Kapitel 11 - Ungewissheit
Fluchtwege fand ich keine. Jedenfalls keine Geeigneten.
Also machte ich mich wieder auf den Weg zu unserem Ausgangspunkt. Es war sicher eine Stunde vergangen. Der Platz war inzwischen ziemlich voll geworden. Auf der kleinen Bühne wurde ein Mikrofon angeschlossen. Einige Besucher trugen violett Farben T-shirts mit der Aufschrift der Partei. Viele hatten Schilder und Plakate dabei, die sie stolz in die Luft hielten. Ich lächelte. Meine Eltern gehörten auch dieser Partei an und unterstützten sie tatkräftig. Erst in dem Moment merkte ich, wie sehr ich sie vermisste. Ich straffte meine Schultern und ging weiter.
Niemand war da. Ich hoffte nur, dass sie noch rechtzeitig eintreffen würden.
***
,,Es geht los.", bemerkte Holly, als um ungefähr drei Uhr ein älterer Mann auf die Bühne stieg. Wie durch einen Schalter wurde es lauter auf dem Platz. Abgesehen von Jubelrufen und Klatschen hörte man nichts mehr um sich herum. Die vorherige Stunde war enttäuschend gewesen. Durch die Unmengen an Menschen waren kaum Fluchtwege möglich. Wir hatten uns gemeinsam alles angesehen. Mittlerweile sah ich es als gewaltigen Fehler an, dass wir gekommen waren. Ich wusste allerdings, dass es ein viel größerer Fehler sein würde, waren wir an Ort und Stelle. Zwar wäre es weniger gefährlich für uns, wenn ich allerdings an die tansenden Menschen, die vor meiner Nase für Gerechtigkeit kämpften, dachte, war es auf jedenfall die richtige Entscheidung. Das Schicksal war schließlich noch lange nicht geschrieben. Es musste nicht dazu kommen, was wir den ganzen Tag ausgemalt hatten. Vielleicht würden sie garnicht kommen. Vielleicht lagen wir falsch. Niemand wusste es. Doch Sicherheit war alles. Andererseits, was würden fünf unerfahrene, naive Jugendliche schon ausrichten können?
Ein lauter Ton ließ mich aufschrecken. Ich verzog mein Gesicht. Das Mikrofon des Vorsitzenden, der schon längst mit seiner Rede angefangen hatte, war wohl zu nah an einen Lautsprecher gekommen. Einige hielten sich die Ohren zu. Es war, als würde sich der scheußlich Ton in jedes anwesende Gehirn brennen und diese kurz aussetzen lassen.
Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis der Ton sich endlich legte und in der lauten Menge unterging. Ich blickte in einzelne gequälten Gesichter in der Menge. Dann sah ich zur Bühne. Zu meiner Verwunderung stand der Partei-Vorsitzende alles andere als nah an dem großen Lautsprecher stand. Nicht mal so, dass er hätte in den letzten zwei Sekunden zur Seite gehen können. Verwirrt sah ich mich in der Menge um. Es schien niemandem aufgefallen zu sein. Die Stimmung war wieder ausgelassener. Viele lachten über den kurzen Vorfall.
Mein Blick blieb an einer Stelle haften. Dort stand ein schwarzer, großer Van, der dort vorher mit ziemlicher Sicherheit nicht stand. Ich ließ meinen Blick weiter wandern.
Meine Augen weiteten sich leicht. Ein zweiter, identischer Van in der gegenüberliegenden Ecke des Platzes, der dort ebenfalls vorher nicht war.
Ich machte die Vier darauf aufmerksam. Sie sahen sich ebenfalls alarmiert um.
,,Denkt ihr, dass ist...", fing Jemma an, doch ihre Stimme brach ab.
,,Keine Ahnung. Könnte sein.", murmelte Marc.
Ich versuchte mit aller Kraft zu erkennen, wer hinter der verdunkelten Scheibe den Wagen fuhr. Still betete ich, dass es nicht der Mann war, der uns unsere Freiheit genommen hatte. Der uns grob gepackt hatte. Der Waffen auf unsere Köpfe gerichtet hatte.
Ich fragte mich - unpassender hätte der Moment dafür nicht sein können - wie wir reagieren würden, würden wir Jaxon oder seinen Vater sehen.
Oder besser: Wie würden sie auf uns reagieren? Würden sie schießen? Uns gefangen nehmen? Mit uns kämpfen? Oder würden sie uns einfach laufen lassen?
