Rewind the Classics 2022 Gewinner

Gewinner*innen des Rewind the Classics 2022 Wettbewerbs

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6-Wörter-Geschichte von Arini1993

Wenn Schneewittchen Frutarierin wäre: „Fallobst bitte!"

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Kurzgeschichte von RunaElven

Es war einmal ... alles ganz anders!

und so trug es sich zu ...

»Dornröschen, schlafe hundert Jahr, hundert Jahr, hundert Jahr, Dornröschen, schlafe ...«

»Ruhe!«, donnerte König Ulis Befehl durch den großen Saal des Rosenschlosses. »Jetzt wird nicht geschlafen! An die Arbeit mit euch Faulpelzen! Und schaff Sie die Prinzessin in den Garten. Frische Luft ist gesund. Wir brauchen Ruhe zum Nachdenken!«

Sofort verstummte der Gesang der Kinderfrau, nicht jedoch das Gebrüll der kleinen Rosaliana Petulia Amalie Esmeralda Grazia von und zu Dornstich.

»Der süße Brei bekommt ihr nicht«, klagte die Amme.

»Irgendeiner muss ihn aber essen. Der quillt schon durch sämtliche Schlossgänge!« Stöhnend massierte sich König Uli die lichten Schläfen. »Außerdem war der Topf ein sauteures Mitbringsel von der Zwerg-Nase-Kochshow. Den können wir nicht nur rumstehen lassen!«

Mit düsterer Miene beäugte er die ausgebreitete Pergamentrolle auf der langen Tafel. »Man schicke mir meine Gemahlin!«

Eine halbe Stunde später rauschte die Königin samt Gefolge aufgebracht herein. »Was bitte, ist so dringlich, dass ich mein Wellness-Programm unterbrechen muss? Die Stutenmilch wird kalt und einen neuen Termin beim Hairstylisten bekomme ich nicht einfach so.« Mit einem Fingerschnipsen verdeutlichte sie ihre Meinung. »Eine Haarverlängerung ist äußerst anspruchsvoll und bedarf genauester Planung.«

»Liebste Lorelei, Euer Haar ist wunderschön. Ich habe Euch nicht von diesem Felsen geholt, damit Ihr nun statt meiner Schiffe meine Staatskasse versenkt.«

»Sind wir heute ein wenig indigniert, Eure Hoheit?« Lorelei klimperte vorwurfsvoll mit ihren geschwungenen Wimpern. »Lange Zöpfe sind die neueste Mode. Unsere Gäste sollen uns doch nicht für langweilige Hinterwäldler halten.«

»Ha!« König Uli trommelte mit den Fingern auf die lange Namensliste. »Gäste ist genau das richtige Stichwort. Es sind viel zu viele! Diese Taufe ruiniert uns! Die Schatzkammer ist doch kein Fass ohne Boden. Wir können ja nicht nur süßen Brei servieren!«

»Ach, darum habe ich mich längst gekümmert.« Die Königin legte ihrem Mann beruhigend die Hand auf den Arm. »Neulich war doch dieser Bittsteller da. Der Bursche, der eine Lehrstelle zum Fürchten lernen gesucht hat. Den habe ich zum Teufel geschickt, die drei goldenen Haare holen. Damit können wir uns jeden Wunsch erfüllen.«

»Welch guter Gedanke!« Der König küsste seine Königin und freute sich, dass sein Weib nicht nur wunderschön, sondern auch überaus klug war.

☆~☆~☆

Zur gleichen Zeit, am anderen Ende des Königreiches, in einem tiefen, finsteren Wald ...

Eine seltsame, verhüllte Gestalt schlich um das kleine Häuschen am Wegesrand. Lange schwarze Krallen kratzten über die hölzerne Tür.

»Ihr Kinderlein, lasst mich herein. Euer lieb Mütterchen ist zurück«, säuselte eine verstellte Stimme.

Die Tür öffnete sich schwungvoll und ein stämmiger, kleiner Mann mit einer roten Zipfelmütze trat griesgrämig grummelnd heraus. In einer Hand hielt er ein Pfeifchen, in der anderen eine große Axt.

»Wer stört? Kannste nicht lesen? Hier ist Privatgrund. Betteln und Hausieren verboten!«

Die Gestalt musste niesen und weißer Mehlstaub puderte die Umgebung.

