19

Die Wochen bis zu den Sommerferien vergingen mit viel Streit. Streit zwischen Jannis und seiner Mutter, weil er den Hausarrest missachtete und ständig überall war, außer in seinem Zimmer. Streit zwischen seinen Eltern, der ihn nachts wach hielt. Streit mit den Lehrern, die versuchten Jannis davon zu überzeugen, dass Hausaufgaben und Klassenarbeiten ernst zu nehmen waren und er sich mehr Mühe geben sollte, wenn er was aus seinem Leben machen wollte.

Weniger Stress Zuhause hatte Lesz, denn er war nie dort. Zum Essen, zum Schlafen. Die übrige Zeit verbrachte er mit seinen Freunden oder mit Svea und Skorupy im verlassenen Haus. Er hatte erwartet, dass seine Oma deswegen Stress machen würde, aber sie tat es nicht. Viel mehr ignorierte sie ihn.

Am Tag der Zeugnisvergabe rollte die Kraus den Fernsehschrank in den Klassenraum.

„Geil, zwei Stunden schlafen", flüsterte Jannis Lesz zu.

„Ich hätte der zugetraut heute noch Unterricht zu machen", erwiderte der.

„Nur noch zwei Stunden, dann können wir gehen. Dann sind wir frei", meinte Jannis. „Und irgendwann bekommen wir das letzte scheiß Zeugnis. Dann bin ich weg hier."

„Weg wohin?"

Jannis zog die Schultern ein wenig hoch.

„Keine Ahnung. Egal. Einfach weg." Er schaute Lesz in die Augen und grinste.

„Einfach weg", wiederholte er und nickte langsam. „Sagste das auch, wenn dich jemand fragt, was du nach der Schule machen willst?"

„Klar", grinste Jannis. „Einfach weg."

Lesz lachte leise, während die Kraus vorne die Schranktüren öffnete und hintereinander drei Fernbedienungen in die Höhe hielt.

„Warum haben Lehrer eigentlich nie Ahnung wie das funktioniert?", fragte Jannis und beobachtete, wie sie mit ihrer Hand an den Seiten des Fernsehers entlangstrich.

„Ist halt echt schwierig. Du könntest das auch nicht besser."

Jannis hob eine Augenbraue, drehte sich nach vorne und streckte seine Hand in die Höhe.

„Frau Kraus?"

Sie drehte sich um, eine der Fernbedienungen in der Hand, und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Jannis?"

„Leszek möchte Ihnen gerne helfen."

Ihr Blick wanderte ein Stück nach links, wo Lesz Jannis böse anschaute.

„Das ist aber lieb von dir", sagte sie und rückte ein wenig beiseite.

„Arschloch", zischte Lesz und trat Jannis kräftig auf den Fuß, ehe er seinen Stuhl zurückschob, aufstand und sich seinen Weg nach vorne bahnte.


Jemand schüttelte Jannis. Er rutschte ein wenig zur Seite, um dem Griff zu entkommen.

„Jannis", vernahm er Leszs Stimme. „Wach auf, wir kriegen gleich Zeugnisse."

„'s so gemütlich gerade", murmelte er und positionierte seinen Kopf ein wenig anders auf seinem Arm.

„Wach auf jetzt." Lesz schüttelte fester und langsam wurde es ungemütlich. Der Knochen in seinem Ellbogen rieb unangenehm über den Tisch und ein Ziehen machte sich in seinem Nacken bemerkbar.

„Bin ja wach", grummelte er und hob den Kopf. Richtete sich mit geschlossenen Augen auf und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, ehe er die Augen öffnete und ins helle Licht blinzelte. „Ich hab gerade so schön geschlafen."

„Du kannst gleich im Park weiterschlafen", meinte Lesz.

Jannis gähnte, streckte sich und sackte dann wieder in seinem Stuhl zusammen.

