Epilog

Und hier befinden wir uns nun.

Hättet Ihr am Anfang des Buches gedacht, dass meine Geschichte so enden würde? Dass Zach am Ende dieses Buches tot sein würde? Dass eine meiner Identitäten ihn beim Schlafwandeln erstochen hat, weil sie davon geträumt hat, meinen Vater umzubringen?

Ich auch nicht.

Wenn es Euch schon verrückt vorkommt, dann versucht Euch mal in meine Lage hineinzuversetzen. Und sagt bloß nicht, ich hätte Euch am Anfang des Buches nicht vorgewarnt, dass es kein Happy End geben wird.

Sebastian versteckt Beth, Jamie und mich seit knappen drei Wochen hier in seinem Haus am See, während die Polizei alles darum gibt, mich zu finden. Die Fahndung nach mir war schon vierundzwanzig Stunden nach Zachs Tod draußen. Mein Bild war in jeder Zeitung und in jeder Nachrichtensendung zu sehen. Aussagen meiner Geschwister, dass ich so etwas nie getan hätte, waren auch überall zitiert.

Owen hat der Polizei und den Reportern von meiner DIS erzählt. Mittlerweile bin ich als Psycho-Mörderin abgestempelt worden. Brielle hat alle Reporter vom Haus verscheucht und Jed hat ihnen zugeschrien, dass sie in alle Zeitungen abdrucken sollten, dass es ihm leidtat und ich nach Hause kommen sollte, damit ich es erfahren würde.

Ich habe in den letzten drei Wochen nicht viel anderes getan, als meine Geschichte niederzuschreiben. Vermutlich wird es da draußen nicht eine Seele geben, die mir das alles glaubt. Verdammt, wahrscheinlich glaubt Ihr, dass ich wirklich verrückt bin und den Mord an meinem Freund zu rechtfertigen versuche.

Aber das ist auch nicht wirklich der springende Punkt. Ich will nicht zwingend, dass mir irgendjemand glaubt. Denn ich habe beschlossen -wir haben beschlossen- unser Leben zu beenden, sobald das letzte Wort getippt ist.

Sebastian weiß davon noch nichts. Er denkt nach wie vor, dass wir zur Polizei gehen werden.

Er hat gemeint, dass es einmal einen Fall gegeben hat, in dem ein Schlafwandler seine Mutter oder Großmutter abgestochen hat und freigesprochen wurde. Aber um ehrlich zu sein, will ich gar nicht freigesprochen werden. Ich habe den Menschen, den ich auf dieser Welt am meisten liebe -den ersten Menschen, den ich wirklich geliebt habe- umgebracht. Meine Hände haben das Messer umklammert und zugestochen. Ich will selbst nicht mehr frei herum laufen. Ich will nirgends mehr herum laufen.

Ich will nicht ohne Zach leben. Ich will nicht für den Rest meines Lebens mit dem Wissen leben, ihn umgebracht zu haben, selbst, wenn es meinem Schlafwandeln zuzuschreiben ist. Ich will kein Kind austragen, dessen Vater tot und dessen Mutter eine psychisch gestörte Mörderin ist. Ich will nicht eingesperrt sein. Ich will nicht weiter frei herumlaufen.

Ich will nur das Ende. Und das Ende ist verdammt nahe, denn wir sind am Epilog dieses Buches angekommen.

Trotzdem möchte ich noch ein paar Dinge sagen, oder besser gesagt: niederschreiben.

Zum einen, ist die Entscheidung, uns das Leben zu nehmen, einstimmig ausgefallen. Beth hat mir von all den Traumata erzählt, die Jamie trägt. Früher habe ich mir nie vorstellen können, an einer DIS zu leiden, weil ich das Gefühl gehabt habe, nicht genug Schreckliches erlebt zu haben. Allerdings war es wohl tatsächlich Jamie, der das meiste abgefangen hat, und das tut mir unendlich Leid.

