◀ Kapitel 18 ▶

◀ Kapitel 18 ▶

Amadeus Cho, Sanctum Sanctorum, 23.35 Uhr, 239 Tage nach Thanos

Irritiert laufe ich durch das Sanctum.

„Wong?", frage ich laut. Ich warte kurz ab, doch ich kann keine Antwort von dem Mann hören, weswegen ich leicht zu schmollen beginne. Wo sind denn alle? Dass Wong nicht aufzufinden ist, ist nichts Neues. Aber, dass auch Annie nirgendwo aufzufinden ist und sie mir nicht Bescheid gesagt hat, wo sie sich befindet, ist ungewöhnlich.

Oder ist sie zurück in das HQ gegangen und hatte es mir nicht erzählt? Wohl kaum, oder?

Ich gehe in die Küche und sehe mich suchend um. Mein Blick fällt auf das Abendessen, das sich immer noch auf dem Teller befindet, wie ich es vorhin verlassen habe. Also hatte Annie es noch nicht mal angerührt... ob sie überhaupt weiß, dass ich ihr etwas gekocht habe?

Ich mache mich erneut auf den Weg zu ihrem Zimmer, in der Hoffnung, dass sie mittlerweile dort ist, doch sie ist es nicht.

Dann allerdings fällt mir auf, wo sie noch sein könnte und ich drehe um. Wieso bin ich nicht schon eher darauf gekommen? Immerhin hatte Annie sich in letzter Zeit viel zu oft in der Bibliothek verkrochen.

Ich öffne die Tür zu der riesigen Bibliothek und trete ein. Ich gehe an den vielen Regalen vorbei und sehe sie dann genau dort, wo ich sie erwartet habe.

Annie sitzt, mit dem Kopf auf den Armen abgestützt, auf dem Tisch und schläft. Neben ihr befindet sich noch ein großer Stapel Bücher und ich weiß, dass sie schon zu lange nicht mehr ordentlich geschlafen hat.

Ich werfe einen Blick auf das Buch vor ihr und ziehe eine Augenbraue in die Höhe. Wofür braucht Annie denn bitte Entspannungsstechnicken und Körperwahrnehmungsübungen? Oder liest sie mittlerweile einfach irgendwas, um etwas zu tun zu haben?

Vorsichtig trete ich einen Schritt näher an sie heran und rüttele sie sanft wach. Sie fährt hoch und sieht mich mit großen Augen an.

„Was machst du denn hier?", fragt sie mich.

„Dein Essen in der Küche ist immer noch nicht angerührt und ich wollte gucken, wo du bist.", antworte ich ihr und sehe, dass ihr scheinbar auffällt, wie spät es eigentlich ist. Sie seufzt und streicht sich die welligen Haare aus dem Gesicht.

„Tut mir leid. Du hast dir bestimmt Mühe gegeben, oder?", fragt sie mich und ein entschuldigender Gesichtsausdruck schleicht sich auf ihr Gesicht. Ich verbuche das als einen weiteren Fortschritt, denn in den letzten Wochen war es ihr eigentlich egal, ob ich mir Mühe mit dem Essen gegeben habe, oder nicht. Sie hat es nicht gegessen, wenn sie nicht wollte.

„Hast du es schon weggeschmissen?", fragt sie mich dann und ich schüttele den Kopf.

„Sehr gut, dann esse ich es jetzt. Kommst du mit mir?", fragt sie und schlägt das schwere Buch zu. Ich zögere, doch erhebe mich ebenfalls und laufe mit ihr gemeinsam in die Küche. Dort erhitzt sie das Essen schnell in der Mikrowelle und ich setze mich schon an den Tisch.

„Und jetzt erzählst du mir bitte, was das für Bücher sind, die du da gelesen hast.", fordere ich sie auf. Annie lässt eine Gabel aus dem Besteckkasten zu sich fliegen.

„Das sind Bücher über Kontrolle und Körperwahrnehmung.", erklärt sie mir das, was ich schon weiß.

„Und wofür?" Annie holt den Teller aus der Mikrowelle und lässt sich an den Tisch fallen. Mir fällt erst jetzt auf, wie sie aussieht. Jogginghose, Schlabberpulli und Kuschelsocken.

„Ich versuche einen Weg zu finden, dass ich nicht die Kontrolel verliere, wenn ich meine Kräfte in vollem Ausmaß nutze.", meint sie und nickt anerkennend, als sie eine Gabel des Essens probiert hat.

