Taktik: Provokation

Jetzt konnte man sie endlich komplett sehen - und der Schein trügte, sie sah eher unerwartet aus.

Ryo war keines Falls groß, sondern noch ein Stück kleiner als Aori. Dabei hatte sie allerdings die gleiche zierliche Figur mit sehr dünnen Armen und Beinen. Ihre Haare waren dunkelgrau, oder matt-schwarz, wie man es auch nennen mag. Sie gingen ihr fast bis zur Taille und sie hatte einen geraden, ordentlichen Pony und Mittelscheitel. Ihre Augen leuchteten orange und ihre Zähne waren extrem spitz, ähnlich wie bei Soul, nur noch übertriebener. Sie trug grau-weiße Schuhe, die an den äußeren Seiten schräg nach hinten abstehende Ausläufer und einen weiß gezackten unteren Rand hatten, eine dunkelgraue Leggins, sowie einen eng anliegenden Pullover in der gleichen Farbe, allerdings hatte dieser jeweils 3 weiße, dünne, senkrechte Streifen links und rechts an der Taille. Der „Buckel" auf ihrem Rücken war eigentlich eine große Rückenflosse, jedoch konnte man nicht wirklich erkennen, ob diese an ihrem Oberteil befestigt war, oder ihr tatsächlich aus dem Rücken wuchs. Jetzt machte alles Sinn; ihr Outfit repräsentierte einen Hai.

Sobald ihr großer Mantel den Boden berührte wandte sie sich zu Minai, die die ganze Zeit besorgt zu Aori geschaut hatte, und rief mit ausgestreckten Armen: „Eiswachstum!"

Bevor Minai, die ja wirklich, wirklich schnell war, überhaupt bemerkte, was passierte, gefror sie von den Füßen ausgehend langsam Stück für Stück mehr ein. Ihre Mitschüler waren geschockt und wollten ihr gerade helfen, als Ryo sie unterbrach:

„Halt! Nicht so schnell, wenn ihr versucht, das Eis aufzubrechen, zerbrecht ihr mit 99,9%-iger Chance auch ihren Körper. Ihr Leben liegt ganz allein in Aoris Händen!"

Aori war einfach nur geschockt und konnte sich nicht mehr bewegen. Sie flehte mit leerem Blick: „Lass sie gehen! Sie hat damit nichts zu tun!"

„Natürlich, das habe ich auch vor...wenn du mit mir kommst. Keine Eile, wir haben Zeit. Überleg es dir ruhig genau."

Aber Aori konnte einfach nicht mehr klar denken. In ihrer Verzweiflung tat sie das einzige, was ihr in diesem Moment einfiel, ohne über eventuell mögliche Konsequenzen nachzudenken.

Soul Protect, auflösen!"

Kaum waren diese Worte gesprochen, entfaltete sich Aoris wahre Seele - und die war nicht gerade leicht zu übersehen. Maka und Professor Stein, die sich eben noch um Minai gekümmert hatten, sahen Aori voller Entsetzen an, während sich ihre Seele nur noch weiter ausbreitete. Es kam einem Sturm nahe, einzelne Steine lösten sich vom Boden und der Schatten unter Aori wuchs zu der doppelten Größe heran.

Während der Wind, der noch von ihrer Seele ausging, allen den Atem raubte, fing Ryo wie wild an zu grinsen und rief: „Ja! Das ist die Seele, nach der ich gesucht habe! Exakt die gleiche Wellenlänge wie... Kagome-sama!"

Als Aoris Seele endlich zu voller Größe herangewachsen war, hatte sie locker die Ausmaße eines Drittels der gesamten Shibusen!

„Das ist unglaublich... Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie eine so starke und mit negativer Energie angereicherte Hexenseele gesehen!" brachte Stein gerade so heraus, während er immer noch über Aoris Seele staunte und diese von oben bis unten musterte.

Minai war mittlerweile schon bis über den Hals eingefroren, konnte aber trotzdem alles ganz genau beobachten und war ebenfalls sprachlos, wobei sie ohnehin durch das Eis nicht mehr sprechen konnte.

Dieser ganze Tumult, der nur wegen ihrer Seele entstanden war, war Aori herzlich egal und sie rief ohne zu zögern: „Shadow Strike!", woraufhin sich ein paar dünne, längliche Schatten aus ihrem „Hauptschatten" lösten und mit enormer Geschwindigkeit auf Minai zuflogen. Blitzschnell drangen sie überall in das Eis ein... und durchbohrten Minai! Es bildeten sich viele kleine Risse und der Eisblock zersprang einfach - Minai war aber immer noch unversehrt!

Das Erste, dass die gerade Befreite machte, war tief Luft zu holen und sich danach bewusst zu werden, dass sie halb erfroren war. Doch dann bemerkte auch sie, dass sie ganz klar von den Schatten durchbohrt wurde, aber keine Verletzungen davongetragen hatte.

Aori kam sofort zu ihr gerannt und umarmte sie, dann fragte sie sie, ob alles ok wäre.

„Ja schon, aber... Wie hast du das gemacht?"

Auch die anderen hatten ihre Scheu etwas mehr verloren und waren neugierig über Aoris Rettungsaktion geworden.

Sie selbst wagte es nicht, ihnen in die Augen zu schauen und meinte mit dem Blick zum Boden: „Schatten sind keine feste Materie, deshalb kann ich durchaus bestimmen, in welcher Form ich sie benutze."

