Der Held im Anzug
Autor: ClaryTecker
Fandom: Sherlock
„Wunderbar, einfach wunderbar", hörte der ehemalige Militärarzt sich fluchen. „Ich sitze hier nur, um darauf zu warten gekidnappt zu werden und du verwandelst die Küche währenddessen erneut in ein Chemielabor!"
Das hier war wirklich der beste Tag seit Langem, auch wenn das vermutlich eher für Sherlock galt, als für ihn selbst.
John selbst hockte nämlich mehr oder weniger in kniehohen Schnee, aber das schien den Detektiv bekanntlich keineswegs zu interessieren. Wenn er noch länger auf der Bordsteinkante saß, würde er sich womöglich eine erstklassige Blasenentzündung einfangen.
Der Winter hatte London seit den Feiertagen fest im Griff, was auch der Tatsache geschuldet war, dass der durchschnittliche Brite eher auf Dauerregen eingestellt war, als auf eine plötzlich aufkommende kleine Eiszeit.
Sherlock hatte das wie so oft nicht im Geringsten interessiert. Stattdessen war er umso produktiver geworden, löste alle zwei Tage einen Fall und hatte bereits die ein oder andere Gerichtsverhandlung hinter sich. Allgemein schien der Consulting Detective inzwischen mehr Zeit mit Scotland Yard zu verbringen, als mit ihm.
Nicht dass er eifersüchtig wäre. John hatte selbst genug zu tun gehabt. Er hatte sich doch tatsächlich zu einem Feiertagsbesuch bei seiner Schwester hinreißen lassen, der jedoch mit einer handfesten Auseinandersetzung zwischen ihr und ihrer neuen On-Off-Beziehung geendet hatte. John war schließlich zurück zu Sherlock geflohen, der diese Tatsache wiederum als Beweis sah, weshalb er selbst sämtliche Familientreffen mied.
„Offensichtlich." John rollte mit den Augen. Es hatte gar keine andere Antwort erwartet.
Nach den letzten Tagen hatte er durchaus eine gewisse Vorfreude verspürt endlich wieder einen Fall mit dem Detektiv zu lösen. Er hatte nicht einmal hinterfragt weshalb Sherlock ihn an diesen Ort geschickt hatte, mit der Anweisung dort auf ihn zu warten. - Zumindest solange bis ihm langsam die Kälte unter die Kleidung kroch und Sherlock sich endlich die Mühe gemacht hatte ihn zu erreichen.
„Sag mir bitte nicht, dass neben deiner neusten Lieferung Daumen noch Platz in unserem Kühlschrank ist", murmelte John, wobei er seinen Blick fast schon sehnsüchtig schweifen ließ. Die Häuser, die die schmale Straße umrahmten, waren beinahe so grau wie der Himmel selbst und die weißen, vom Schnee verstopften Straßen sorgten für alles andere als einen großen Kontrast.
Der Doktor hatte inzwischen Schwierigkeiten seine Füße überhaupt noch zu spüren, was auch daran lag, dass er so etwas wie Winterstiefel gar nicht erst besaß. - Ironischerweise benötigte er gerade seine Füße, falls er der von Sherlock vorgesehenen Entführung doch noch entkommen wollte.
„Ist es." Für einen Augenblick hatte John das Gefühl den Detektiv durch das Telefon schmunzeln zu hören. „Um genau zu sein habe ich Baker Street vor exakt einer halben Stunde verlassen."
Was auch immer Sherlock gerade anstellte, er -
Der Doktor führte den Gedanken nicht zu Ende.
„Was?"
John spürte, wie er das Handy in seiner Hand beinahe umklammerte, während sich die Einzelteile von Sherlocks Plan langsam zusammenfügten. - Denn genau das war es: Ein Plan.
„Hast du wirklich geglaubt ich würde es zulassen, dass Mr. Brackwell dich kidnappen lässt?"