„Wieso? Du hattest doch sonst auch nie das Problem, oder?", frage ich ehrlich interessiert.

„Doch... aber Namor war derjenige, der mich hätte töten sollen, bevor ich die Kontrolle verliere. Er ist jetzt nicht da, also brauche ich eine andere Möglichkeit.", meint sie. Nachdenklich sehe ich sie an.

„Und wieso machst du dir gerade jetzt Gedanken um so etwas?" Annie lacht beinahe bitter auf.

„Weil ich die Kriegerin in mir drinnen nicht ruhiggestellt bekomme.", meint sie und trinkt einen Schluck.

„Wie meinst du das?"

„Wir sind gerade mehr als nur verwundbar. Über die Hälfte der Beschützer dieser Erde sind zu Staub zerfallen. Es überrascht mich, dass bis jetzt noch kein kriminelles Superhirn versucht hat, das zu seinem Vorteil zu nutzen.", meint sie und ich sehe sie nachdenklich an.

„Das ist ein gutes Argument.", nuschele ich.

„Ja. Und genau deswegen will ich einen Weg finden, dass ich nicht die Kontrolle verlieren werde, wenn es einen Feind geben wird, für den ich meine Kräfte bis aufs letzte strapaziere.", erklärt sie. Das klingt logisch. Besonders, weil ich weiß, dass eine von Annies größten Ängsten es ist, dass sie der Grund ist, dass uns etwas zustößt.

„Bist du bisher fündig geworden?", möchte ich interessiert wissen. Annie schüttelt den Kopf.

„Noch nicht, nein.", gesteht sie. Einen Moment ist es still und ich sehe Annie dabei zu, wie sie isst, dann sieht sie mich plötzlich aufgeregt an.

„Ich habe allerdings etwas beschlossen, das auch dich betrifft.", verkündet sie dann.

„Du wirst kämpfen lernen!", fügt sie dann noch hinzu und ich sehe sie mit hochgezogener Augenbraue an.

„Guck nicht so, das ist wichtig, Cho.", meint sie.

„Ich habe mich doch ganz gut geschlagen in Wakanda.", versuche ich mich zu verteidigen und sie sieht mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Ja okay, sie hatte mir das ein oder andere Mal helfen müssen, aber ich wäre vielleicht auch noch alleine aus den Situationen gekommen.

„Ja, weil Shuri dir die beste Ausrüstung bereit gestellt hat, die du hättest bekommen können. Was ist, wenn du die irgendwann mal nicht hast?", meint sie deshalb nur und ich zucke hilflos mit den Schultern.

„Na schön... lass mich raten... du willst mir das Kämpfen beibringen?" Ich weiß doch eh, dass ich keine Chance habe, gegen Annie anzukommen. Sie wird ihren Willen bekommen und das ist auch sinnvoll so. Aber das heißt nicht, dass es mir gefallen muss.

„Ja. Hast du ein Problem damit?"

„Och, najaaa..." Ich zögere.

„Was?", hakt sie nach und sieht mich fast schon beleidigt an.

„Ich habe gesehen, wie du ausbildest...", sage ich unsicher und sehe, dass Annie keine Ahnung hat, was ich meine.

„Und?", fragt sie.

„Du bist sehr... streng?", gestehe ich ihr und sie lehnt sich in ihrem Stuhl zurück.

„Strenge während des Unterrichtens steigert die Erfolgschancen und die Lerngeschwindigkeit.", sagt sie beinahe emotionslos und ich beginne zu lachen. Das ist so typisch sie.

„Du bist unmöglich, Annie.", meine ich lachend.

„Ich weiß, das liebst du ja so an mir." Jetzt bricht auch sie ihre ernste Miene und beginnt zu lachen.

„Wann fangen wir an?", gebe ich mich dann aber geschlagen.

„Am besten morgen... oder musst du dich noch seelisch vorbereiten?"

„Ha... ha... sehr witzig.", schmolle ich leicht und rolle demonstrativ mit den Augen.

Ich habe jetzt schon wahnsinnige Angst vor morgen, doch ich weiß auch, dass Annie Irwin die wohl beste Lehrerin ist, die man bekommen kann. Immerhin hatte sie es geschafft fast 100 Jahre erfolgreich zu kämpfen und sich einen gewissen Ruf erarbeitet. Und das würde sie nicht, wenn sie schlecht wäre... Ich muss beinahe lachen, wenn ich mich daran erinnere, dass die Frau, die sich hier vor mir befindet, im Dezember 1920 geboren wurde... damit ist sie mittlerweile 99 Jahre alt. Kaum zu glauben, dass sie zwei Jahre jünger ist als Bucky und ein Jahr jünger als Steve...

