17

„Wisst ihr was? Ich kann auch einfach wieder gehen", zischte Jannis am Sonntagabend. Er war es gewöhnt, dass seine Mutter enttäuscht von ihm war und dass sie es ihn spüren ließ, aber sein Vater? Der hatte ihn nie angeschnauzt. Bis heute nicht.

„Genau das wirst du nicht tun! Du bleibst hier, junger Mann!", brauste seine Mutter auf. Ihre Augen waren gerötet von all den Tränen, die sie vergossen hatte und die Ringe unter ihren Augen dunkel von all den Stunden, in denen sie nicht geschlafen hatte.

„Das war wirklich nicht in Ordnung, Jannis. Die ganze Nacht und den ganzen Tag wegbleiben ohne uns Bescheid zu sagen." Sein Vater schüttelte den Kopf und auch unter seinen braunen Augen lagen andere Schatten als die, die er von einer Nacht in der Kneipe nach Hause trug. „Ich verstehe dich ja, mein Junge, aber diesmal hat deine Mutter wirklich Recht."

„Diesmal?" Jannis' Mutter wandte den Blick von ihm ab und drehte sich zu seinem Vater. Ihre Stimme gewann noch ein wenig an Höhe. „Sonst hab ich kein Recht?"

Jannis bewegte sich langsam rückwärts in Richtung Haustür.

„Lass es gut sein, ich bin doch auf deiner Seite", versucht sein Vater zu schlichten, aber seine Mutter hatte Blut geleckt. Mit erhobenem Finger holte sie tief Luft, zeigte auf ihre eigene Brust und begann so laut von ihrem schweren Leben zu erzählen, dass man es bestimmt vor der Haustür noch hörte.

Jannis schlüpfte wieder in seine Schuhe, griff sich seine Jacke von der Garderobe und schlüpfte aus der Tür ins Freie bevor es irgendjemand mitbekommen hatte.

Er machte sich auf den Weg zu Lesz, aber weit kam er nicht.

„Was machst du hier?", grinste er, als Leszek ihm auf dem Bürgersteig entgegen kam.

„Ich wollte zu dir, keinen Bock auf Zuhause", rief Lesz zurück.

„So'n Zufall, ich wollte zu dir", lachte Jannis. Sie schlugen beieinander ein, als sie einander erreichten und umarmten sich dann. „Lange nicht gesehen."

„Ewigkeiten", stimmte Lesz zu.

„Was machen wir jetzt?"

„Erstmal weg hier. Ich möchte eh nach Skorupy sehen."

„Wir waren gerade erst bei ihr", lachte Jannis, drehte sich aber nach rechts. „Lass 'n Umweg gehen und nicht bei mir vorbei."

Lesz nickte und ging hinter ihm her zwischen zwei geparkten Autos hindurch auf die Straße.

„Hast du vergessen wie klein sie ist? Überleg mal was ihr alles passiert sein kann in der Zeit, in der wir nicht bei ihr waren", erwiderte Lesz mit einem Lächeln auf den Lippen.

Jannis grinste und boxte ihm gegen die Schulter.


„Wir haben was vergessen", sagte Jannis, als sie das leerstehende Haus erreichten und vor der Eingangstür zum Stehen kam.

Leszek nickte.

„Scheiße."

„Ich würde sagen ich ruf' Leo nochmal an, oder?"

„Und jetzt soll ich ihn jedes Mal um Hilfe bitten, wenn ich Skorupy sehen will?" Lesz hob die Augenbrauen an und verschränkte die Arme.

„Ich weiß nicht, vielleicht zeigt er dir ja wie das geht. Mit Schlösser knacken und so."

Lesz schaute an ihm vorbei auf die Straße.

„Hast du irgendwie ein Problem mit Leo?", fragte Jannis und suchte seinen Blick.

„Nein, ja, keine Ahnung. Ich hab gerade einfach keine Lust auf sein Getue, weiße, wo eh alles Scheiße ist." Er zog die Augenbrauen zusammen und blickte auf seine Schuhspitze runter, mit der er den Dreck auf den Steinen zur Seite schob.

Jannis legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Ich verstehe. Komm, heute rufen wir ihn nochmal an und dann soll er's dir beibringen, so schwer kann das nicht sein, okay?"

Lesz hob den Blick, schaute Jannis in die Augen und nickte.

Jannis lächelte.

Lesz lächelte.

„Na gut", stimmte er mit einem Grinsen zu und Jannis holte sein Handy raus. Er suchte Leos Kontakt und wählte seine Nummer. Das Freizeichen ertönte und er lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand, den Blick auf die Straße gerichtet. Drei Autos fuhren hintereinander vorbei, ansonsten war nicht wirklich viel los. Die Fenster des Universitätsgebäudes waren dunkel. Es dutete zehn Mal, dann ging die Mailbox ran und Jannis legte auf. „Er geht nicht ran."

„Und jetzt?"

„Warten wir?"

„Bleibt uns ja nichts anderes übrig", grummelte Lesz. Gegenüber voneinander ließen die beiden sich auf der obersten Treppenstufe nieder und stellten ihre Füße in der Mitte nebeneinander.

„Eltern sind scheiße", meinte Jannis. „Wer hat sich überhaupt ausgedacht, dass die angeblich irgendein Recht haben sollen, über uns zu bestimmen? Das macht keinen Sinn. Jeder kann über sich selbst bestimmen, aber über sonst keinen."