Hatte er? John erinnerte sich noch zu gut daran, als Sherlock ihm Substanzen aus Baskerville verabreicht hatte, nur um seine Theorie Henry Knight wären diese ebenfalls verabreicht worden, zu bestätigen. Nicht, dass ihm dies damals in den Sinn gekommen wäre. Weshalb sollte -
Der ehemalige Militärarzt führte auch diesen Gedanken nicht zu Ende. „Also hat Scotland Yard ihn schon verhaftet?"
„Nope." Es war offensichtlich, dass Sherlocks zufriedenes Lächeln am anderen Ende der Leitung breiter wurde. Ein Lächeln, welches John unter anderen Umständen nicht hatte missen wollen, doch dies hier war Sherlock. Sherlock inmitten eines Falles bei dem er womöglich jeden verdammten Plan ausnutzen würde, um an sein Ziel zu gelangen. Jeden verdammten Plan, der John zu seinem -
„Was?!"
John stöhnte. Er hätte es wissen müssen. Hätte wissen müssen, dass Sherlock ihn nicht nur um diesen Fall gebeten hatte, um Zeit mit ihm zu verbringen. Soweit John sich erinnerte hatte der Detektiv bereits Wochen über dem Fall Brackwell gebrütet.
Harold Brackwell, der von seiner eigenen Ehefrau Joan und seinem Bruder im Schlaf erstochen worden war. Für Sherlock war es offensichtlich gewesen, dass Joan nicht alleine gehandelt hatte, auch wenn er ihr den Grund – eine mehr als einvernehmliche Affäre – noch nicht hatte nachweisen können. Stattdessen hatte Lestrade lediglich Joan festnehmen können, was hauptsächlich der Tatsache geschuldet war, dass ihr Liebhaber abgetaucht war.
Ihr Liebhaber, der keinesfalls vor einer Entführung zurückschrecken würde, wenn es darum ging die Frau seines Bruders aus dem Gefängnis zu befreien. Eine Entführung, für die John das Opfer spielen sollte. - Zumindest, wenn es nach Sherlock ging.
Ironischerweise war es gerade die Stimme des Consulting Detectives, die seine Gedanken unterbrach. „Scotland Yard sitzt gerade neben mir John und es wäre durchaus von Vorteil, wenn du dich ein wenig gelassener geben würdest. Man sieht dir deine Panik auch fünf Meter über dem Erdboden noch an."
Der Doktor zwang sich dazu nicht suchend nach oben zu blicken, auch um Sherlocks Plan nicht vollständig zu zerstören. Seine innere Anspannung ließ sich jedoch nicht so einfach vertreiben.
„Das heißt du bist - "
„Der Grund, weshalb du heute nicht gekidnappt wirst?", spottete Sherlock, als wäre diese Tatsache ein alltägliches Phänomen in ihrer Beziehung. „Selbstverständlich, John."
John schnaubte verächtlich.
Sherlock Holmes, der noble Detektiv, der ihm jedes verdammte Mal den Hintern rettete und John Watson, der praktisch einfach nur existierte. Als ob das ganze jemals so einfach gewesen wäre. Wäre es das, hätte er ihm schon vor langer Zeit mehr vor die Füße geworfen, als die ein oder andere freundschaftliche Geste.
„Du verdammter - ", begann er schließlich, wurde allerdings erneut unterbrochen.
„Bastard?", erkundigte sich Sherlock beinahe unschuldig.
John nickte, wissend, dass Sherlock es vermutlich nicht entgehen würde. Es war immerhin nicht so, dass er es nicht verdient hätte.
Wenn Shelock auch nur einen Augenblick nicht aufpasste, würde er in den nächsten Wochen im Geheimversteck irgendeines Mörders gastieren und irgendetwas sagte ihm, dass ihm Folter sicher nicht fremd war. Selbst die Tatsache, dass der Privatdetektiv offenbar Lestrades Unterstützung eingefordert hatte, beruhigte John in dieser Hinsicht keineswegs.
Gleichzeitig beantwortete das nicht die Frage, weshalb ausgerechnet er als potenzielle Geisel herhalten musste.
„Warum ich?"