Ich weiß nun auch, warum Jamie nach dem Tod meiner Mutter so viele Jahre nicht wieder aufgetaucht ist. Einen Monat nachdem sie verschwunden ist, hat unser Vater Jamie mitten in der Nacht aus dem Bett gezerrt, nach unten in den Keller, in dem es schon furchtbar gerochen hat. Er hat Jamie in die Truhe zu dem in Plastikfolie eingewickelten, verwesendem Körper gesteckt und ihm gedroht, wenn er jemals einer Menschenseele davon erzählen würde, dass sie da drinnen war, würde ihm genau dasselbe Schicksal erwarten. Einige Stunden hat Jamie in diesem Sarg gelegen. Als mein Vater ihn wieder hinausgelassen hat, hat sich der kleine Knirps aus Selbstschutz und Angst in den Tiefen meines Unterbewusstseins verkrochen und ist vor Thanks Giving letzten Jahres nicht mehr an die Oberfläche gekommen. Und weil er nicht mehr da war, um mir beim Überleben zu helfen, hat Beth sich von ihm abgespalten und zu beiden Teilen von uns eine starke Verbindung gehabt. Kurz darauf hat mein Vater mich zur Kinderpsychologin geschleppt, weil ich nicht mehr schlafen wollte, aus Angst, Beth könne aufwachen.

Sie hat all die Jahre über Kontakt zu Jamie gehabt, um ihm zu helfen und ihn zu beschützen. Mir gegenüber hat sie jedoch nie ein Wort darüber verloren.

Ich werde weder all die grauenhaften Ereignisse niederschreiben, die der Kleine von mir ferngehalten hat, noch wie wir unser Leben beenden werden, denn ich möchte niemandem eine Idee zum Nacheifern geben. Beth und Jamie sehen ebenfalls keinen Sinn mehr darin, dieses Leben weiter zu führen. Denn keiner von uns wird sich jemals von den Geschehnissen erholen.

Was ich mit diesen Seiten machen werde? Ich werde es an die Presse schicken, die wird sich vermutlich wie Geier darauf stürzen. Ich kann die Titel in den Zeitungen schon sehen.

Mörderin schreibt vor Freitod Motiv nieder.

Als hätte ich ein Motiv gehabt.

Außerdem möchte ich klarstellen, dass meine Form der dissoziativen Störung extrem selten ist und ganz und gar nicht der Norm entspricht. Ich will klarstellen, dass Leute mit dissoziativen Störungen nicht gefährlicher sind, als andere Menschen, wenn überhaupt, dann eher anders herum. Wir haben alle Traumata erlebt und hüten uns davor, Gewalt auszuüben, wenn es sich vermeiden lässt. Ich habe in den letzten Wochen viel zu oft im Internet mitbekommen, dass Menschen Angst vor uns haben. Das ist bestimmt auch den Medien zuzuschreiben, die Antagonisten mit psychischen Erkrankungen schaffen.

Gleichzeitig sollte ich wohl auch anmerken, dass schlafwandelnde Leute nicht dazu neigen, jemanden abzustechen. Was mir widerfahren ist, war eine Reihe furchtbarer Ereignisse, die alle dazu geführt haben, wo wir uns jetzt befinden.

Im Endeffekt muss jeder für sich selbst entscheiden, was er aus Beths und Jamies und meiner Geschichte mitnehmen will.

Vielleicht nehmt Ihr es als Motivation, niemals aufzugeben, woran Ihr festhalten wollt, egal, wie sehr Euch andere davon überzeugen wollen, dass Ihr unrecht habt. Ich habe meine Theorien, dass ich an einer dissoziativen Störung leide, auch nie aufgegeben. Ihr kennt Euch besser, als jeder andere Mensch auf der Welt, also lasst euch nichts einreden.

Vielleicht nehmt Ihr aus diesem Buch mit, dass man auf die Leute hören sollte, die einen schützen wollen und manche Dinge besser im Dunkeln belassen sollten. Ich hätte auf Beth hören und Jamie in Ruhe lassen sollen. Dann hätte ich vielleicht niemals die Wahrheit über meinen Vater erfahren und Zach wäre noch am Leben.

Vielleicht nehmt Ihr aus diesem Buch mit, dass man nie wissen kann, wie die Dinge sich entwickeln, und dass die romantische Vorstellung von einem Happy End nicht immer eintrifft.

