Kapitel 8.1
*Siiri*
Nachdem er mir sein Loft gezeigt hatte, saßen wir nun schon eine Weile auf seiner Couch und unterhielten uns einfach. Carlos, sein Kater, versteckte sich weiterhin unter dem Sideboard und beobachtete uns misstrauisch.
„Carlos ist es nicht wirklich gewohnt, dass ich Damenbesuch hab, muss ich gestehen. Er kennt bis jetzt nur Lumi und Hanni. Aber er wird schon auftauen. Ist sonst ein ganz zutraulicher" meinte er, nachdem er meinem Blick zu seinem schwarz-weißem Kater beobachtet hat, „Aber mal was anderes. Eigentlich hab ich noch nicht wirklich Hunger. Wollen wir nicht hier bleiben und wir machen uns einen entspannten Abend hier bei einem Film? Oder hast du Hunger? Dann mache ich mich jetzt fertig". Shit. Damit hab ich jetzt überhaupt nicht gerechnet. Kann nicht einmal etwas so laufen, wie geplant? Immer diese spontanen Umentscheidungen. Ok, Hunger hab ich nicht, aber so war das trotzdem nicht geplant. Überhaupt nicht. Was mach ich denn jetzt? Ein entspannter Abend auf der Couch bei einem Film? Ist das sein Ernst? Wie so ein altes Ehepaar? Ich muss mir irgendwas einfallen lassen.
„So lange es kein schnulziger Liebesfilm ist, soll es mir recht sein" antwortete ich genervter, als ich beabsichtigt hatte. Ach soll er doch denken, was er will.
„Ich überlasse es ganz dir, was wir schauen. Hier im Schrank sind DVDs und hier hast du die Fernsehzeitung. Ich geh fix duschen und zieh mir was Bequemes an, wenn dir das recht ist. Auf Dauer wird der Anzug lästig. Ob im Kleiderschrank kannst du dir gerne etwas anderes zum Anziehen raussuchen" und wies die Treppe hoch. Ist das sein Ernst? Er lässt mich hier alleine in seinem Loft, während er duschen geht? Und dann soll ich auch noch an seine Schränke gehen? Das kann er nicht bringen. Das geht nicht. Sofort spürte ich die Unruhe wieder, wie sie langsam Besitz von mir ergriff.
„Ich ähm kannst du mir nicht was zum Anziehen raussuchen? Lässt du Fremde immer in deinen Schränken rumwühlen? Was, wenn sie keine guten Absichten hegen? Oder in ihrer Vergangenheit nicht ganz so schöne Sachen angestellt haben? Vertraust du den Menschen echt so blind?" die Fragen sprudelten nur so aus mir heraus, bevor ich etwas dagegen machen konnten. Hoffentlich war ich damit nicht zu weit gegangen.
„Blindes Vertrauen würde ich das jetzt nicht nennen. Weiß ich doch gut, dass es auch nicht so nette Menschen gibt. Aber ich vertraue dir. Und ganz ehrlich? Es interessiert mich nicht, was Menschen in ihrer Vergangenheit angestellt haben. Schließlich ist es Vergangenheit und somit vorbei. Menschen ändern sich. Auch ich war kein Unschuldslamm und ich möchte auch nicht nur auf mein vergangenes Leben reduziert werden, sondern auf den Menschen, der ich jetzt bin. Und ich denke, ich bin so ganz annehmbar. Und nun geh ich dir was Bequemes raussuchen und dann verschwinde ich kurz unter die Dusche" und schon war er die Treppe hoch verschwunden. Er vertraut mir...? Ist das sein Ernst? Er kennt mich doch gar nicht. Ich glaube nicht, dass er nach so kurzer Zeit schon einschätzen kann, ob ich wirklich so harmlos bin, wie er denkt. Und doch gab es mir zu denken, was er gesagt hat. Es stimmt schon, dass sich Menschen verändern können. Hab ich es doch bei mir in den letzten drei Monaten nur zu gut gesehen. Sollte er wirklich anders sein? Nicht voller Vorurteile stecken? Die Menschen so nehmen, wie sie sind? Mit all ihren Fehlern und Macken? Egal, wie krass diese sein mögen? Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Jeder Mensch hat Vorurteile. Niemand war von ihnen befreit. Und sobald sie das wahre Gesicht erkannten, waren sie weg oder benutzten es gegen einen. Niemand konnte eine Vergangenheit einfach so ignorieren, wenn er sie kannte. Es verriet sofort, ob man ein schlechter oder guter Mensch war und ich zählte eindeutig nicht zu den guten. Auch würde ich nie zu ihnen gehören. Ich war ein böses Mädchen und würde es immer bleiben. Wie konnte er sowas einfach hinnehmen können? Das konnte niemand einfach so. Während er duschen war, zog ich mir mein enges Kleid aus und schlüpfte in die Jogginghose und den weichen Pullover, welche er mir über die Couch gelegt hat. Natürlich waren sie viel zu groß, doch dafür wahnsinnig flauschig. Seine Worte ließen mir keine Ruhe und so schnappte ich mir mein Handy. Wer aus der WG könnte Sebu denn am besten kennen? Vermutlich Jukka, da er oft und viel mit ihm zusammen arbeitet. Also schrieb ich ihm und während ich auf seine Antwort wartete, schaute ich mir das Fernsehprogramm für heute an.
Siiri: Hi Jukka. Kann ich dich mal etwas fragen?
Jukka: Aber klar doch. Was gibt es denn?
Siiri: Wie ist Sebu sonst so? Wie ist er so drauf?
Jukka: Meinst du außer, dass er ein Spinner ist? Naja. Er ist ein Freigeist. Liebt seine Freiheit und das, was er mit ihr machen kann. Warum fragst du?
Da konnte ich Sebu sehr gut verstehen. Wer liebt denn seine Freiheit nicht? Jeder wäre doch froh, wenn er das machen kann, was er möchte. Genau das tue ich ja schließlich auch und möchte gar nichts anderes machen. Niemals würde sich das ändern. Ich würde immer nur das tun, was ich will. Ist immerhin mein Leben, also lasse ich mir da auch von niemandem reinreden. Und das sollten andere auch nicht. Dann wäre vieles viel einfacher und niemand würde aus seinem Leben ausbrechen wollen. Doch genau das habe ich schon so oft erlebt. Viel zu oft. Warum sonst kommen verheiratete Männer zu mir? Familienväter, die ihrem Alltag entfliehen wollen. Oder etwas suchen, das sie von ihren Frauen nicht bekommen. Freigeist. Irgendwie passt das sehr gut zu Sebu und das Spinner auch. Und indirekt bestätigt das meine Gedanken über ihn. Doch das reichte mir noch nicht. Ich wollte es genauer wissen. Wollte wissen, ob Sebu wirklich anders war. Anders, als andere Männer. Anders, als andere Menschen. Ob sein Denken wirklich dem entsprach, was er eben sagte. Ich wollte mehr über ihn erfahren und so antwortete ich schnell.
Siiri: Er kommt irgendwie anders rüber, als andere Männer... Nicht so klischeehaft. Er meinte so nebenbei, das ihm die Vergangenheit eines Menschen nicht so interessiert. Stimmt das?
Jukka: Das stimmt. Ihn interessiert nicht, was andere früher gemacht haben. Ihm kommt es aufs hier und jetzt an. Er möchte, dass die Leute ihm Vorurteilsfrei begegnen. Also macht er es bei anderen auch. Versuche mir in der Hinsicht ausnahmsweise mal zu vertrauen.
Vertrauen? Der spinnt wohl. Ich vertraue nur mir selber und das ist auch gut so. So kann man nicht enttäuscht und verletzt werden... Auch nicht hintergangen und schlimmeres...