Aus welchem verfluchten Grund musste ausgerechnet er die Geisel spielen?
Sherlock hatte bekanntlich nichts dagegen ihn als Versuchsobjekt zu nutzen, doch bei seiner letzten Geiselnahme schien der Detektiv alles andere als begeistert gewesen zu sein.
John erinnerte sich nur zu gut daran, wie er mit Sprengstoff beladen in das von Moriarty ausgewählte Schwimmbad gestolpert war. Er hatte Sherlock lediglich anstarren können, während er die von Moriarty geschriebenen Worte vorlas und dennoch hatte sich für einen kurzen Moment etwas anderes auf dem Gesicht des Consulting Detectives gespiegelt als bloßes Kalkül, gemischt mit dem unabänderlichen Ziel den Fall zu lösen. Etwas von dem sich John noch immer unsicher war, ob er es deuten wollte. Oder ob er es nicht sogar falsch deutete.
„Warum du?" Sherlocks Verwirrung war kaum zu überhören. John fragte sich, ob es daran lag, dass Sherlock nicht mir dieser Frage gerechnet hatte oder dass er verzweifelt nach einer Möglichkeit suchte sie zu umgehen.
„Warum muss ich die Geisel spielen?", wiederholte er dennoch, auch um endlich eine Antwort zu bekommen bei der ihm der Detektiv nicht auswich. „Warum fragst du nicht Molly oder Greg?"
Vor seinem inneren Auge sah John Sherlock fragend die Strin runzeln. „Wer ist Greg?"
„Lestrade."
„Weshalb ich nicht Lestrade gefragt habe?", spottete der Detektiv, wobei John bereits ahnte, dass Sherlocks Antwort auf einen längeren Vortrag hinauslief, bei dem er stets darauf zu achten schien seinen Gegenüber als Idioten darzustellen. „Zufälligerweise sitzt Gavin Lestrade gerade neben mir in der Hoffnung doch noch einen Fall abzuschließen von dessen Existenz Scotland Yard bis vor wenigen Wochen noch nicht einmal die geringste Ahnung hatte. Zudem hat er bei dieser Aktion mehr oder weniger das Kommando – nicht, dass ich das jemals öffentlich erwähnen werde - , also ist er alles andere als eine kompatible Geisel."
Kompatible Geisel.
John verdrehte die Augen.
„Und Molly?", erkundigte sich John.
„Molly?"
„Molly Hooper", entgegnete John in der Hoffnung, dass Sherlock sich wenigsten an ihren Namen erinnerte. „Sie würde sich praktisch freiwillig für diesen Job melden."
Nicht, dass Sherlock Letzteres zu schätzen gewusst hätte. Für gewöhnlich bemerkte Sherlock ihre Abwesenheit auch erst dann, wenn es seine eigenen Angelegenheiten betraf.
„Molly ist - ", Sherlock zögerte. „Molly ist anders."
„Anders?" John hob fragend die Augenbrauen, wissend, dass Sherlock es vermutlich sowieso nicht sah. Es hatte inzwischen angefangen zu schneien und so sehr er das Zittern auch unterdrückt hatte, langsam fing er an mit den Zähnen zu klappern.
Verfluchter Winter! Verfluchte Kälte!
„Ich würde sie nicht wollen", Sherlocks Stimme klang leiser als zuvor. Fast so, als ob er Probleme hatte die richtigen Worte zu finden. „Als Geisel, meine ich."
„Als Geisel." John hob argwöhnisch eine Augenbraue. „Sherlock, sollte ich bei deinem Versuch ein Entführungsopfer zu stellen, auf irgendeine Art und Weise sterben, werde ich dich für den Rest meiner Existenz daran erinnern, dass es deine Schuld gewesen ist."
Sherlocks Schuld.