»Verzeihung. Sind die Sieben Geißlein zuhause?«

»Hä?« Der Zwerg schüttelte den Kopf. »Da bist du irgendwo falsch abgebogen, Kumpel. Hier ist Hinter den Sieben Bergen. Haste kein Navi? Die Sieben Geißlein sind übrigens in die Stadt gezogen. Wieder eine bäuerliche Erzeugergemeinschaft, die pleite ist. Die Welt ist noch nicht reif für Bio.«

»Mist«, quietschte der Wolf. »Dafür habe ich nun ein Pfund Kreide gefressen.«

»Warum wartest du nicht an der Blumenwiese auf Rotkäppchen?«, fragte der Zwerg und zupfte unauffällig an seiner roten Mütze.

»Ey, Alter! Wo lebst du denn? Die Großmutter wartet doch nicht, bis ihre Enkel in die Puschen kommen. Die bestellt ihren Wein online! Aber die Postkutsche bewachen die vier Musketiere, das ist mir zu heikel.« Der Wolf schüttelte sich und weiteres Mehl rieselte zu Boden.

»Mach mal sachte«, beschwerte sich der Zwerg. »Ich muss das alles wieder wegfegen! Schneewittchen ist verdammt pingelig.« Er paffte zwei kräftige Züge aus seiner Pfeife. »Mit dem Königreich geht es bergab. Wenn jetzt selbst die Palastwachen einen Nebenjob brauchen«, brummte er missbilligend.

»Entschuldigung.« Der Wolf versuchte, um ihn herum ins Haus zu spähen. »Ihr habt nicht zufällig drei kleine Schweinchen da?«

»Schön wär's.« Sehnsüchtig blickte der Zwerg in die Ferne. »Seit wir Schneewittchen beherbergen, gibt es nur noch Grünkernbratlinge und Spinat-Smoothie.«

Vereint seufzten beide.

»Als Fleischfresser wird man ganz schnell zum Staatsfeind Nr.1 erklärt«, jammerte der Wolf. »Das ist diskriminierend!«

»Hey, warte mal ...«, rief der Zwerg und eilte zurück ins Haus. Kurze Zeit später kehrte er mit einem großen blütenweißen Umschlag zurück, auf dem das königliche Siegel prangte.

»Hier, die Einladung kannste haben. Haus von und zu Dornstich lädt zur Taufe der kleinen Rosa Dingsbums. Wir gehen da eh nicht hin. Der König will uns nur wieder die Schürfrechte abluchsen und Schneewittchen isst ungern auswärts. Apfelallergie«, fügte er erklärend hinzu. »Du kannst dich dort durchfuttern und gleich deine Beschwerde anbringen. Vielleicht brauchen sie bei Hofe noch einen Schurken vom Dienst. Bösewichter sind heutzutage gefragte Leute.«

Gerührt nahm der Wolf das Schreiben entgegen. »Vielen Dank. So was Nettes hat mir noch keiner gesagt.«

☆~☆~☆

Einmal Hölle und zurück

Unterdessen kämpfte sich der furchtlose Hans durch die dichten Dickichte des Düsterwaldes und durchquerte die unwirtlichsten Landschaften. Nach langen Tagen einsamen Wanderns erreichte er das Tor zur Unterwelt. Schwarze Basaltsäulen säumten einen finsteren Schlund, der in unerreichbare Tiefen hinabführte. Lasciate ogne speranza, voi ch'intrate war mit krakeligen Buchstaben in den Stein gemeißelt.

Hans kramte in seinem Travel-Backpack nach einem Seil und seinem Pons, fand aber nur drei Bohnen und die kleine güldene Öllampe. Nach einigem Überlegen packte er die Bohnen wieder weg und rieb mit dem Hemdsärmel über die bauchige Wandung der Lampe.

Ein zischender Strahl tiefschwarzen Rauches entwich dieser und verdichtete sich zu einer riesigen schwebenden Gestalt. Wie die Scheinwerfer eines Leuchtturms blitzten zwei neongelbe Lichter aus dem Qualm und warfen zuckende Laserstrahlen kreuz und quer durch die Gegend, bevor sie sich vereinten und auf Hans fokussierten.

»Sprich, was ist dein Begehr«, hallte eine körperlose Stimme über Hans hinweg und brach sich zu einem vielfachen Echo an dem dunklen Fels. »... Sprich ... er ... sprich ... er ... sprich ... er ...«

Hans hielt sich die schmerzenden Ohren zu und zählte ergeben von zehn rückwärts.

»Du könntest mir mal behilflich sein«, rief er in den hallenden Schall hinein.

Augenblicklich schrumpfte das Wesen auf eine menschliche Größe und schlang sich in langen hellblauen Dunstwindungen um Hans herum.