Sollte es doch stimmen? Konnte ich mich so in Sebu täuschen? Ausnahmsweise mal nicht richtig liegen, was die Einschätzung eines Mannes angeht? Wie kann einem Menschen die Vergangenheit seines gegenüber nicht interessieren? Ist es nicht genau das, was einen Menschen ausmacht? Worte, die gefallen sind. Taten, die passiert sind, oft immer und immer wieder. Dinge, die einem selber angetan wurden. Alles Sachen, die mich zu dem gemacht haben, die ich jetzt bin. Aber wenn er wirklich so denkt, was hat er dann alles erlebt, das er heute so denkt? Hat er eine ähnliche Vergangenheit wie ich? Oder warum sonst möchte er, dass ihm die Menschen Vorurteilsfrei begegnen? Er sagte ja selber, dass er kein Unschuldslamm war. Was hat er angestellt? Hat er Leute bestohlen? Sich geprügelt oder andere verprügelt? Oder gar noch schlimmeres? Aber so richtig konnte ich mir das nicht vorstellen bei ihm. Nur leider täuscht oft der erste Eindruck. Vielleicht ist das auch der Grund, warum er Single ist? An seinem Aussehen liegt es ganz sicher nicht. Und wenn ich mich hier so umschaue, kommt er finanziell zumindest ganz gut klar. Er meinte ja, dass das Loft ihm gehört und billig war das ganz sicher nicht und die Einrichtung macht auch keinen allzu billigen Eindruck. Aber auf der anderen Seite auch keinen protzigen oder angeberischen.
Jukka: Sag mal, seid ihr nicht mehr bei dir? Versuche dich anzurufen, aber es geht keiner ran. Wo treibt ihr euch rum?
Siiri: Wir sind vor kurzem bei ihm angekommen und wollen uns gleich den Boxkampf im Fernsehen anschauen. Was wolltest denn?
Jukka: ..... Du bist bei ihm? Das ist ein Scherz, oder?
Siiri: Seit wann mache ich denn Scherze. Was stimmt denn daran nicht?
Jukka: Nun. Du solltest wissen, dass Sebu ziemlich eigen ist, wenn es um sein Loft geht. Es ist seine Festung der Einsamkeit, wo er zur Ruhe kommen und entspannen kann. Er würde dich nie da mit hinnehmen, wenn er in dir nur einen ONS sehen würde.
Warum versuchte er mich zu erreichen? Hätte er doch einfach mal auf meinem Handy angerufen und nicht auf dem Festnetz. Und warum interessiert es ihm, wo wir sind? Ist sein Leben so uninteressant? Typisch Männer. Wollen immer alles wissen, was sie eigentlich überhaupt nichts angeht. Aber da ich mit den Fragen angefangen hab und Jukka vielleicht noch für antworten brauche, will ich mal nicht so sein.
Wie kommt er darauf, dass es ein Scherz sein könnte? So unerträglich bin ich ja nun auch nicht. Beziehungsweise hat Sebu das nur noch nicht bemerkt.
Was sollte er denn sonst in mir sehen? Wir haben gleich zu Beginn geklärt, das es alles ohne Verpflichtungen ist und ganz ungezwungen. Nur Spaß und mehr nicht. Alles andere kann er sich abschminken. Von Freundschaft oder Liebe braucht er gar nicht erst anfangen. Ich hoffe, das weiß Sebu. Vielleicht sollte ich es ihm nochmal verdeutlichen? Nur so zur Sicherheit? Es war ein scheiss Idee, mit hier her zu kommen. Ich hätte beim eigentlichen Plan bleiben sollen und ihn zuhause rausschmeißen sollen. Nun hab ich wohl den Salat und kann zu sehen, wie ich da wieder rauskomme, sollte da doch mehr sein. Oder er sich mehr erhoffen. Nicht mit mir, Freundchen. Tu dir selber einen Gefallen und lass es. Es würde dir nicht gut bekommen. Und weiter machte sich die Unruhe in mir breit. Das dürfte nicht sein. Auf keinen Fall dürfte er sich in mich verlieben. Das musste ich genauer wissen. Nahm Sebu sonst keine Frauen mit her? Oder wie sollte ich das jetzt verstehen. Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Nicht jede Frau will ihren ONS mit zu sich nach Hause mitnehmen. Und Sebu scheint nicht der Hotel Typ zu sein.
