wahres Leben
„Hier", meint Fabi und reicht mir einen Umschlag, der mit unserem Familienlogo bedruckt ist, „Die sollte ich euch von Maxi aus mitbringen." „Was ist das?", fragt Alex ihn verwirrt. „Seine Geburtstagseinladung", meine ich und öffne das Kuvert sofort und stelle fest, dass Alex auch eingeladen ist. Was plant Maxi jetzt schon wieder? Oder versteht er mich doch?
Nein, das ist unwahrscheinlich. Jedenfalls muss er sich etwas dabei gedacht haben, denn unsere Eltern würden Alex sicherlich nicht einladen. „Deine Familie wollte die Einladung nicht noch per Kutsche verschicken, oder?", scherzt Alex und zeigt auf das Familienwappen und all die Details auf der Karte.
„Das sind nur Einladungen zum Geburtstag", entgegnet Fabi ihm schulterzuckend, „Für wichtigere Anlässe werden Einladungen als Paket mit einem Geschenk versendet." Alex wirft mir einen eindeutigen Blick zu. ‚Darauf hast du mich nicht vorbereitet.' Ich zucke mit den Schultern. Auf diese Familie kann ich ihn gar nicht genug vorbereiten.
„Hast du einen Anzug?", frage ich ihn stattdessen, „Also, falls du mitkommen möchtest." „Keinen der Sorte, die wohl dein Bruder trägt." „Ich gib dir einen von mir", meint Fabi, „Maxi hat mir mal ein paar seiner alten Anzüge gegeben. Einer davon sollte dir passen." „Muss das sein?", fragt mich Alex mit gequältem Blick.
„Du musst nicht mitkommen und du musst dir wegen mir auch keinen Anzug anziehen oder zumindest keinen teuren. Es würde mir aber die Gespräche mit meinen Eltern erleichtern", deute ich an, ohne ihm deutlich zu sagen, was meine Eltern denken. Ich will ihm nicht das Gefühl geben, dass der Wohlstand doch ein Problem zwischen uns bringt. „Na gut", nickt Alex seufzend, „Danke, Fabi."
Einige Tage später halte ich in der Uni, an der ich studiert habe, einen Vortrag an der rechtswissenschaftlichen Fakultät. „Ihr seht also, dass Recht und Gerechtigkeit in einigen Fällen recht weit auseinander liegen, der Gesetzgeber aber theoretisch bemüht ist, diese Begriffe zu vereinen. Ich kann euch natürlich nur raten, euch selbst mit der Thematik zu beschäftigen. Es gibt wie wir gesehen haben auch wunderbare Beispiele, in denen der Gerechtigkeit genüge getan wurde", runde ich meinen Vortrag zum Schluss ab und bin einfach froh, das überstanden zu haben.
Als mehrere Hände zum Fragen nach oben gehen, rufe ich die erste, die ich gesehen habe auf. „Sie hatten jetzt ein paar neutralere Beispiele. Wie sehen sie das persönlich? Finden sie, dass dem Prozess ihres Bruders genüge getan wurde oder fallen hier Recht und Gerechtigkeit auseinander?"
Ich schlucke erstmal schwer. Nicht nur, dass mich die Frage trifft und sie überraschend ist. Auch sind in diesem Raum nur Fremde und ich habe noch nie darüber öffentlich gesprochen. Wenn Alex hier wäre könnte ich mir eine Antwort überlegen und ihn ansehen. Das würde alles leichter machen. Der Professor, der neben ihr steht, ermahnt die Studentin, dass das zu weit ginge.
„Schon in Ordnung", stelle ich überraschend sicher klar, „Man muss immer bedenken, dass auch die Täter Rechtsschutz genießen sollen und dürfen und.. Nein, ich sollte die Frage ehrlich und konkret beantworten. Ich weiß, dass die Justiz hier einiges falsch gemacht hat. Allein die Beweisfindung wurde zu früh abgeschlossen. Das hat nur gezeigt wie überfordert die staatlichen Institutionen sind und, dass hier selbst die Gerechtigkeit an ihre Grenzen stößt. Aus juristischer Sicht sind hier schwerwiegende Fehler begangen worden. Das kann aber nicht mehr geändert werden also erhebe ich als Privatperson keine Vorwürfe mehr."