Einige Klassenkameraden wuselten herum, die Kraus sortierte irgendwelche Zettel. Der Fernseher war schwarz.

Mit dem Klingeln zum Stundenbeginn wurde die Tür aufgestoßen und Leo trat ein. Die Kraus seufzte tief, sagte aber nichts, als er wortlos an ihr vorbeilief und Jannis' Tisch ansteuerte.

„Kommt ihr mit?", fragte er und stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab.

„Wohin?", fragte Jannis und schlang die Arme um seinen Oberkörper.

„Ein Kumpel von Kian macht 'ne Party zum Ferienbeginn."

„Leopold, setzt du dich bitte? Ich möchte anfangen", rief die Kraus von vorne.

Leo richtete sich auf und wandte sich ihr zu.

„Nichts lieber als das, Madam", grinste er und drehte sich nochmal um. „Also, wenn ihr Bock habt. Es gibt jede Menge zu saufen", sagte er und ging dann auf die andere Seite des Raumes zu seinem Platz.

Vorne rief Frau Kraus den ersten Namen von ihrer Liste auf.

„Was sagst du, klingt geil, oder?", flüsterte Jannis Lesz zu.

„Schon. Aber ich möchte erst nach Skorupy sehen."

„Oder wir gehen direkt mit Leo mit."

„Und Skorupy?"

„Svea ist doch da. Sie kommt auch mal einen Tag ohne dich aus."

„Bloch", rief die Kraus.

„Ich warte unten", sagte Leo laut und nickte Jannis zu, als er den Blick hob.

„Ja, bis gleich", erwiderte er. Er drehte sich wieder zu Lesz und legte seinen Arm um dessen Schulter. „Ich will dich dabei haben, du bist doch mein bester Freund." Er suchte Leszs Blick und setzte ein Lächeln auf. „Komm schon. Ich komm morgen mit zu Skorupy und wir spielen den ganzen Tag mit ihr."

Lesz erwiderte Jannis' Blick und seufzte.

„Bitte", wiederholte Jannis und rückte etwas näher an ihn heran. Seine Sitznachbarin stand auf und ging nach vorne.

Lesz seufzte erneut und grinste dann.

„Na gut", lachte er und Jannis drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

„Das wird geil", sagte er.

„Engel", rief die Kraus kurz darauf. Jannis legte Lesz die Hand auf die Schulter.

„Bis gleich unten", sagte er, nahm seinen Rucksack und holte vorne das wertlose Stück Papier mit den Zahlen darauf ab. „Wir sehen uns gleich draußen, ich bin bei Leo", sagte er zu Marti und Vroni, die in der zweiten Reihe saßen und verließ dann zum letzten Mal in diesem Schuljahr das Schulgebäude.

Freiheit.


Zusammen mit Leo fuhren sie mit der Bahn in den Süden der Stadt und holten Kian von der Schule ab. Inmitten einiger Typen in Jogginghosen und mit Kappen auf dem Kopf kam er auf sie zu und begrüßte Leo mit Handschlag.

„Warum immer die linke Hand?", fragte er lachend, als er die rechte wieder sinken ließ, um mit links bei Jannis einzuschlagen.

„Wieso immer die rechte?", erwiderte der untermalt vom Klatschen ihrer aufeinander schlagenden Handflächen.

„Keine Ahnung, das macht man halt so."

„Ja, aber warum?"

„Keine Ahnung, Alter", lachte Kian und wandte sich Vroni zu, die neben Jannis stand.

„Eben. Deshalb die linke."

„Du bist bescheuert", grinste Kian und schaute Vroni ins Gesicht. „Hey, ich bin Kian."

„Ich weiß", grinste Vroni und hielt ihm die Hand hin, aber er zog sie in eine Umarmung. „Oder so", lachte sie, legte ihre Hände kurz auf Kians Rücken ab und trat einen Schritt zurück.