„Ist aber halt so", meinte Leszek und zuckte mit den Schultern.

„Nee, ist nicht halt so. Ich spiel da nicht mit." Jannis schaute ihm in die Augen. „Du solltest da auch nicht mitspielen. Scheiß drauf, mach' dein eigenes Ding. Lass uns unser eigenes Ding machen."

„Willst du abhauen oder was? Dann packt uns die Polizei und bringt uns zurück."

„Siehst du, da geht's weiter. Wer gibt denen wieder das Recht, über andere Menschen zu bestimmen? Niemand hat das. Woher sollen die das denn haben?"

„Aus dem Gesetz?"

„Und was ist das Gesetz? Das hat sich auch irgendwer ausgedacht. Menschen können nicht über andere Menschen bestimmen, das macht keinen Sinn. Überleg doch mal. Was macht die zu besseren Menschen, hm? Zu Menschen mit mehr Rechten?" Jannis schüttelte den Kopf.

„Du hast ja Recht, aber es bringt doch nichts." Lesz zupfte an seiner Jeans herum.

„Ich werd' bei der Scheiße nicht mitmachen. Niemals", sagte Jannis und versuchte dann nochmal Leo zu erreichen.


Eine Stunde später saßen sie noch immer auf den Stufen. Noch immer ohne Leo und ohne miteinander zu sprechen. Dafür hing seit einer Weile auf der anderen Straßenseite eine junge Frau bei den Stufen, die zum Campus raufführten, herum. Sie hatte eine Einkaufstasche von Lidl dabei und schaute immer wieder zu ihnen rüber, als würde sie auf etwas warten.

„Ey, Lesz", sagte Jannis.

„Hm?", fragte Lesz ohne den Blick von seinem Handybildschirm zu heben, auf dem er seit geraumer Zeit ein Spiel spielte.

„Ist dir die Frau da drüben schon aufgefallen?"

„Welche Frau?"

„Guck halt hin." Jannis trat ihm gegens Bein und Lesz hob den Blick. Schaute zuerst zu Jannis und dann nach links, wo das Mädel langsam am Fuße der Stufen auf und ab lief.

„Und?"

„Die hängt schon 'ne Weile da rum."

„Und wir hängen schon 'ne Weile hier rum."

„Stimmt", meinte Jannis und beobachtete sie, während Lesz den Blick wieder auf den Bildschirm senkte. „Vielleicht will sie hier rein."

„Klar doch. Sie traut sich nur nicht, weil wir Schlägertypen hier stehen und den Weg versperren."

Jannis ließ seinen Blick auf der Frau ruhen und stand schließlich auf. Er warf einen schnellen Blick nach rechts und links und überquerte die Straße. Geradewegs lief er auf das Mädel zu, das die Henkel ihrer Tasche umfasste, die auf der zweiten Stufe stand.

„Hey", sagte Jannis von ein paar Schritten Entfernung.

„Hey", erwiderte sie und überprüfte mit ihrem Blick die Umgebung, ehe sie Jannis wieder anschaute.

„Willst du da drüben rein oder so?", fragte Jannis, als er bei ihr stehen blieb.

„Wieso?"

Sie trug einen zerfledderten Pulli mit hochgekrempelten Ärmeln und ein T-Shirt darunter, das man durch die vielen Löcher sehen konnte. Ihre Hose war schmuddelig, der eine Schuh mit Panzertape geklebt.

„Weil wir da auch rein wollen", erwiderte Jannis und lächelte.

„Wieso?" Das Mädel lächelte nicht.

„Wieso willst du da rein?"

„Das geht dich nichts an, okay." Sie hob ihre Tasche an und machte sich bereit zu gehen, aber Jannis hob beschwichtigend die Hände.

„Warte, wir brauchen deine Hilfe. Mein Kumpel da drüben" – er deutete auf Lesz, der ihn von der Treppe aus beobachtete – „hat gestern ein kleines Kätzchen in einem scheiß Glascontainer gefunden. Seine Eltern haben ihm verboten es zu behalten und er hat es in dem Haus dort untergebracht. Jetzt wissen wir nicht wie wir reinkommen sollen, aber das Kätzchen braucht ihn doch."

„Ein Kätzchen, ja?", fragte das Mädel misstrauisch.

„Ja. Skorupy."

„Und wie seid ihr gestern reingekommen?" Sie musterte Jannis.

„Ein Freund von uns hat das Schloss geknackt. Der ist öfter hier. Was ist, hilfst du uns?" Jannis suchte ihren Blick.

„Du bist ziemlich naiv, Kleiner. Was wenn ich ein Bulle wär?"

„Ich glaub du bist ein guter Mensch", erwiderte Jannis und schaute sie weiterhin an. Das Mädel griff in ihre Tasche und zog eine Flasche Eistee daraus hervor. Die Tasche stellte er zwischen seine Füße und drehte die Flasche auf, trank einen Schluck.

„Ich will tatsächlich da rein", sagte sie dann und drehte den Deckel wieder zu. „Komm von mir aus mit."

„Danke", lächelte Jannis.

Gemeinsam überquerten sie die Straße und Leszek auf der anderen Seite stand auf.

„Wie heißt du eigentlich?", fragte Jannis, als sie die Stufen erreichten.

„Svea", sagte sie.

„Ich bin Jannis, das ist Leszek." Er wandte sich an Lesz. „Sie möchte tatsächlich hier rein", grinste er. „Und sie nimmt uns mit."

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