Es ist immer wieder komisch zu realisieren, dass Annie alt ist. Allerdings sollte man auch fasziniert davon sein, wie gut HYDRA ihre Droge, die sie Annie damals gespritzt haben, perfektioniert haben. Immerhin sieht Annie immer noch aus wie Ende 20 und wird laut Howard Stark (und auch laut Tony, der das Ganze nachgerechnet hatte) noch gut weitere 100 Jahre, wenn nicht sogar mehr vor sich haben. Eigentlich ist es deprimierend, dass alle Leute, die sich mit Annie abgeben, schon so alt sind. Steve und Bucky, die beiden Supersoldaten altern sowieso langsamer, ebenso wie Annie. Namor hätte auch ewig mit Annie leben können. Kaum zu glauben, dass er sogar zwei Jahre jünger ist, als Annie. Und Stephen? Auch Stephen hätte noch lange mit ihr leben können. Seine Tätigkeit als oberster Zauberer schenkt ihm ebenfalls ein längeres Leben. Und ich? Ich habe nichts dergleichen. Annie wird mir beim Altern zusehen können und wenn es soweit ist, dann wird sie an meinem Grab stehen und ich weiß jetzt schon, dass ihr das nicht gut bekommen wird.

Ich schüttele den Kopf, wenn ich an so etwas denke. Dafür ist jetzt bei weitem keine Zeit. Stattdessen stehe ich schnell auf und lächele sie ein Mal an.

„Gute Nacht, Annie."

Annie Irwin, Sanctum Sanctorum, 01.25 Uhr

„Annie Irwin, fünfter Eintrag, 239 Tage nach Thanos...

Ich habe heute sehr viel Zeit in der Bibliothek des Sanctums verbracht. Wong hat mir ein paar echt gute Bücher empfohlen, die ich mir durchgelesen habe, doch bisher habe ich noch nichts gefunden, das mich weiterbringen würde.

Es tat mir fast schon leid, dass Cho mich wieder schlafend in die Bibliothek gefunden hat... der macht sich schon genug Sorgen und das tut mir wirklich weh.

Er gibt sich immer sehr viel Mühe mich aufzumuntern und es tut mir leid, dass ich dies meistens nicht richtig würdige. Aus genau diesem Grund habe ich heute noch gegessen, obwohl ich nicht wollte.

Und ich wollte ihm unbedingt den Vorschlag mit dem Kämpfen erklären. Ich war wirklich überrascht, dass er nicht so abgeneigt war, wie ich erwartet habe. Cho ist wirklich eine große Hilfe für mich in letzter Zeit.

Ich habe heute an T'Challa gedacht, als ich realisiert habe, was Cho alles für mich tut. Ich weiß das wirklich zu schätzen, dass T'Challa damals auf meiner Seite stand, auch, als er mich noch nicht leiden konnte. Man muss ihm allerdings zugutehalten, dass ich ja auch nicht viel besser war. Ich konnte ihn nicht leiden und er konnte mich nicht leiden. Doch ich habe gemerkt, dass er ganz okay war. Mir wäre niemals in den Sinn gekommen, dass ich tatsächlich mal so etwas wie eine Freundschaft zu T'Challa aufbauen könnte, bis er plötzlich in Pleasant Hill vor mir stand. Ich weiß nicht, ob er weiß, was es mir eigentlich bedeutet hat, dass ausgerechnet er an Namors Seite dort aufgetaucht ist, doch ab diesem Zeitpunkt habe ich tatsächlich so etwas wie eine Freundschaft zu T'Challa geführt. Und ab dem Zeitpunkt, wo Shuri mir die Rüstung geschenkt hat und T'Challa mich in seinem Königreich völlig offen und freundlich empfangen hat, konnte ich nicht mehr anders, als T'Challa und seine Schwester nur zu mögen.

Ich bin dankbar für alles, was er jemals für mich getan hat und ich bereue es wirklich, dass ich ihm das nicht gesagt habe. Ich will, dass er weiß, wie dankbar ich ihm bin, aber ich glaube, dass er das insgeheim wusste... Danke, T'Challa. Danke für alles. Ich hoffe, du findest deinen Frieden."

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