Alle blicken mich schockiert an. Damit hätten sie wohl nicht gerechnet und ganz ehrlich, das habe ich auch nicht. Ich habe Angst davor, dass zu meiner Aussage ein Zeitungsartikel geschrieben werden könnte, aber mir war es wichtig, die Frage wie gewünscht ehrlich zu beantworten. Wenn man immer stumm bleibt und sich nicht gegen Unrecht wehr, dann wird Unrecht fortbestehen. Wenn meine Eltern das Urteil angegriffen hätten, würde es jetzt vielleicht die wichtige Rechtsprechung geben, die sich andere in ihrer Situation wünschen.
Nach Beantwortung der letzten Frage verlassen die meisten Studenten den Saal und ich packe meine Tasche zusammen. Als ich von der Tribüne komme bedanken sich mehrere Professoren für mein Kommen und ich unterhalte mich noch mit ihnen über das Strafrechtssystem in Deutschland. Als ich ebenfalls das Audimax verlassen möchte, bemerke ich erstmals, dass Alex in der Ecke steht und auf mich zukommt.
In diesem Moment verstecke ich meine Emotionen nicht mehr und lasse mich von ihm trösten. „Du warst gut, sehr gut, aber lass uns jetzt nach Hause gehen und was essen, okay?" Ich nicke schwach. Dass Alex hier ist und sich um mich sorgt gibt mir ein gutes Gefühl. Wir hatten zwar wie jedes andere Paar bereits kleine Reibereien aber wir untersützen uns gegenseitig. „Danke, dass du da bist", murmele ich und gehe mit seiner Hand in meiner nach draußen zu meinem Auto.
„Woher wusstest du, dass ich einen Vortrag halte?", frage ich im Auto, als ich mich etwas beruhigt habe, „Und wie bist du hergekommen?" „Kathi hat mich abgesetzt. Mein ehemaliger Professor hat mich eingeladen, weil wir uns gern über Gerechtigkeit unterhalten haben. Als ich gelesen habe, dass du den Vortrag hälst, wollte ich bleiben und danach zu dir."
„Das ist schon lieb", grinse ich schüchtern. Das sind diese Kleinigkeiten, die mir vor Alex immer gefehlt haben. Ich glaube, dass ihm gar nicht bewusst ist wie sehr ich mich darüber freue. Er wägt nicht erst ab, wie viel es ihm selbst bringt, mir eine Freude zu bereiten, sondern er macht es einfach.
„Du bist meine Freundin. Ist doch klar, dass ich deinen Vortrag mitbekommen und dich danach sehen will", lächelt mir Alex zu. Dankbar lege ich meine rechte Hand in seine, dem Automatikauto sei dank. „Das Verfahren für deinen Bruder war nicht erfolgreich?", fragt er dann nachdenklich und scheint es nicht zu verstehen. Wie auch? Keiner kann es verstehen, nicht einmal der Täter selbst konnte es glauben.
„Der Richter hat die Beweisführung zu früh abgeschlossen. Wir hätten einen weiteren Rechtsbehelf einlegen können, aber meine Eltern haben sich dagegen entschieden. Es ging wie so oft um die Repräsentation nach außen." „Lu-" „Ist gut, Alex, ehrlich. Ich komme damit klar. Meistens jedenfalls. Momentan bereitet Maxi mir die größten Sorgen", erwidere ich und denke zurück an seine Nachricht und die Geburtstagseinladung. Wenn ich nur wüsste was er im Schilde führt..
„Mach dir nicht so viele Sorgen um ihn. Er weiß vermutlich selbst nicht was er denkt", scherzt Alex leicht und beruhigt mich damit wieder. Er hat ja Recht. „Müsstest du nicht eigentlich in der Schule sein?", frage ich ihn verwirrt, als mir auffällt, dass es erst Mittagszeit ist und er am Mittwoch eigentlich bis nachmittags arbeitet.
„Meine Klassen sind heute auf einer Exkursion also konnte ich vormittags meinen Unterricht vorbereiten und habe jetzt frei." „Na dann lass uns doch essen gehen", schlage ich mit einem Gefühl von Leichtigkeit vor und freue mich darüber, dass wir einen ganzen Nachmittag nur für uns haben.
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