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Schlafwandeln ist unheimlich. Richtig unheimlich. Es gibt Leute, die beim Schlafwandeln kochen. Leute, die im Schlaf fremdgehen. Leute tun im Schlaf Dinge, an die sie sich am Morgen nicht mehr erinnern. Ich glaube, dass es sogar einen Fall gibt, bei dem ein Mädchen jahrelang geschlafwandelt ist und niemand hat es bemerkt, weil sie sich völlig normal verhalten hat. Sie hat gegessen, ist zur Schule gegangen, hat sich geduscht, sich mit Leuten unterhalten. Die Menschen dachten lediglich, dass sie ein wenig desinteressiert und gleichgültig schien. Beinahe mechanisch. Dabei hat sie einfach nur die ganzen Jahre über geschlafen.

Verrückt, oder?

Dr. Conway hat recht. Das Gehirn ist wirklich faszinierend.

Jamie ist der Schlafwandler von uns beiden, zumindest glaube ich das. Denn was in dieser Nacht passiert ist, möchte ich nicht auf meine Kappe nehmen. Ich möchte es nicht einmal niederschreiben.

Denn manche Leute tun im Schlaf viel schlimmere Dinge, als sich ein Spiegelei zu braten.

-

In dieser Nacht schlief ich bei Zach, denn zu Hause zu schlafen, wäre mir nicht möglich gewesen, obwohl Conway mir geraten hatte, mich mit meinen Geschwistern zu umgeben.

Owen und Brielle hatten zwar ein paar Mal angerufen und mir geschrieben, aber ich hatte nicht geantwortet. Ich hätte es nicht fertig gebracht, mit einem von beiden zu sprechen. Schließlich hatte meine Schwester Zach gefragt, ob ich noch bei ihm war, und er hatte ihr versichert, dass es mir gut ging.

So gut, wie es mir eben hatte gehen können. Denn im Grunde genommen hatte ich den restlichen Tag nur auf seinem Bett gesessen und hatte in die Luft gestarrt. Conway hatte das als Reaktion auf die Überbelastung meiner Psyche zurückgeführt. Bevor er gegangen war, hatte er mir versichert, dass ich ihn immer anrufen konnte.

„Das gilt auch für Jamie. Und Beth."

Ich hatte die Augenbrauen hochgezogen. „Das glaub ich Ihnen sofort." Daraufhin hatte er nur den Kopf schräg gelegt und mir zu verstehen gegeben, dass er im Augenblick nicht wirklich im Zusammenhang einer Romanze an Beth dachte.

Zach hatte gefragt, ob ich etwas zu Abend essen wollte, aber ich hatte weniger als keinen Appetit gehabt. Lediglich einen Tee hatte ich noch getrunken, bevor ich meinen, mit Gelee gefüllten, Kopf auf das Kissen gelegt und meinen, mit einem grauen Schleier umhüllten, Körper zugedeckt habe.

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Habt Ihr schon einmal einen geliebten Menschen an den lieben, alten Herrn Tod verloren? Habt Ihr euch schon einmal so kalt und taub und gefühllos gefühlt, als wäre euch das Herz aus der Brust gerissen und durch einen Stein ersetzt worden? Hat es sich angefühlt, als wäre nicht die geliebte Person gestorben, sondern Ihr? Hattet Ihr schon einmal das Gefühl, das Ablaufdatum überschritten zu haben? Denn genauso habe ich mich gefühlt.

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Ich glaube, dass Jamie sich im Schlaf ins Bewusstsein drängte, denn ich hatte einen seltsamen Traum. Einen Traum, bei dem ich nicht sicher sagen kann, wie viele Teile davon tatsächlich passiert sind und welche mein Gehirn ersponnen hat.

Ich träumte, dass ich zu Hause in meinem Bett lag und eigentlich schlafen sollte. Es war nachts. Ich hörte meine Eltern streiten und wagte es vor Angst nicht, mich zu bewegen. Nicht einmal die Ohren konnte ich mir zuhalten, weil mich einerseits die irrationale Angst plagte, dass er das kleinste Geräusch meiner Decke hören und in mein Zimmer gestürmt kommen würde, und andererseits wollte ich nicht riskieren, ihn nicht zu hören, falls er tatsächlich in mein Zimmer kommen würde.