Sherlock, der ihn so oft in die seltsamsten Situationen brachte, mit dem er in Londons Straßen auf Verfolgungsjagd ging, bevor sie den nächsten Fall lösen konnte. Abende an denen beide in ihren Sesseln in der Baker Street saßen, mit Tee und Keksen bewaffnet, während Sherlock John ausschweifen erklärte wie er seinen neusten Fall nur mit Hilfe ein paar offensichtlichen Deduktionen gelöst hatte. - Und John, der sich wünschte, dass es nicht nur dabei blieb.
„Das Leben nach dem Tod ist lediglich ein Mythos, um uns die Angst vor Letzterem zu nehmen", hörte er den Privatdetektiv erwidern und stellte sich prompt seinen kühlen und rational verklärten Gesichtsausdruck dazu vor. - Nicht, dass Sherlock das jemals erfahren würde. Vor allem nicht, wenn er dem ehemaligen Militärarzt noch eine Antwort schuldete.
„Sherlock", begann der Doktor schließlich abermals, wobei der Unterton in seiner Stimme die Worte fordernder klingen ließ als zuvor. „Warum würdest du Molly nicht als Geisel haben wollen?"
Der Detektiv schwieg. Es war lediglich das Rauschen der Leitung zuhören.
„Er würde sie nicht nehmen", murmelte Sherlock fast schon verlegen. „Brackwell, würde sie nicht nehmen."
John schnaubte verächtlich. Soweit er sich erinnerte brachte Bracknell hauptsächlich diejenigen um, die seinen Zielen im Weg standen und das war definitiv nicht er. Es sei denn Sherlock hatte -
Der Doktor verdrängte den Gedanken daran ebenso schnell wie er gekommen war.
„Warum würde Brackwell sie nicht entführen wollen?", murmelte er stattdessen. Seine Finger verkrampften sich erneut, dieses Mal allerdings vor Kälte. „Soweit ich weiß ist es wesentlich einfacher eine Frau zu kidnappen, als - "
Der Consulting Detective schwieg abermals und es war kaum zu überhören, dass seine Worte sorgfältig gewählt waren, als er erneut sprach.
„Sie ist mir nicht wichtig genug, John", hörte er Sherlock schließlich am Ende der Leitung sagen, fast so als müsste er es nicht nur John, sondern auch sich selbst eingestehen. Als hätte er all das bereits vor einer Ewigkeit aussprechen müssen.
„Nicht wichtig genug...", John zögerte.
Der ehemalige Militärarzt erinnerte sich nur zu gut an all die Momente in denen Sherlock ihn auf dieselbe Art und Weise manipuliert hatte. Sein angsteinflößender Aufenthalt in einem der Labore von Baskerville, war da nur ein Beispiel. Ob ein breites Lächeln, der sorgsam aufgesetzte Hundeblick oder nur die übertriebene Freundlichkeit; Sherlock Holmes war ein Meister der Manipulation.
„Soll das jetzt eine Entschuldigung sein, weshalb ich hier im Schnee sitze?"
Seine Worte hallten von den Hauswänden um ihn herum wieder, auch weil er mehr oder weniger ungewollt laut geworden war. John Watson hatte alle Hände voll damit zu tun, nicht aufzulegen, aber Sherlocks Idee mit seinen Gefühlen zu spielen, war alles andere als clever gewesen.
Der Doktor konnte nicht anders als wütend aufzuspringen. Einzelne Schneeflocken fielen noch immer auf den Asphalt und fügten sich zu einer einzigen Schneedecke zusammen, doch das interessierte den ehemaligen Militärarzt in zu diesem Zeitpunkt wenig.
Er konnte damit leben, dass Sherlock ihn zu irgendwelchen Experimenten überredete, sie manchmal auch ohne seine Einwilligung an ihm durchführte, aber er konnte nicht damit leben, wenn sein Mitbewohner mit seinen Gefühlen spielte. Selbst wenn es für ein größeres Ziel war.
„John."
Der Doktor fluchte. Wie zur Hölle schaffte es Sherlock noch immer zu ihm durchzudringen.
„Was?", wütend stapfte er durch den Schnee, das Handy weiterhin fest umklammert. Ihm war kalt und ein wenig Bewegung würde ihm zudem dabei sich etwas abzureagieren. Das hoffte John zumindest.