Leo drehte sich eine Zigarette und reichte Jannis den Tabak, während Kian Lesz die Hand hinhielt. Auch er und Marti stellten sich vor, dann liefen sie nach links die Straße runter.

„Kommt ihr alle mit zu Niklas?", fragte Kian.

Jannis teilte seine Zigarette mit Lesz, Marti und Vroni.

„Ist der Plan", erwiderte Marti.

„Geil. Umso mehr, desto besser. Ich würde sagen wir gehen zu mir, vortrinken und dann gehen wir zu Niklas, saufen. Jemand Einwände?"

Sie erreichten eine Bushaltestelle und stellten sich neben eine Traube Schülern, die das Wartehäuschen und den umliegenden Bürgersteig einnahmen.

„Klingt gut", sagte Jannis.

„Weißt du ob André kommt?", fragte Leo.

„Der ist gar nicht eingeladen. Letzte Mal hat er Niklas' Laptop mitgehen lassen."

Leo hob eine Augenbraue und verzog seine Lippen zu einem breiten Grinsen.

„Hat er echt?", fragte er und nahm den letzten Zug von seiner Zigarette.

„Ja, Mann, das ist auch nicht witzig. Niklas war echt angepisst, man beklaut seine Freunde nicht." Kian schaute Leo ein wenig skeptisch an. Der schnipste seine Kippe weg und lachte leise.

„Doch, das ist schon echt witzig", meinte er.

Zusammen mit gefühlt der ganzen Schule quetschten sie sich in den Bus. Der Fahrer versuchte die Türen zu schließen.

„Den Türbereich frei machen, sonst stehen wir Weihnachten noch hier", rief er nach dem vierten misslungenen Versuch über die Lautsprecher. Die Menschen rückten noch ein wenig enger zusammen und Kian zuckte grinsend mit den Augenbrauen, als Jannis an ihn gedrückt wurde.

„Romantisch", meinte er und Jannis legte den Kopf ein wenig in den Nacken, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

Es wurde sehr warm im Bus. Schweißgeruch breitete sich aus und an jeder Haltestelle musste der halbe Bus aussteigen und sich dann wieder in die Sardinenbüchse quetschen.

Sie waren alle durchgeschwitzt, als sie an einer Plattenbausiedlung ins Freie stolperten.

„Freiheit", ächzte Leo, streckte die Arme über den Kopf und beugte sich nach vorne, als wolle er beten.

„Los, auf die Knie!", forderte Kian ihn auf.

„Fick dich, es ist viel zu warm." Leo richtete sich wieder auf und holte seinen Tabak aus seiner Kutte.

„Alle da?", fragte Vroni und drehte den Kopf, während sie durchzählte.

„Keine Sorge, in dieser Hölle bleibt keiner von uns freiwillig", sagte Marti. Die Bustüren schlossen sich, der Bus fuhr ab und die sechs überquerten die Straße. Sie folgten einem gepflasterten Weg zwischen immer gleich aussehenden Plattenbauten hindurch, bogen um eine Ecke und dann erstreckte sich das riesige Graffiti vor ihren Augen.

„Wow", hauchte Vroni, während Jannis sich Kian zuwandte.

„Hast du das eigentlich gemacht?", fragte er.

Die schwarze Nacht wurde von der Sonne erhellt, die Fenster reflektierten die Strahlen und sahen aus wie seltsame Lampen, die jemand in die Wellen geschmissen hatte.

„Was denkst du?", grinste Kian.

„Ja", sagte Jannis und das stolze Grinsen verriet Kian noch bevor er zustimmte.

„Warte, warte, du hast das gemacht? Das da?", fragte Vroni und rahmte mit dem Finger das Graffiti ein. Sie näherten sich dem Haus.

„Ja", sagte Kian, das stolze Grinsen wurde noch ein wenig breiter.

„Wow, das ist so cool! Das ist ... wow!"

Kian lächelte sie an und Vroni erwiderte das Lächeln.

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