Ryo flippte auf ihrer schwebenden Eisscholle fast aus vor Freude und konnte sich gar nicht mehr im Zaum halten. „Eine solch überragende Macht, die Fähigkeit, seine Attacken so präzise zu kontrollieren... Das ist wahrhaftig meine Meisterin! Diese Macht, diese unbändige Kraft... Zeig sie mir! Eissplitter!"

Um Ryo herum bildeten sich riesige Eiszapfen, die nach ihrem Befehl allesamt zielgerichtet auf Aori zuflogen. Ohne sich auch nur einen Millimeter zu bewegen murmelte diese: „Shadow Shield!"

Ihr Schatten formte eine noch leicht durchsichtige, dunkle Halbkugel vor ihr und die Zapfen prallten einfach daran ab und zerbrachen in tausend kleine Stücke, als wären es winzige Glasscherben. Aoris Blick hob sich wieder und sie schaute Ryo voller Finsternis an. Ryo dagegen ließ es sich nicht nehmen, weitere ihrer Eissplitter auf sie zu feuern, dieses Mal löste sich die junge Hexe allerdings in einer schwarzen Nebelschwade auf, um hinter ihrer Gegnerin wieder aufzutauchen und diese sofort wieder mit ihren Schatten zu attackieren. Das nützte nicht wirklich etwas, da Ryo entweder schnell auswich, oder mit dem Befehl „Eiswand!", wer hätte es gedacht, eine dicke Eiswand vor sich errichtete, die Aori zwar mühelos zerstörte, Ryo aber trotzdem Schutz bot und ihr genug Zeit zum Fliehen verschaffte.

Die beiden kämpften so, teils munter, teils stinksauer, vor sich hin und Aori schaffte es auch einige Male, Ryo zu treffen oder sie mit ihrem Schatten gegen eine Wand zu donnern, selbst getroffen wurde sie auch nicht, aber sie konnte trotzdem keinen einzigen für Ryo verhängnisvollen Schlag ausführen. Die Eishexe mit Hai-Totem lachte immer noch, das hatte sich während dem gesamten Kampf nicht geändert. Außerdem beachtete sie die anderen Anwesenden überhaupt nicht und versuchte auch noch, mit Aori ein Gespräch anzufangen:

„Merkst du nicht, was ich meine? Du hast ein unglaubliches Potenzial, ganz ausschöpfen kannst du es aber nicht. Du bist um ein Vielfaches stärker als ich, kannst mich aber trotzdem nicht besiegen. Woher kommt das? Vielleicht bist du ja auch einfach nur schlecht drauf heute, oder du kannst mit der Situation nichts anfangen, aber ich würde sagen, du hattest einfach nie einen richtigen Lehrer! Sei ehrlich, hast du schon mal gegen eine andere Hexe gekämpft? Mit Magie? Nein? Siehst du, ich hab Recht! Deine Mutter hat mich aufgenommen, als ich ungefähr in deinem Alter war. Sie wollte mich töten, doch ich blieb hartnäckig. Ich habe sie schon immer bewundert und schließlich hat sie mich bei ihr in die Lehre genommen. Ich habe so viel bei ihr gelernt und bin wesentlich stärker als normale Hexen geworden. Sie war wie eine Familie für mich und für dich gilt das gleiche! Ich mag zwar jetzt dir gegenüber schwach erscheinen, bin aber, entgegen meiner äußerlichen Erscheinung, sehr stark - dank deiner Mutter!"

„Kannst du eigentlich auch mal die Fresse halten?!! Is mir doch scheißegal, niemand interessiert sich für dich und deine Lügengeschichten!! Und jetzt verreck endlich!!!"

Immer noch lachend entgegnete Ryo: „Ob du mir nun glaubst oder nicht, spielt keine Rolle. Wahrheit und Lüge sind ohnehin bloß Ansichtssache, das glaube ich zumindest."

Wieder musste sie Aoris Schatten ausweichen, doch die Situation wurde langsam brenzlig für sie. Aori war so wütend, dass sie sich nicht auf einen ordentlichen Kampf konzentrieren konnte, weshalb sie Ryo auch noch nicht längst besiegt hatte, aber ihre Wut begann langsam, die Überhand über sie zu bekommen und es fiel Ryo zunehmend schwerer, einer Attacke unbeschadet zu entgehen.

Noch ein letztes Mal baute sie eine Eiswand vor sich auf, wich dann blitzschnell aus und schnappte sich schließlich ihren roten Mantel, der immer noch, nun leicht staubig, auf dem Boden lag. Sie schwang sich zurück auf ihre schwebende Eisscholle und rief Aori grinsend zu: „Ich würde es sehr schätzen, wenn wir unseren Kampf auf ein ander Mal verschieben! Es ist nicht so, dass ich feige wäre, allerdings kenne ich die Ausmaße der Kurayami-Magie nur allzu gut und mein Leben bedeutet mir schon noch etwas. Also dann, hoffentlich sehen wir uns bald wieder, Aori-chan!" Mit diesen letzten Worten flog sie davon.

Aori rannte ihr ein Stück nach und schrie: „Hau nicht einfach ab, du Feigling!" Als sie ihr gerade hinterher fliegen wollte, hielt sie jemand an der Schulter fest und umarmte sie dann seitlich. Minais Wärme ließ sie langsam wieder zu Verstand kommen und ihr Gesichtsausdruck normalisierte sich wieder. Sie entspannte ihren gesamten Körper und konnte sich in der Umarmung komplett fallen lassen und sich endlich beruhigen, doch dann sackten ihre Beine in sich zusammen und Aori landete unsanft auf dem Boden.

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