„Was tust du da?" Jetzt klang Sherlock doch ein wenig entsetzt. John hätte beinahe laut aufgelacht.
„Ich gehe."
John hatte durchaus Gründe gehabt seine Gefühle gegenüber dem Detektiv zurückzuhalten und die Möglichkeit, dass es so endete war definitiv eine davon. Er hatte keine Ahnung wie lange Sherlock gebraucht hatte, um es zu deduzieren, doch wie so oft zog er seinen nutzen daraus. Sherlock Holmes war kein Mann großer Gefühle und John hätte es besser wissen müssen.
Ironischerweise war es gerade der Privatdetektiv, der Watson aus seinen Gedanken riss.
„Du kannst nicht gehen", protestierte sein Mitbewohner am anderen Ende. „Ohne dich kann ich den Fall nicht lösen."
„Ich gehe um den Block", John konnte nicht anders als verächtlich zu schnauben, nur um dann beinahe beleidigt die Lippen aufeinander zu pressen. „Mir ist nämlich verdammt nochmal kalt, Sherlock!"
De Doktor setzte seinen Weg fort.
Einmal um den Block, um Sherlock wenigstens ansatzweise aus dem Kopf zu kriegen.
Das war sein Ziel und das würde es auch vorerst bleiben.
„Offenkundig - ", erwiderte der Detektiv schließlich, beendete seinen Satz jedoch nicht. „John?"
„Ja?"
„Leg nicht auf." In Shelocks Stimme schwang erneut Besorgnis mit, wobei sich John nie sicher sein konnte, ob es gespielt war oder Realität entsprach. Stattdessen konzentrierte er sich auf seine Schritte, setzte einen Fuß vor den anderen, hoffend sich so von Sherlocks Bitte losreißen zu können.
Dafür, dass er ein potenzielles Entführungsopfer darstellte, fühlte er sich erstaunlich entspannt. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass die Gefahren, in die er sich mit Sherlock begab, inzwischen Teil seines Alltags geworden waren.
„Ist es nicht besser, wenn ich nicht telefoniere?"
„Nein", John fragte sich, wann Sherlocks bittender Tonfall abermals seinem rationalen und überdurchschnittlich intelligenten Ich weichen würde. „Ich – ich brauche genaue Daten über dein Verschwinden."
„Mein Verschwinden?", Der Doktor hob fragend die Augenbrauen und ahnte bereits das Schlimmste. „Ich dachte, du willst es gar nicht erst soweit kommen lassen."
John konnte den Spott in seiner Stimme nicht zurückhalten.
All seine Bemühungen seine Gefühle vor dem Detektiv zurückzuhalten waren praktisch umsonst gewesen, jetzt wo Sherlock Bescheid zu wissen schien. Er würde es zu seinem Vorteil nutzen und vermutlich erst darüber reden, bis es unweigerlich zwischen ihnen stand.
„Seh' mich lieber nicht als deinen Retter, John."
John schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. Er hatte Sherlock am liebsten lauthals anschreien wollen, weshalb er überhaupt hier war, weshalb er Menschen derartig manipulierte, weshalb er ihn manipulierte.
Doch seine Worte klangen nicht danach. Es hörte sich eher an, als wollte er sich als den Idioten darstellen, der er wirklich war, anstatt John mit seinem Hundeblick um einen Gefallen zu bitten.
„Wieso nicht?", Für eine Sekunde dachte John daran stehen zu bleiben und nach Sherlock Ausschau zu halten. Womöglich hätte er ihn sogar irgendwo am Fenster eines der Häuser entdeckt. „Hast du bei unserem letzten Zusammentreffen mit Moriarty nicht genau das getan?"
Watsons Gedanken wanderten erneut zu ihrem Zusammentreffen am Pool.
„Ich habe versucht den Fall zu lösen", antwortete Sherlock geradezu gepresst. „Ich bin kein Held, der dich in letzter Sekunde rettet, John."
Ein Held im Anzug.