Aber man kann sein Leben zumindest ein bisschen erträglicher gestalten, in dem man zwei Dinge befolgt. Erstens: Sagt den Leuten, die Ihr liebt, dass Ihr sie liebt. Zweitens: Geht niemals böse aufeinander schlafen.

Und bevor ich dieses Buch endgültig abschließe, möchte ich mich bei einigen Leuten entschuldigen.

Mr. Parsons, es tut mir unendlich leid, dass ich Ihnen Ihren Sohn genommen habe und ich weiß, dass Sie mich nur noch mehr hassen werden, wenn Sie diese Zeilen lesen. Aber es ist das Mindeste, was ich tun kann.

Dasselbe gilt für Zachs Mutter und seine kleine Halbschwester: Es tut mir mehr Leid, als ein „Es tut mir Leid" ausdrücken könnte.

Owen, Brielle, Jed. Es tut mir leid, dass ich eine so schreckliche Schwester war. Dass ich euch nie an mich ran gelassen habe. Dass ich nicht normal war und mich nicht an den Abend erinnern konnte, an dem unser Vater unsere Mutter umgebracht hat. Ich hoffe, dass du eine glückliche Ehe führen wirst, Owen. Ich hoffe, dass George deine wahre Liebe ist und dich glücklich machen wird, Brielle. Ich hoffe, dass du ab jetzt ein normales, sorgenfreies Leben führen kannst, Jed, und nicht auf die falsche Spur gerätst. Ich hab euch alle so unfassbar lieb! Und es tut mir leid.

Carter, es tut Beth und mir leid, dass wir dich in diese ganze Sache hinein gezogen haben. Und es tut uns Leid, dass du uns nicht mehr helfen konntest. Du hast alles Erdenkliche getan und die Entscheidung, unser Leben zu beenden, hättest auch du nicht ändern können. Danke für alles!

Sebastian, ich weiß nicht recht, was mir Leid tut und was Beth Leid tut. In den letzten Tagen sind unsere Gefühle so unfassbar ineinander verflochten. Es tut uns einfach Leid. Du kommst bestimmt nicht in Schwierigkeiten, sobald diese Geschichte an die Öffentlichkeit gelangt, denn wie du bestimmt gemerkt hast, habe ich nie deinen richtigen Namen verwendet, wie bei Ivory. Ich habe auch niemals deinen Nachnamen oder deine genaue Adresse erwähnt. Meine Geschwister kennen dich nicht und die Polizei kann keine Verbindung zu uns herstellen, denn du warst mehr in Beths Leben als in meinem. Es tut mir leid, dass ich dich in diese Position gebracht habe und diese Tatsachen nun veröffentliche. Das hast du nicht verdient, aber meine Geschichte darf kein Geheimnis bleiben.

Ivory, es tut mir Leid, dass du und die Anderen nun eine Leidensgenossin verliert. Bestimmt wirst du diese Zeilen nie lesen, aber falls doch: Ich danke dir und allen anderen in eurem System, dass ihr mich so sehr unterstützt habt.

Und die Entschuldigung, die gar nicht existieren sollte: Es tut mir so, so, so unfassbar Leid, Zach. Du hast das alles nicht verdient und wenn ich mit dir den Platz tauschen könnte, würde ich es augenblicklich tun. Ich wollte niemals, dass die Dinge zwischen uns so enden. Ich wollte überhaupt nicht, dass sie enden. In einem andern Leben wären wir vielleicht glücklich geworden.

Ich will das Unvermeidliche nicht aufschieben, aber eine letzte Sache möchte ich Euch doch noch mit auf den Weg geben: Das Schicksal ist schon eine lustige Sache. Bei unserem ersten richtigen Date im Wald, hat Beth Zach erzählt, dass ich gerne in einem Haus am See wohnen würde. Dass ich gerne ein Buch schreiben würde. Einen Thriller über dissoziative Störungen. Dass dieses Buch meine eigene Geschichte sein würde, hätte ich niemals gedacht.

Das ist es wohl, was die Leute unter „Ironie des Schicksals" verstehen.

Damit verabschieden wir uns. Beendet man ein Buch mit einem Dank an jeden, der sich die Zeit genommen hat, es zu lesen? Beth sagt ja, also... Dankeschön an alle, die unsere Geschichte gelesen haben!

Anna, Beth & Jamie

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