Das Auto wendete. Ich hielt die Luft an. Durch die Frontscheibe würde man sie erkennen können. Dann erkannte ich die Person.
Entäuschung machte sich in mir breit.
Jaxon.
Ich erkannte ihn. Seinen ersten, angespannten Ausdruck, der nicht - absolut nichts - über seine Gefühle verriet. Die Augen. Der Mund. Die Haare. Einfach alles, was mir bereits bei unserer ersten Begegnung aufgefallen ist.
Es kam mir realer, als je zuvor, vor. Auch, wenn wir sicherlich 50 Meter von dem Van entfernt waren, hatte ich das Gefühl, er hätte uns entdeckt.
,,Er ist hier. In dem Auto. Das ist Jaxon.", sagte ich mit erstaunlich fester Stimme.
Die Anderen sahen angespannt zu dem Wagen.
,,Und jetzt?", fragte Dan stutzig.
Ich sah auf. Wir hatten tatsächlich keinen Plan. Wir hatten uns so auf die Versteck Möglichkeiten distanziert, dass wir die eigentliche Situation total vernachlässigt haben.
,,Wir gehen hin. Wir gehen zum Van."
***
Die Anderen waren mit meiner Ansage überhaupt nicht glücklich. Ich schlug vor, uns hinter irgendetwas in der Nähe des Vans zu verstecken.
Schließlich einigten wir uns darauf, dass wir uns aufteilen würden. Marc und Holly sträubten sich - warscheinlich einfach aus Prinzip - nicht mit mir zu kommen. Auch Jemma blieb bei ihnen.
Dan war der einzige, er sah zwar hin und hergerissen aus, doch er entschied sich, mich nicht alleine gehen zu lassen.
,,Nur das du's weißt. Ich bin nicht gegen dich.", sagte er, als wir außer Hörweite waren.
Ich sah ihn überrascht an.
,,Wieso redest du dann nicht mit mir?", fragte ich. ,,Ähm... das ist nun mal nicht so einfach.", er wollte sich noch weiter rechtfertigen, doch ich fiel ihm ins Wort. ,,Du traust dich nicht.", stellte ich bitter fest.
Er nickte zögerlich.
Ich zuckte mit den Schultern. ,,Ist okay.", murmelte ich. Dan war nunmal nicht sonderlich willeststark. Er würde sich immer an Jemma hängen. Sie war seine beste Freundin. Ich wusste, dass er niemanden über sie stellen würde.
,,Danke.", sagte er nach kurzem Schweigen.
,,Bedank dich nicht.", erwiederte ich prompt, ,,Es wäre völlig verständlich gewesen, hättest du etwas gegen mich. Das, was ich gesagt habe, generell, wie ich mich verhalten habe... das war wirklich nicht in Ordnung."
Er schwieg. Ich auch.
,,Wo verstecken wir uns jetzt?", fragte Dan, als wir uns in der Nähe des Vans befanden.
Ich sah mich um. Auch dort gab es kaum Versteck Möglichkeiten. ,,Da.", ich zeigte auf ein Café, dass unmittelbar neben dem Auto war. Dan zog die Brauen hoch. ,,Da?", sagte er misstrauisch. Ich nickte.
Langsam schlichen wir uns an und setzten uns an einen freien Tisch draußen. Die Zeitung hatte ich von Weitem gesehen. Ich nahm sie und hielt sie vor meine Nase. Dan machte es mir nach.
Ab und an schielte ich an der Zeitung vorbei. Der Van bewegte sich keinen Millimeter.
Ich hob eine Braue. Er wartete auf irgendetwas. Aber was?
Eine junge Frau kam an unseren Tisch.
,,Hallo. Kann ich Ihnen schon etwas bringen?", fragte sie freundlich und hielt einen kleinen Notizblock bereit.
Ich sah fragend zu Dan. Er schüttelte fast unmerklich den Kopf.
,,Nein, danke, wir überlegen noch.", sagte er mit fester Stimme. Seine Zeitung sank ein wenig. Ich drückte sie schnell wieder nach oben, damit sie sein Gesicht verdeckte.
,,Kein Problem. Rufen Sie mich einfach, wenn wir soweit sind.", lächelte sie und ging weiter zum nächsten Tisch.
,,Gut gerettet.", sagte ich knapp und konzentrierte mich wieder auf das Auto vor unserer Nase.
Ich konnte, aufgrund der verdunkelten Scheibe, Jaxons Gesicht nicht erkennen.
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