Der Gedanke ging so schnell, wie er gekommen war, auch weil die anhaltende Kälte den Doktor zum niesen brachte. Wenn er Pech hatte, lag er in wenigen Tagen mit einer dicken Erkältung im Bett und Sherlock würde ihn -
„Was war das für ein Geräusch?" Die plötzliche Panik seines Mitbewohners brachte den ehemaligen Militärarzt beinahe zum Schmunzeln.
„Ich musste niesen, Sherlock", versuchte er ihn halbherzig zu beruhigen, wissend, dass Letzteres bei Sherlock in den seltensten Fällen funktionierte. Unter anderen Umständen wäre er womöglich stehen geblieben, um sich umzublicken, doch dieses Mal ging John einfach weiter. - Nicht, dass das in diesem Augenblick besonders clever gewesen wäre.
„Das war kein Niesen, John." Sherlocks Einwand war so ziemlich das Letzte, was er hörte, was vor allem der Tatsache geschuldet war, dass ihm in ebendiesem Moment etwas mit voller Wucht am Hinterkopf traf.
„John?"
Der Doktor antwortete nicht. Schmerz breitete sich in seinem Kopf aus und er spürte wie ihm das Handy langsam aber sicher aus der Hand glitt. Ohne weiter Kontrolle über seine Körper zu haben sackte er im Schnee zusammen und dann wurde er endgültig von Schwärze umhüllt.
Verdammter Idiot im Anzug!
Das Nächste was der Doktor bemerkte war ein fast schon unangenehmes Pochen an seiner Schläfe, gefolgt von lauten Geräuschen, die ihn umgaben. Er hatte Kopfschmerzen, das war offensichtlich, nur sollte dieser Umstand eigentlich nicht seine visuelle Wahrnehmung beeinträchtugen.
„...Um ehrlich zu sein hatte ich sie für durchaus cleverer gehalten, Mr. Brackwell. Wo Joan Brackwell Sie doch immer als überdurchschnittlich intelligent bezeichnet hat."
Sherlock sog lautstark die Luft ein. Es war Sherlock, der dort sprach. Sherlock, der -
John hörte jemanden fluchen und ein Geräusch, das dem von Spucke, die auf dem Boden auftraf, nicht unähnlich war. Es folgte ein abfälliges Lachen und obwohl John noch immer zwischen Bewusstlosigkeit und Bewusstsein schwankte, ahnte er bereits zu wem es gehörte.
Dieser verfluchte Bastard!
„Haben Sie wirklich geglaubt John Watsons potenzielle Entführung würde ihre Probleme lösen?", spottete Sherlock Holmes. „Ihre Schwäche für teuren Whiskey und den ein oder anderen Abend in der Spielothek, was ihnen offenbar mehr als nur etwas Geld gekostet hat. Geld, dass sie durch eine Entführung bekommen hätten. Geld und Joan Brackwell."
Er klang zufrieden. Wie ein Kind an Weihnachten, dass sich über seine Geschenke freute, nur dass es sich hierbei um einen gelösten Fall handelte.
Es folgte eine Pause, ehe jemand erneut etwas sagen. Dieses Mal war es nicht Sherlock, was auch dadurch auffiel, dass der Detektiv für gewöhnlich weder anklagend, noch hasserfüllt klang.
„Sie haben nicht die geringste Ahnung, was es heißt jemanden zu lieben!"
Die Schwärze schien erneut die Oberhand zu gewinnen. Die Schwärze, die alles umgab und auch ihn wieder zurück in die Bewusstlosigkeit zerren würde. Etwas, dass John um jeden Preis verhindern musste.
Es gab nur eine Person, die sich diese Anschuldigung jeden Tag anhören musste. Nur eine Person, die sich täglich als vermeintlicher Soziopath beschimpft wurde. Nicht, dass es Sherlock sonderlich interessiert hätte, denn ironischerweise brauchte besagter Soziopath eine gefühlte Ewigkeit zum Antworten.