»Duhasteinenwunsch? Du hast einen Wunsch? DU HAST EINEN WUNSCH?«, säuselte es aufgeregt. »Wunsch Nummer drei, Wunsch Nummer drei, Wunsch Nummer drei ... bald bin ich frei, bald bin ich frei, bald bin ich frei!«

»Ja, ja.« Hans spähte nochmals in den bodenlosen Abgrund. »Ich habe es beim ersten Mal verstanden. Ein einfacher Ratschlag ist wohl nicht drin?«

»Vor Beschwerden über Nebenwirkungen lesen Sie die kleingedruckten Vertragsunterlagen«, tönte es von allen Seiten. »Wunsch Nummer eins – du wolltest furchtlos sein – check! Wunsch Nummer zwei – du wolltest eine Prinzessin kennenlernen – check! Uuuund jetzt ...« Die hellblaue Wolke formte sich zu einem länglichen Gesicht und verzog die breiten dunkelblauen Lippen zu einem hämischen Grinsen.

Unbeeindruckt verschränkte Hans die Arme. »Ohne Angst überwinden zu müssen sind jegliche Abenteuer nur langweilig und die Prinzessin war noch ein Säugling! Du hast mich ziemlich angeschmiert.«

»Tüdelüdietüdeldie ...« Der Nebel begann durchsichtig zu werden und zog sich in die Lampe zurück.

»Hey, warte! Sei doch nicht gleich beleidigt. Wie soll ich aus der Hölle zurückkommen, wenn ich meinen Wunsch fürs Hineingelangen verwende?«

»Wenn du B sein lässt, brauchst du A gar nicht«, wisperte es belehrend.

»Klugscheißer«, brummte Hans und setzte sich im Schneidersitz vor das Loch. An seinen Fingern zählte er die Möglichkeiten ab. »Ohne Hilfe sterbe ich womöglich beim Abstieg. Des Teufels Großmutter soll recht nett sein und mit alten Leuten kann ich ganz gut. Die Königin versprach mir Ruhm und Ehre, wenn ich zurückkomme. Damit könnte ich die Goldmarie mächtig beeindrucken. Die blöde Lampe müsste ich auch nicht länger mitschleppen. Okay.« Er formte die Hände zu einem Trichter und rief lauthals: »So höre meinen dritten Wunsch, oh mächtiger Dschinn! Bringe mich sicher und unversehrt in die Hölle und wieder zurück!« Erwartungsvoll beobachtete er die kleinen Kreisel rauchblauen Dunstes, die hektisch um die Lampenöffnung rotierten.

»Das sind genaugenommen zwei Wünsche, aber ich will mal nicht kleinlich sein«, tönte es blechern aus dem Bauch der Lampe. Erneut quoll der Qualm heraus und die tiefe Stimme des Dschinns deklamierte: »So soll es geschehen!«

Einem Sturmwind gleich wirbelte der Rauch um Hans herum, bildete eine graublaue Wand aus Staub und Geröll, die sich bis hinauf zum Himmel erstreckte. Mit einem kreischenden Pfeifen explodierte diese und feiner Sand rieselte auf Hans herunter. Aus dem Nichts erschien eine körperlose blaue Hand und ein langer Finger drückte auf einen rhombusförmigen Stein in der rechten Basaltsäule.

»Ping!« Der Fels glitt beiseite. Ein kleiner, hell erleuchteter Raum tat sich auf.

»Bitte wählen Sie das gewünschte Stockwerk«, hörte Hans die Aufforderung einer samtig gehauchten weiblichen Stimme.

Er putzte sich den Dreck von der Kleidung und trat staunend in das Licht. Dort erblickte er eine Tafel mit unzähligen kleinen runden Knöpfen.

Darauf stand:

1 Area 51
2 Vorhölle
3 Auffahrt zur A1 bei Ferienbeginn
4 Shopping Mall zum Black Friday
5 Dämonenkongresshalle
6 Flüchelabor
7 Pech- und Schwefellager
8 1. Höllenkreis
9 2. Höllenkreis
10 3. Höllenkreis



666 Haupthölle

»Na, dann mal los.« Ohne zu zögern, wählte er die letzte Möglichkeit.

Mit einem sanften Zischen schloss sich der Fels und Hans fühlte sich völlig schwerelos. Doch schon nach kurzer Zeit pingte es erneut und die Felswand öffnete sich wieder.

»Sie haben ihr Ziel erreicht. Wir wünschen einen angenehmen Aufenthalt«, hauchte die unsichtbare Dame.

»Danke«, sagte Hans zu niemand bestimmtem und verließ die Schwebekammer, klemmte jedoch noch schnell seinen Stiefel in den sich schließenden Türspalt.