Irgendwann hörten die Geschreie abrupt auf. Zumindest das meiner Mom, denn die Stimme meines Vaters hallte noch durch das ganze Haus. Als ich es vor meiner Türe rumpeln hörte, erschrak ich und vergrub meine Finger in der Bettdecke. Ich konnte die Geräusche, die folgten, nicht identifizieren. Aber nun schob ich doch meine Decke zur Seite und meine Beine über den Rand des Bettes. Ich biss die Zähne so fest aufeinander, dass es wehtat und stand leise auf. Ich schlich zur Türe und drückte mein Ohr dagegen. Da unter dem Türspalt kein Licht durchschien, wusste ich, dass niemand bemerken würde, wenn ich einen kurzen Blick auf den Flur erhaschen würde, aber ich traute mich nicht, die Türe zu öffnen. Stattdessen stand ich noch eine Weile unschlüssig da.

Owen hatte mir immer gesagt, mein Zimmer ja nicht zu verlassen, wenn unser Vater wütend war und herumschrie. Dass ich unter mein Bett krabbeln oder mich in meinem Schrank verstecken sollte, weil er vielleicht betrunken sein und vergessen würde, dass ich da war. Vermutlich hätte ich das tun sollen, aber etwas trieb mich an, die Türe zu öffnen und auf den Gang zu schleichen.

Das war mein erstes Indiz dafür, dass Jamie träumte, denn ich hätte diese verdammte Türe nur über meine Leiche geöffnet. Aber ich spürte seine Neugierde in meinen Gliedern und konnte mich nicht dagegen zur Wehr setzen.

Ich lugte aus dem Zimmer. Alles war recht still. Die Türe zu den Zimmern meiner Geschwister und dem meiner Eltern waren geschlossen. Mit gespitzten Ohren schlich ich über den Flur bis zum Treppengeländer. Jetzt hörte ich raschelnde und polternde Geräusche, die aus dem unteren Stockwerk drangen. Leise pirschte ich nach unten und blieb an jeder Treppe stehen, um mich zu vergewissern, dass mich keiner erwischen würde. Niemand war im Wohnzimmer. Als ich an der letzten Treppenstufe ankam, sah ich, dass die Kellertüre nur angelehnt war. Licht schien zu mir herüber und ich hörte die Stimme meines Vaters. Was er machte, wusste ich nicht.

An der Stelle wäre ich umgedreht und zu Owen gelaufen, aber irgendetwas tief in mir trieb mich voran. Also setzte ich einen verdammten Fuß vor den anderen und näherte mich der bedrohlichen Kellertüre. Ich legte meine flache Hand darauf und drückte sie vorsichtig auf. Was passieren würde, wenn er mich entdecken würde, wollte ich mir nicht ausmalen, obwohl ich es mir nur zu gut vorstellen konnte.

Nach einigen Sekunden, in denen die raschelnden Geräusche nicht unterbrochen worden waren, nahm ich an, dass er mich nicht bemerkt hatte, ging auf die Knie und schaute vorsichtig um die Ecke. Viel konnte ich nicht sehen. Zumindest nicht gleich. Ich sah eine dieser riesengroßen Rollen Folie, die mein Vater immer verwendete, wenn er die Wände streichen wollte und die Möbel abgedeckt werden mussten. Ich sah den breiten Rücken meines Vaters, als er siech bückte und mit etwas herum hantierte. Dass er so spät nachts nicht mehr zu streichen beginnen würde, war mir klar, deshalb wunderte ich mich, was er da machte und bewegte mich noch ein Stückchen weiter vor, bis zur ersten Kellertreppe.

Und dann sah ich sie. Ein nacktes Paar Füße, das meinen Atem zum Stocken brachte. Wie eingefroren hockte ich auf dem Boden, wollte wegsehen, aber meine Lider fühlten sich wie in Schraubstöcken eingeklemmt an. Mir blieb nichts anderes übrig, als dabei zuzusehen, wie mein Vater den Körper meiner Mutter in der Folie einwickelte. Sie über den steinigen, rauen Kellerboden wälzte. In seinen schweren Schuhen um sie herum stieg. Das Rascheln des Plastiks, als er es von der Rolle trennte. Wie er sie in die Truhe hievte und den Deckel darauf drückte.