„Weshalb wollten Sie dann John Watson entführen?", hörte der Doktor ihn noch sagen, ehe er erneut in die Abgründe der Bewusstlosigkeit glitt.
,,Sherl...", Johns Mund fühlte sich erschrecken trocken an, obgleich die Kopfschmerzen inzwischen verschwunden waren. Er war zurück, zurück in der Realität und gerade dabei das Bewusstsein wiederzuerlangen. Vorsichtig bewegte der Doktor seine Finger.
,,John?" Die Schwärze, die ihn noch vor kurzer Zeit zu verschlucken gedroht hatte, zog sich langsam zurück und gab den Blick auf das Gesicht des Consulting Detectives frei.
Im Gegensatz schien Sherlock nicht im geringsten zu Schaden gekommen zu sein und aus irgendeinem unerfindlichen Grund beruhigte John diese Tatsache mehr als alles andere. Nicht, dass der Detektiv das nach allem was passiert war, verdient hatte. Der Doktor war noch immer wütend auf ihn, auch wenn sich diese Wut nicht mit Sherlocks späteren Verhalten vereinbaren ließ.
,,Was zur Hölle ist passiert?", wollte er wissen, wobei seine raue Stimme ihm beinahe den Dienst versagt. Es klang eher als würde er röcheln und in der nächsten Sekunde ersticken.
,,Du wurdest ausgeknockt", erwiderte der Privatdetektiv beinahe fachkundig, als hätte er mehr Erfahrung mit solchen Dingen als der ehemalige Militärarzt selbst.
,,Okay." John musste unwillkürlich schmunzeln und ironischerweise erging es Sherlock nicht anders. Der Doktor konnte nicht anders als ihn sorgfältig zu mustern. Sherlocks zerzausten Haare, die Grübchen in seinen Mundwinkel und die eisblauen Augen, die einen Ausdruck bereit hielten, den John nicht genau deuten konnte. Verlegen wandte er seinen Blick von ihm ab, nur um ihn stattdessen durch den Raum schweifen zu lassen.
Es war wie so oft unaufgeräumt, Bücher, Kisten mit ungelösten Fällen und abgestandener Tee sammelten sich überall im Raum und doch gehörte Sherlocks Unordentlichkeit für John inzwischen dazu.
,,Warum liege ich auf unserem Sofa?"
,,Treppensteigen, während man jemanden in den Armen hält ist durchaus anstrengend", antwortete der Detektiv beinahe nervös. ,,Abgesehen davon hat Lestrade darauf bestanden, dass du in meiner Nähe bleibst."
John runzelte die Stirn.
,,Sag mir bitte nicht, dass du dich geweigert hast mich ins Krankenhaus zu bringen, Sherlock", ermahnte der Doktor ihn. Er wusste nur zu gut, dass der Consulting Detective alles daran setzte, um die Dinge seinem Willen zu unterwerfen, selbst wenn das nicht jedes Mal von Vorteil war.
,,Selbstverständlich", Sherlocks Antwort veranlasste John lediglich dazu die Augen zu verdrehen. ,,Außerdem hätte es da nach Chemikalien gerochen und die Ärzte hätten womöglich irgendwelche Schläuche verpasst."
,,Du hast mich die Treppen hoch getragen." John biss sich auf die Zunge, wissend, dass das nichts mehr an seinen Worten änderte.
Sherlock Holmes – der Idiot, der ihn dazu gebracht hatte als Köder für einen Mörder und Entführer herzuhalten – hatte ihn anschließend die Treppe hoch getragen. Eine Stimme in seinem Inneren rief verzweifelt, dass der Privatdetektiv das lediglich getan hatte, um Johns Wut auf ihn zu begrenzen, doch irgendwie glaubte er nicht mehr so recht daran. Etwas stimmte mit dem Detektiv ganz und gar nicht, auch wenn der ehemalige Militärarzt noch nicht genau wusste was.