Vor ihm erstreckte sich ein endloser Flur mit vielen abzweigenden Gängen. Was für ein Labyrinth, dachte Hans und zog sich kurzentschlossen seinen langen Strickpulli über den Kopf. Hier unten war es angenehm warm und so riss er ohne großes Bedauern einen Faden aus dem Kleidungsstück und begann, es aufzutrennen. Ein Ende verband er mit dem Schnürsenkel des eingeklemmten Stiefels. Neugierig lief er kreuz und quer durch gewundene Gassen und seltsame Räume, jedoch ohne einer Menschenseele oder einem anderen lebenden Wesen zu begegnen. Mit Hilfe des Fadens fand er immer wieder zum Ausgangspunkt zurück.

Erschöpft sank Hans neben seinem Stiefel nieder. Die Hölle war ein sehr einsamer Ort. Hinter ihm glitt die steinerne Pforte mit fröhlichem Bimmeln eifrig auf und zu.

»Wie, zum Teufel, soll ich hier des Teufels Großmutter finden?«, rief Hans verzweifelt. Doch niemand antwortete ihm. Nach einer Weile ratlosen Grübelns spürte er ein dumpfes Vibrieren. Ein weiteres Mal wickelte er sein Pulloverwollknäuel ab und folgte dem rhythmischen Stampfen. Die Geräusche führten Hans zu einem fantastischen Saal, dessen Decke und Wände aus leuchtenden Kristallen bestanden. Diese spiegelten in bunten Farben das Licht, welches die flackernden Feuer in einem Dutzend geschmiedeter Eisenkörbe erzeugten. Der Boden war mit glänzendem schwarzen Marmor ausgelegt, der durch die huschenden Schatten einem wild schäumenden Meer glich.

Inmitten dieser strahlenden Pracht tanzte auf einem erhöhten Podium ein barfüßiger schlanker Typ in Lederhosen und einem übergroßen Hoodie, dessen Kapuze tief ins Gesicht gezogen war. Die harten Klänge der lautstarken Musik spürte Hans bis in seinen leeren Magen. Bevor er sich bemerkbar machen konnte, begann der Fremde mit einem hämmernden Sprechgesang.

»Heiß ist die Hölle,
doch kalt ist mein Herz.
Das find ich gut – so fühl' ich keinen Schmerz.
Bin der König der Hölle, das ist doch nicht ohne,
auf dem Kopf trag' ich Hörner, statt ner albernen Krone.
Ist mir scheißegal, wenn alle mich dissen.
Warum sollte ich irgendjemand vermissen?
Meine Beats sind brutal, meine Reime genial, hör' ich labbrigen Mainstream, dann kotz ich im Strahl.
Wär' der King jeder Party, doch mich lädt nie einer ein.
Macht ins Hemd euch ihr Luschen, ich feier gern auch allein!«

Hans war wie verzaubert von der ekstatischen Darbietung, sodass er kräftig Beifall klatschte. Augenblicklich unterbrach der Sänger seinen Auftritt und musterte Hans erstaunt.

»Wen haben wir denn da?« Schnüffelnd kam er auf Hans zu. »Mir dünkt, ich rieche Menschenfleisch.«

»Äh, tut mir leid«, entschuldigte sich Hans betreten. »Die Anreise war langwierig und anstrengend und ich bin noch nicht zum Duschen gekommen. Lass dich von mir nicht stören.«

Der Künstler stand Hans nun direkt gegenüber. Er war etwas kleiner und schmaler als er, strahlte aber die tödliche Anmut einer gefährlichen Raubkatze aus. Hans jedoch verspürte keinerlei Furcht. »Ich bin der Hans«, sagte er und hielt dem Herrn der Hölle die Hand hin.

Der Teufel beäugte diese misstrauisch und trat wieder einen Schritt zurück. »Lucifer Devil Diabolo«, erklärte er herablassend. »Nur, falls dir nicht klar ist, wer ich bin.«

»Das habe ich mir schon gedacht«, entgegnete Hans. »Wegen Herr der Hölle und so.« Dummerweise wusste er nicht so recht, wie er das Gespräch auf die drei goldenen Haare bringen sollte. Gesehen hatte er sie jedenfalls noch nicht, da die Kapuze bis über die rotglühenden Augen des Teufels hing.

»Und was willst du hier?«, fragte ihn dieser mürrisch.

Mit der Tür ins Haus zu fallen, ist sicher keine gute Idee, entschied Hans. »Ach, das hätte ich jetzt fast vergessen. Ich bringe ein Präsent für die Frau Großmutter. Den Hauptgewinn vom Preisausschreiben der Märchenpost.« Er zog die nun leere güldene Öllampe aus seinem Rucksack und hielt sie in das funkelnde Licht.