„Ich träume", sagte ich mir. „Ich träume, ich träume, ich träume." Meine Schockstarre löste sich in Luft auf, ich kämpfte mich auf meine Füße, verließ den engen Vorraum und hastete die Treppen zu meinem Zimmer hinauf.

„Ein Traum, ein Traum, ein Traum." Ein scheußlicher Traum.

Ich fand mich im Zimmer meiner Eltern wieder, obwohl ich mir sicher war, in mein eigenes eingebogen zu sein.

Beschissene Traumlogik!

Ich sah mich um. Es war dunkel. Der Lichtschalter funktionierte nicht, aber der Mond schien ins Zimmer und die Umrisse des Bettes, der Nachttischlampen und der Kommoden waren sichtbar.

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht ein Schlachtfeld. Die Bettdecken auf dem Boden, zerbrochene Gläser, Blut. Aber nein. Alles schien an seinem Platz zu sein.

Plötzlich hörte ich Schritte auf dem Flur und noch bevor ich meinem Instinkt, unter dem Bett zu verschwinden, nachkommen konnte, stand mein Vater in der Türe. Er schien doppelt so groß, wie ich ihn in Erinnerung hatte und auch viel stämmiger, als er in Wahrheit gewesen war.

„Was machst du hier?", brüllte er wütend. „Warum bist du nicht auf deinem Zimmer?"

Ich wusste nicht, wie es passiert war, aber plötzlich lag ich auf dem Bett und er schlug auf mich ein. Es tat nicht weh, was mich ein bisschen irritierte. Es musste ein Traum sein, wenn es nicht wehtat, oder? In meinen Träumen konnte ich schließlich auch immer unter Wasser atmen.

Ich reckte meinen linken Arm zum Nachttisch und griff nach der Lampe, mit der ich ihm eine überzog. Er schrie auf und hielt sich die Wange. Dann rollte ich mich vom Bett und wollte zu Owen, aber seine Türe war abgeschlossen. Ich rüttelte an Brielles Türklinke aber auch die ließ sich nicht bewegen und da die Schritte aus dem Zimmer meiner Eltern wieder näher kamen, rannte ich die Treppen erneut nach unten. In der Küche stürzte ich zum Messerblock und zog eines heraus. Mit beiden Händen fest umklammert hielt ich es zum Angriff bereit vor meinen Körper und lauschte seinen Schritten, die in der Dunkelheit die Treppen nach unten kamen.

Ich wusste, dass er stärker war. Ich wusste, dass er mich vermutlich eher umbringen würde, als ich ihn. Aber gleichzeitig sagte ich mir, dass es ein Traum war und mir nichts passieren würde.

Meine Hände zitterten. Mein Blick krallte sich an jeder Bewegung fest, die ich wahrnehmen konnte. Ob es nun die Äste des Baumes vor dem Haus waren, oder der Vorhang, der sich durch den Luftzug bewegte.

Und plötzlich stand er vor mir, wie aus dem Nichts war er aufgetaucht und ich stieß reflexartig zu. Ich ließ das Messer los und taumelte einige Schritte zurück. Er war so überrascht, dass er sich gar nicht bewegte. Dann fiel mir ein, dass er eher sterben, wenn ich das Messer aus seinem Körper ziehen würde, also tat ich genau das blitzschnell, bevor ich an ihm vorbei rannte, hinauf auf mein Zimmer und diesmal auch tatsächlich darin landete. Ich kroch unter mein Bett und behielt die Türe wachsam und ängstlich im Auge. Er würde mir nicht nachkommen. Bestimmt nicht.

Ich saß eine ganze Weile unter dem Bett. Er hat Bristol ertränkt, sagte ich mir, um mich nicht ganz so schlecht zu fühlen. Er schlägt Mom und Brielle und Owen und Jed und mich.

Er ist ein Monster.

Wie lange ich genau unter meinem Bett lag, wusste ich nicht. Aber irgendwann fielen mir die Augen zu und ich träumte davon, dass ich einschlief.

-

Ich schlug die Augen auf. Mein Herz raste, als hätte es ganz plötzlich einen erschreckenden, lauten Knall im Zimmer gegeben. Draußen war es noch dunkel. Meine Arme taten weh und fühlten sich ganz schwer an. Meine Handflächen waren feucht.