,,Eine Treppe um genau zu sein, aber das ist in dieser Hinsicht nicht weiter relevant." Für einen Moment glaubte John zu sehen wie seine Wangen erröteten, doch beim zweiten Hinsehen, war es bereits wieder verschwunden. Vielleicht hatte er sich auch einfach nur geirrt. Stattdessen wandte er sich wieder dem eigentlichen Problemen zu.
,,Hat dein Plan wenigstens funktioniert?"
,,Abgesehen von der Tatsache, dass du womöglich eine Gehirnerschütterung haben könntest, John, sitzt Brackwell seit zwei Stunden hinter Gittern."
Nun machte John sich doch Sorgen.
,,Gehirnerschütterung?"
,,Lestrade hat gesagt du bräuchtest lediglich Ruhe", wandte Sherlock ein.
,,Lestrade ist kein Arzt!", protestierte der Doktor, nur um zu realisieren, dass Sherlock praktisch über ihm lehnte, ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.
Unter anderen Umständen hätte John sofort nachgegeben, doch dann unterbrach sein Mitbewohner erneut seine Gedanken.
,,Du bist Arzt." John schnaubte verächtlich. ,,Nicht, dass dir das in diesem Moment helfen würde. Und möglicherweise würde es mir sogar Leid tun, dich hier auf dem Sofa liegen zu lassen -"
Es war Johns Hand, die sich auf Sherlocks Mund legte, vordergründig, damit er nicht weiter reden konnte und endlich den Mund hielt.
Verfluchter Idiot im Anzug.
Spätestens ab der Mitte ihres letzten Telefonats hatte der Privatdetektiv damit begonnen ihn mehr und mehr zu verwirren und inzwischen hielt John es einfach nicht mehr aus. Er konnte nicht anders als es einfach zu riskieren. Es einfach zu riskieren Sherlock alles zu gestehen, bevor all das noch länger zwischen ihnen stand.
,,Sherlock?"
,,Ja?" John musste ein Schmunzeln zurückhalten, während der Detektiv zunehmend verwirrter und unsicherer in seinem Verhalten wurde.
Er hatte nicht die geringste Ahnung, dass der Doktor seinen Wortwechsel mit Bracknell mitgehört hatte. John konnte es ihm nicht verübeln. Ohne weiter darüber nachzudenken schluckte er den Kloß in seinem Hals hinunter und wandte sich wieder Sherlock zu.
,,Während du - ", begann er zögernd, wobei sein Blick unkontrollierbar auf Sherlocks traf. ,,Ich bin kurz bei Bewusstsein gewesen, als du Brackwell gestellt hast."
Sherlock schwieg, starrte ihn lediglich an und brachte seinen Mitbewohner so dazu fortzufahren.
,,Als du auf seine Behauptung, du könntest niemanden lieben, geantwortet hast - ", begann der ehemalige Militärarzt abermals. ,,Hast du damit gesagt, dass ich dir wichtig bin?"
Er schluckte, wissend, dass spätestens jetzt alles vorbei war. Sherlock sah ihn noch immer mit demselben fragenden Gesichtsausdruck an wie zuvor.
,,Wichtig?"
John schloss die Augen. Es hatte alles auf eine Karte gesetzt und verloren. Sherlock verstand entweder nicht worauf er hinaus wollte oder er würde ihn gleich verspotten. Dafür, dass er geglaubt hatte den Detektiv ändern zu können. Das war zumindest am wahrscheinlichsten.
Seltsamerweise tat Sherlock jedoch nichts dergleichen. Stattdessen spürte er, wie der Consulting Detective langsam mit seiner Hand über seine Wange fuhr, unsicher, ob er alles richtig machte. Beinahe als würde er es zum ersten Mal machen - was vermutlich sogar der Wahrheit entsprach – und während John ihn ansah, fiel ihm zum ersten Mal auf, dass er Sherlocks Blick doch zu deuten wusste.
„Glaub mir, wenn ich dir sage, dass wichtig keineswegs das ist, was ich damit sagen wollte." Der Detektiv lächelte, bevor er John endgültig an sich zog und beide die letzten Zentimeter überwanden, die zwischen ihnen standen.
Verdammter Held im Anzug!
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