Der Teufel verdrehte genervt die Augen. »Na toll. Noch mehr so Dekokram. Pack bloß weg, den Scheiß. Meine Granny ist auf Kreuzfahrt, die wird es nicht vermissen.« Langsam lief er um Hans herum und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Wo ist denn dein Schuh? Hast du ihn verloren, als du nach dem Weg fragen musstest?«, stichelte er belustigt.

»Wieso, du bist doch auch barfuß. Oder hast du einen gläsernen Pantoffel für mich?« Frech grinste Hans den Teufel an.

»Nee, du. Der Drops ist gelutscht.« Lucifer betrachtete begehrlich den muskulösen halbnackten Oberkörper des Burschen. »Sag mal, hast du einen Crush auf Schneewittchen oder eher auf Prinz Charming?«

Hans kratzte sich nachdenklich hinterm Ohr. »Die Wahrsagerin auf dem Rummel hat behauptet, ich würde mich einst königlich vermählen. Aber die einzige Prinzessin, der ich bisher begegnet bin, ist noch ein Baby und Schneewittchen, na ja ... Schwarzhaarige sind nicht so mein Ding. Die Goldmarie dagegen, mit ihren strahlenden Locken, das ist schon eine Augenweide.«

»Das war eigentlich nicht meine Frage, aber gut. Mit goldenen Locken kann ich auch dienen.« Die glutroten Augen des Teufels verloren ihr bedrohliches Glimmen und lächelten Hans in einem fröhlichen Schwarz an.

»Also drei goldene Haare sind ja keine ...« Hans kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, denn der Teufel zog sich die Kapuze vom Kopf. Eine wahre Löwenmähne goldenen Haares kam zum Vorschein. Die seidig glänzenden Locken wellten sich um die aristokratischen Gesichtszüge von Lucifer und betonten die zwei gedrehten Hörner, die aus seiner Stirn wuchsen und sich elegant nach hinten ringelten.

»Wow«, entfuhr es Hans.

»Danke«, antwortete Lucifer leicht verlegen. »Du fandest das vorhin nicht albern?«, fügte er fast schüchtern hinzu.

»Überhaupt nicht!« Hans reckte anerkennend die Daumen nach oben. »Echt krasse Nummer.«

Geschmeichelt schlenderte der Teufel zu seiner Bühne und hockte sich an den Rand. »Die Bremer Stadtmusikanten haben mich ausgelacht. Dafür sehen sie jetzt so aus, wie sie meiner Meinung nach singen.«

»Echt jetzt? Die waren nicht immer schon Tiere?«, fragte Hans überrascht.

»Natürlich nicht. Wer hat dir denn das Märchen erzählt?« Verständnislos schüttelte Lucifer sein goldenes Haupt.

Hans setzte sich neben ihn und stützte die Ellenbogen auf die Knie. »Du brauchst dich nicht zu wundern, dass die Leute Angst vor dir haben, wenn du dauernd solche Sachen machst.«

»Was heißt hier dauernd?«, begehrte der Teufel entrüstet auf. »Wenn sich noch nicht mal einer erinnert, wie diese Kasper früher aussahen, ist es wohl kaum der Rede wert.«

»Und was ist mit dem vertrockneten Goldapfelbaum und dem versiegten Weinbrunnen?« Vorwurfsvoll pikste Hans den Teufel vor die Brust.

»Alles üble Nachrede«, beschwerte dieser sich. »Die Deppen haben den Marktplatz zugepflastert. Der arme Baum hat ja keinen Tropfen Wasser mehr abbekommen und der Brunnen ist versiegt, weil die riesigen Kohleschürfgruben den Zufluss gekappt haben. Aber ihr Menschen braucht ja immer einen Sündenbock, statt euer Handeln mal zu überdenken.« Beleidigt drehte Lucifer Hans den Rücken zu.

»Entschuldige. Das wusste ich nicht.« Hans legte ihm die Hand auf die Schulter. »Dieses Unrecht darf nicht bestehen bleiben. Wir müssen die Wahrheit im ganzen Königreich verkünden. Am besten, du kommst mit auf das Tauffest der kleinen Prinzessin und redest mal Klartext mit König und Königin.«

Völlig perplex blieb dem Teufel der Mund offen stehen. »Du willst mit mir auf ein Fest?«, fragte er Hans verblüfft. »Da kommen wir doch niemals rein. Mit Ritter Rost und seinen Zinnsoldaten ist nicht zu spaßen.«

»Ach, i wo. Ich fürchte mich nicht.« Hans grinste siegessicher und klopfte auf seinen Rucksack. »Ich habe doch eine Einladung und du bist meine Begleitung.«

☆~☆~☆

Der Fluch

Im Rosenschloss waren derweil die Vorbereitungen für die Festlichkeit in vollem Gange. Emsig wie die Bienen wuselten sie Dienstboten durch die Gänge. Überall wurde gefegt und geputzt, gewischt und gewienert.