Dieser Traum war auf eine seltsame Art und Weise viel realer gewesen, als die Dinge, die ich sonst so träumte. Meist träumte ich irgendeinen Schwachsinn, der weder Vorne noch Hinten hatte und absolut keinen Sinn ergab. Einmal hatte ich zum Beispiel davon geträumt, dass ich mit zwei Freunden aus der High School am Rand einer Klippe gesessen hatte und wir uns alle mit schaumiger Sonnencreme eingecremt hatten und wie kleine sprechende Wölkchen ausgesehen hatten. Ich träumte auch häufig von Zugfahrten, und dass ich an der falschen Station ausstieg. Dass es nachts war und ich mich verlief. Dass mich seltsame Gestalten verfolgten. Erst vor kurzem habe ich geträumt, dass ich durch einen Wald gelaufen bin und meine Wanderschuhe voll mit roten Beeren waren, die davor auf den Boden gefallen und von anderen Wanderern zermatscht worden sind.

Ich bin sicher, dass jeder von Zeit zu Zeit solch merkwürdige, nichtssagende Träume hat. Allerdings war der Traum, den ich in jener Nacht gehabt hatte nicht nichtssagend gewesen. Ganz im Gegenteil. Er hatte mir verraten, was vermutlich gewesen war, und was der verborgene, verbitterte Teil von mir wollte, was gewesen war.

Als mein Körper sich umdrehte, fiel mir auf, dass es Beth war, die aufgewacht war.

„Ist das wirklich passiert?", fragte ich sie.

„Was meinst du?" Offensichtlich hatte sie etwas Anderes geträumt.

„Ich glaube, Jamie und ich haben gerade davon geträumt, dass unser Vater die Leiche unserer Mutter in der Truhe versteckt und uns erwischt hat." Dass weder ich noch Jamie tatsächlich mit einem Messer auf ihn eingestochen hatten, war mir klar, denn selbst wenn es nicht meine Erinnerungen gewesen wären, hätte ich mich an Nachfolgendes bestimmt erinnert. Dass unser Vater ins Krankenhaus gekommen wäre, zum Beispiel. Aber so etwas war nie passiert. Dieser Teil des Traumes war also vermutlich nur Wunschdenken gewesen.

Für einen kurzen Moment wünschte ich sogar, dass es tatsächlich so passiert wäre. Dass ich diejenige gewesen wäre, die ihn eigenhändig umgebracht hätte, so wütend war ich. Aber gleichzeitig wusste ich auch, dass ich das niemals in der Realität hinbekommen hätte. Ich hatte immer zu große Angst vor ihm gehabt und wenn er noch gelebt hätte, hätte ich mich immer noch von ihm tyrannisieren lassen, da war ich mir sicher. Vermutlich hätte ich es vor Angst nicht einmal fertiggebracht, von zu Hause wegzulaufen.

„Ist das wirklich so passiert? Hat Jamie das wirklich gesehen?"

Beth seufzte leise. „Was denkst du, wie ich entstanden bin? Ich habe mich nicht von dir abgespalten, sondern von Jamie."

„Das weißt du?", hakte ich verwundert nach und sie nickte.

„Ich habe... eine sehr starke Verbindung zu ihm. Schon in der Sekunde in der es mich gegeben hat, habe ich diese Verbindung gespürt, so als wäre er mein kleiner Bruder. Ich weiß einfach, dass ich hier bin um ihn zu beschützen."

„Ich kann mich nicht daran erinnern, wann du zum ersten Mal da warst", gestand ich. Für mich fühlte es sich an, als wäre sie nie nicht da gewesen.

Meine Gedanken waren noch zu nebelartig, als dass ich völlig begriffen hätte, was das alles zu bedeuten hatte. Denn wenn ich das komplette Ausmaß von dem verstanden hätte, was ich eben erfahren und gesehen hatte, wäre ich vollkommen durchgedreht. Ich wäre mehr als nur durchgedreht. Man hätte mich in die Klapsmühle stecken können.

Beth tastete schlaftrunken zu Zach und griff ins Leere. Stirnrunzelnd setzte sie sich auf, konnte jedoch im Dunkeln nicht genug erkennen, also streckte sie sich nach dem Schalter der Nachttischlampe auf ihrer Seite des Bettes.

-

Ich hätte mich von Anfang an von Zach fernhalten sollen.

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