den Tentakel des Kraken von meiner Flosse zu befreien und riss an den Saugnäpfen, bis ich tatsächlich einen in der Hand hielt. Sofort ließ ich ihn angewidert los und bemerkte, dass noch mehr rotes Blut aus dem Kraken waberte.
Plötzlich zuckte der Tentakel und riss mich ruckartig herum. Irgendwas schien ihn getroffen zu haben. Einen Augenblick später sah ich Melodie und Aiden, die einen großen Stein gepackt hatten und damit wieder und wieder auf den Kraken einschlugen. Jetzt sah ich auch den Kopf den Kraken und wusste, dass ich diesen entsetzlichen Anblick nie wieder würde vergessen können. Dieses Wesen würde mich wochenlang in meinen Albträumen verfolgen.
Aiden und Melodie schienen Erfolg zu haben, denn der Tentakel, der sich um mich geschlungen hatte, lockerte sich ein wenig. Ich versuchte mit der Flosse zu schlagen und ruderte wieder wie verrückt mit den Armen, um frei zu kommen. Ein Ruck und ich war frei. Unkontrolliert machte ich einen Purzelbaum, bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte. Sofort sah ich mich zu den anderen um, die immer noch gegen den Riesenkraken kämpften. Eine große wabernde Wolke aus Blut hatte sich um sie gebildet, sodass ich sie nur noch erahnen konnte.
Ich bin frei, rief ich ihnen zu, wir müssen hier abhauen.
Ganz deiner Meinung, stimmte Melodie mir zu und es musste eine Premiere sein, dass wir uns einig waren.
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