Trotzdem hing in den königlichen Gemächern der Haussegen schief.

»Mon Dieu! Welche Taktlosigkeit!«, echauffierte sich die Königin. »Wie konntet Ihr nur die Hälfte meiner Gäste wieder ausladen? Was für ein Fauxpas!«

»Ach, Schnickschnack«, brummte König Uli. »Schneewittchen hat aus Angst vor Attentätern von selber abgesagt und Cinderella kann nur bis Mitternacht bleiben. Da lohnt sich die Anfahrt nicht.

Belle will partout nicht ohne das Biest erscheinen, aber das kommt mir nicht ins Haus. Womöglich erschrickt mein Töchterchen sich zu Tode. Von Eurem Burschen ist auch weit und breit nichts zu sehen. Außerdem habe ich recherchiert. Diese drei goldenen Haare erfüllen gar keine Wünsche! Alles Humbug. Nur weil König Drosselbart eine goldene Gans hat, wollt Ihr ihn wieder mit etwas Extravagantem übertreffen.«

»Ts, ts, ts«, wiegelte die Königin seinen Vorwurf ab. »Als hätte ich sowas nötig.«

»Ich habe mich inzwischen selbst um das leidige Finanzproblem gekümmert«, polterte König Uli. »Der Jäger hat im Wald einen Landstreicher aufgegriffen und dieser Knilch behauptet ernsthaft, er könne Stroh zu Gold spinnen. Jetzt sitzt er im Kerker, bei Wasser und Stroh. Wenn ich nur wüsste, woher wir so ein olles Spinnrad bekommen.«

Die Königin blickte ihren Gatten zweifelnd an. »Dies haltet Ihr für eine gute Idee? Warum dürfen dann nicht wenigstens alle Feen unseres Landes zur Taufe kommen?«

»Nee, nee, nee. Ich gebe kein Geld aus, das ich noch nicht habe. Bei den Schnepfen habe ich vorher angefragt, welche Gaben sie unserer Tochter mitbringen. Die Nummer Dreizehn hat was von Fleiß und Bescheidenheit gefaselt. Wozu soll eine Prinzessin sowas brauchen?«

So nahte der Vortag des großen Festes.

Das Königspaar saß beim Frühstück, als mit schepperndem Getöse die Zinnsoldaten im Flur vor dem Speisesaal durcheinander purzelten. In einer Wolke finsteren Zornes trat die Dreizehnte Fee durch die Tür. Todesmutig stellte sich ihr Ritter Rost mit erhobener Hellebarde entgegen.

»Du kannst nicht vorbei!«, dröhnte es aus seinem geschlossenen Visier.

»Pah!« Die erzürnte Fee schwang ihren Zauberstab und ein Regenschauer ergoss sich über den Ritter. Seine Rüstung begann augenblicklich zu rosten, die Scharniere wurden starr und fest und der arme Mann konnte sich nicht mehr bewegen.

Wutschnaubend stürmte die Fee um den erstarrten Wächter herum und zeigte anklagend auf das Königspaar. »Euer Hochmut wird euch teuer zu stehen kommen! Wie könnt ihr es wagen, mich einfach zu ignorieren? Für diese Beleidigung werde ich mich fürchterlich rächen.«

»Er ist schuld«, jammerte Königin Lorelei. »Ihr, mit Eurer ewigen Knausrigkeit!« Aufgebracht knüllte sie ihre Serviette zusammen und warf sie ihrem Gemahl an das gekrönte Haupt.

Die Fee schnaubte nur abfällig und trat an den Stubenwagen der kleinen Rosaliana Petulia Amalie Esmeralda Grazia. »So hört meinen Fluch«, verkündete sie unheilvoll. »Eure Tochter wird sich an ihrem 15. Geburtstag an einer Spindel stechen und tot umfallen!«

»Waaas? Das geht gar nicht!«, protestierte König Uli. Hektisch sprang er auf, sodass sein Stuhl krachend nach hinten umstürzte. »So lange können wir nicht warten. Wir brauchen diese Spindel jetzt! Bringe Sie das Teil herbei und dann darf Sie bleiben. Sogar über Nacht. Zum Tauffest morgen wird Sie als unser Ehrengast vom einzigen goldenen Teller speisen.«