Siiri: Wie meinst du das? Und was meinst du mit deinem letzten Satz...?
Jukka: In dem Loft war noch nie eine Frau, mit der geschlafen hat und er hatte dort noch nie eine Frau, mit der er schlafen wollte. Er sieht in dir eben... ja... vielleicht ein bisschen mehr, als nur eine Affäre. Nur eine Vermutung.
Verfluchter Scheibenkleister. Das war genau das, was ich nicht lesen wollte. Nicht wissen wollte. Es dürfte nicht sein. Niemals. Jeder, der sich in mich verliebt, verbrennt sich nicht nur die Finger dabei. Es war ein Fehler. Ich habe tatsächlich seit langer Zeit einen Fehler begangen. Ich hätte nie mit hier herkommen dürfen. Ich hätte ihn nicht mal mit zu mir nehmen dürfen. Vorm Club hätte ich die Sache beenden müssen. Bevor sowas passieren konnte. Er hat keine Ahnung, worauf er sich einlässt. Andererseits ist es nur eine Vermutung von Jukka. Er kennt ihn allerdings wesentlich besser als ich. Und warum sollte Sebu mich sonst mit hier nehmen, wenn hier noch nie eine Frau war, mit der er geschlafen hat? Deutlich spürte ich die Unsicherheit in mir. Immer schneller breitete sich die Unruhe in mir aus und das Zittern nahm wieder Besitz von mir. Wie konnte ich nur so dumm sein? Ich konnte nicht hier bleiben. Sobald er aus dem Bad kam, musste ich mir was einfallen lassen, wie ich schnell verschwinden konnte. Meine Nummer hatte er zum Glück nicht, allerdings wusste er, wo ich wohne. Immer mehr Fehler fielen mir auf. Wann genau bin ich so unvorsichtig geworden? Die ganze Sache war von Anfang an ein Fehler gewesen. Ich hätte mich nie auf diese Silvesternacht einlassen dürfen. Ich hätte einfach stur weiter nein sagen müssen und nicht irgendwann nachgeben, nur damit die WG Ruhe gab. Wann ist das nur so ausgeartet? Ich hätte spätestens beim Frühstück misstrauisch werden müssen. Nun musste ich mir was Gemeines einfallen lassen, damit er mich definitiv nicht wiedersehen will. Auch wenn mir das die WG krumm nehmen wird. Aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. Sie kennen mich und wissen, dass es mir im Grunde egal ist, was sie denken. Naja, bei einem nicht... Aber er wird mir auch nicht helfen können. Dann werde ich ab jetzt die böse Siiri raushängen lassen. Dürfte dann nicht lange dauern, bis er mich rausschmeißt...
Mit einmal sprang etwas auf meinen Schoß und erschrocken zuckte ich zusammen. Es war Carlos, der mich mit großen Augen anschaute und sein Köpfchen an meiner Hand rieb. Abwesend kraulte ich ihn und irgendwie gab mir das ein vertrautes, beruhigendes Gefühl. Ich mochte Tiere. Sie hatten nichts Hinterhältiges an sich. Entweder sie mögen dich oder nicht und beides zeigten sie dir auf ihre Art und Weise. Ich hörte, wie Sebu die Bad Tür öffnete und hoffte, er würde meine Unruhe nicht bemerken.
„Ich bin gleich bei dir, minun kaunis" rief er mir zu, während er an sein klingelndes Handy ging und sich rauchend in den Wintergarten stellte. Lass dir ruhig Zeit Tiger, bin eh gleich weg. Für immer, dachte ich mir nur. Carlos schnurrte zufrieden, während ich seinen Bauch kraulte. Ich versuchte mich auf ihn zu konzentrieren und so merkte ich gar nicht, dass ich nach kurzer Zeit deutlicher ruhiger wurde.
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