»Na also. Geht doch.« Die Fee zeichnete einen umgedrehten Pfeil in die Luft und rief laut: »Gecancelt!« Dann steckte sie zufrieden ihren Zauberstab in eine der unzähligen tiefen Taschen ihres weiten schwarzen Umhanges. »Warum nicht gleich so.« Aus einer anderen Tasche zog sie eine kleine unscheinbare Handspindel und ließ diese über die gedeckte Tafel tanzen. Zugleich setzte sie sich mit zu Tische und schenkte sich eine große Tasse heißen Kakaos ein. »Ihr habt doch sicher nichts dagegen?«, fragte sie mit einem süffisanten Lächeln. »Was gibt es denn Gutes? Im ganzen Schloss duftet es verführerisch.«

»Fühlt euch nur wie zu Hause«, flötete die Königin. »Wie wäre es mit einer Schüssel voll süßen Brei?«

☆~☆~☆

Happy Sappy Ending mit Nebenwirkungen

Dem Tauffest stand nun nichts mehr im Wege. Das Schloss war vorgerichtet und aufs Feinste geschmückt. Der Gefangene hatte in der Nacht das ganze Stroh in der Scheune zu Gold gesponnen. Sämtliche Vorbestellungen konnten bezahlt werden. Die erlesensten Speisen wurden gekocht, gesotten und gebraten, dreistöckige Torten standen auf dem Buffet und exotische Früchte zierten die belegten Platten. Musikanten spielten auf und Gaukler boten Kunststückchen dar. Das Volk säumte winkend den Weg zum Schloss und begrüßte die anreisenden Gäste.

Auch Hans und Lucifer reihten sich in die lange Schlange der auf Einlass Wartenden am Tor. Mit Hilfe ihrer Einladung passierten sie es ohne Probleme, gleich nach einem großgewachsenen, schwarzen Ritter, der nur lässig mit dem königlichen Schreiben wedelte und wortlos hindurchschritt.

Lucifer hatte sein goldenes Haar zu einem modischen Zopf geflochten. Ein freches Hütchen mit langen bunten Federn bedeckte seine Hörner. Hans dagegen trug einen edlen Zwirn, den ihm der Herr der Hölle geborgt hatte. Die beiden ernteten viele neugierige Blicke und unter den Höflingen begann ein aufgeregtes Getuschel um die Herkunft der zwei edlen Herren.

Im großen Saal begann bereits der gemütliche Teil des Tages mit Umtrunk und geselligem Tanz. Die Geschenke für die kleine Prinzessin waren auf einem großen Tisch aufgestapelt, dessen Platte sich schon bedrohlich durchbog. Rosaliana Petulia Amalie Esmeralda Grazia gluckste fröhlich in ihrem prächtigen Stubenwagen und hantierte mit einer goldenen Rassel.

»Oh, sieh mal, Luc. Hier gibt es sogar süße Feigen.« Staunend langte Hans nach den kleinen Köstlichkeiten.

»Finger weg!«, warnte ihn Lucifer. »Du weißt nicht, von welchem Baum die Dinger sind. Mitunter gibt es da recht seltsame Nebenwirkungen.«

Vorsichtig legte Hans die Früchte zurück. »Was hast du wieder angestellt?«

»Ich doch nicht!« Der Teufel legte sich die Hand aufs Herz. »Für die orientalischen Flüche bin ich nicht zuständig.« Verzückt lauschte er den einsetzenden Klängen der Musik. »Komm, lass uns tanzen. Die besten Speisen werden immer als Letztes serviert.«

»Ja, weil du am liebsten Nachtisch futterst«, nörgelte Hans. »Du bist so ein Süßmaul.« Dennoch ergriff er Lucifers Hand und ließ sich aufs Parkett ziehen.

Der Abend war ein voller Erfolg. Alle waren satt, zufrieden und glücklich. Einige hatten einen Rausch, andere hatten sich verliebt und ein paar Gäste liefen mit Eselsohren durch die Gänge.

»Siehst du, was habe ich dir gesagt«, nuschelte Lucifer selbstgefällig, leckte sich die Finger ab und schielte nach dem letzten Kirschtörtchen auf dem Kuchenteller.

»Die armen Unglücklichen«, brummte Hans mitleidig. »Kann man ihnen nicht helfen?«

»Dafür braucht es das passende Antidot.« Lucifer schleckte die Sahne vom Kirschtörtchen und deutete in die Menge. »Schau mal, ob du einen kleinen knuffigen Burschen mit Turban und Flitzepantoffeln findest.«

Hans verspürte ein seltsames Kribbeln im Bauch, als sein Blick auf den Sahneschnurrbart über Lucifers sinnlichen Lippen fiel. »Du hast da was«, murmelte er leise und fuhr dem Teufel mit dem Daumen über den Mund.

Dessen tiefschwarze Augen leuchteten blutrot auf und er biss Hans spielerisch in den Finger. »Möchtest du davon kosten?«, schnurrte er einladend.

Ein unsichtbares Band zog die beiden eng aufeinander zu, als Hans plötzlich ausrief: »Da ist er ja!«

Verärgert zischte Lucifer einen nicht jugendfreien Ausdruck und suchte nach dem Störenfried. Doch es war keineswegs der kleine Muck, den er zwischen den Feiernden entdeckte.

Ein gar grausiger Gnom mit wirrem Haar und langer gebogener Nase schlich durch die Gästeschar auf den Stubenwagen der Prinzessin zu. Seiner von Lumpen umhüllten Gestalt haftete ein solch bestialischer Gestank an, dass alle Anwesenden ihm angewidert Platz machten.

Erschrocken eilte das Königspaar herbei und stellte sich naserümpfend schützend vor sein Töchterchen, während Ritter Rost sich hilflos mit quietschenden Gelenken der flüchtenden Masse entgegenstellte.

»Was willst du hier, du windiger Wicht? Bekommt dir deine Freiheit nicht?«, schrie König Uli aufgebracht.

»Bekommen hast du Gold aus Stroh, jetzt werd' mit deinem Reichtum froh. Ich hol' mir meinen Preis geschwind, vom Königspaar, das einzig Kind!«

Mit höhnischem Gelächter begann das Männlein einen wilden Tanz. »Tue nicht backen und nicht brauen. Lass mir nicht den Tag versauen. Ach, wie gut, dass niemand weiß, wie ich mit wahrem Namen heiß!«

Sofort fingen alle Anwesenden an, laut zu spekulieren und die ungewöhnlichsten Namen zu rufen: »Rippenbiest? Schnürbein? Hammelwade?«

»Nein, nein, nein«, kicherte das Männlein. »Ich bin der, dessen Name nie genannt wird. Daher werdet ihr ihn niemals erraten!«

»Verflixt, aber auch«, rätselte Hans mit. »Da bin ich um die ganze Welt gekommen, doch von diesem Wesen habe ich noch nie gehört.«

»Hm, warte mal.« Nachdenklich zupfte sich der Teufel am Ohr. »Irgendwoher kenn ich den Knilch.«

»Pennywise? Voldemort? Cruella? Sauron? Ursula?« Immer mehr Namen wurden durcheinander gerufen, doch alle verneinte das garstige Männlein und streckte seine dürren Finger nach dem königlichen Baby aus.

»Ich hab's!«, rief einer der Küchenjungen. »Du heißt Malefiz!«

»Hey«, beschwerte sich die dreizehnte Fee. »Werd' hier nicht persönlich, du Naseweis!«

»Alles Quatsch.« Lucifer trat grinsend nach vorn. »Hasta la vista, Rumpelstilzchen.«

»Aaaarghh!« Mit einem schauerlichen Kreischen stampfte das Männlein wütend im Kreis. Das Parkett flog aus den Fugen und eine Planke traf Lucifer am Kopf, sodass sein Hütchen davonsegelte und er ohnmächtig dem Hans in die Arme kippte. Risse zogen sich durch die Wände und der ganze Saal erbebte. Die Gäste stürzten zu Boden oder warfen sich vor Panik gegenseitig um. Nur der schwarze Ritter sprang mit einem gewaltigen Satz nach vorn und riss den bösen Wicht mitten entzwei. Hernach zog er sich den Helm vom Kopf und begann die Überreste zu verschlingen, denn es war kein Geringerer als der Wolf.

»Wie effizient«, lobte ihn König Uli. »Ein Leibwächter, der die Sauerei gleich beseitigt. Du bist engagiert!«

In dem ganzen Trubel kniete der Hans am Boden und tätschelte dem Teufel die bleichen Wangen. Mit flatternden Augenlidern kam dieser wieder zu sich. »Nanu, was war denn das? Mir ist, als hätte ich einen Wackerstein an den Kopf bekommen.«

»Geht's wieder?«, fragte Hans besorgt. Dann drückte er Lucifer so heftig, dass diesem die Luft wegblieb. »Oh, Mann. Was habe ich mich jetzt gefürchtet!«

Inzwischen hatten die Umstehenden Lucifers Hörner bemerkt und wichen ängstlich auseinander.

»Huaah! Wer hat denn den Teufel hier reingelassen?«, kreischte die Königin erschrocken.

»Das war ich«, dröhnte es aus Ritter Rosts scheppernder Rüstung. »Denn ich bin sein Vater.«

»Hä?« Abwehrend wedelte Lucifer mit den Händen. »Das wüsste ich aber!«

Der Hans jedoch schlug sich die Hände vors Gesicht. »Nein, er meint mich.«

Aber dies ist eine ganz andere Geschichte ...

Ende

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