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„Und?", fragte Zach an diesem Abend, als er aus dem Bad kam uns sich die Haare trocken rieb. „Was hat Sebastian gesagt?" Ich lag missmutig auf seinem Bett, weil ich nicht wusste, wie es nun weitergehen sollte.
„Nichts, was mir weiter hilft. Ich muss irgendwie mit Jamie Kontakt aufnehmen, aber ich weiß nicht wie, weil ich nicht weiß, wie ich ihn rauslocken kann. Sebastian hat gesagt, ich soll positive Reize verwenden, aber abgesehen von Spaghetti mit Hot Dogs und Ketchup weiß ich nicht eine Sache, die Jamie gerne hat!", beschwerte ich mich und rieb mir über die Stirn. „Ich hätte diesen dämlichen Zettel lesen sollen."
„Hm", machte Zach und legte sich das Handtuch über die Schultern. Dann ging er zu seinem Schreibtisch und verschwand aus meinem Sichtfeld. Ich hörte ich herumkramen, aber ich war zu müde, um mich umzudrehen und nachzusehen, was er schon wieder trieb. Die Matratze gab unter seinem Gewicht nach, als er sich neben mich legte. Keine Sekunde später erschien ein grellpinkes Post-It und ich brauchte eine Sekunde, um meine Schrift darauf zu erkennen. Mit pochendem Herzen riss ich es Zach aus der Hand und setzte mich auf.
„Ich dachte, du hast es weggeworfen", sagte ich aufgeregt.
Er lächelte. „Du warst schlecht drauf an dem Abend. Sei mir nicht böse, aber ich konnte dich nicht ernst nehmen."
Ich lachte und drückte ihm einen schnellen Kuss auf die Lippen, bevor ich mich wieder aufsetzte, mir die Haare nach hinten strich und aufgeregt den Zettel glatt strich. Zach setzet sich ebenfalls auf und linste mir über die Schulter. Er hatte Jamies Antworten natürlich noch nicht gelesen, da er weder meine noch seine Privatsphäre einfach so verletzen wollte.
Wie alt bist du?
Seine Antwort darauf: Acht.
„Acht was? Äpfel?", murmelte ich, weil es das war, das Owen immer zu mir gesagt hatte. Zach atmete amüsiert aus und schlang seine Arme um meine Taille.
Weißt du, wer ich bin?
Natürlich wusste er das.
Kennst du Beth?
Und natürlich kannte er sie.
Was weißt du, aus deiner Kindheit?
Diese Antwort verwirrte mich, aber sie überraschte mich nicht wirklich: Die Truhe.
Vielleicht hatte er ein paar Mal für mich die Stunden in dieser scheußlichen Truhe abgesessen. Wenn dem so war, hatte der kleine einen riesigen Eisbecher verdient. Vielleicht sogar zehn.
Ich überflog die Antworten auf die restlichen Fragen. Sein Lieblingsessen waren natürlich Spaghetti mit Hot Dogs und Ketchup. Sein Lieblingsgetränk war heiße Schokolade und die Frage: „Was magst du?", hatte er mit: „Schneeballschlacht", beantwortet.
Ich ließ den Zettel sinken.
„Das ist immerhin etwas", meinte Zach und gab mir einen sanften Kuss auf die Wange.
Ich seufzte. „Ich hoffe sehr, dass mich das weiter bringen wird..."
-
In den darauffolgenden Tagen tat ich alles, was Sebastian und Conway mir an Ratschlägen und Tipps gegeben hatten. Ich aß Unmengen an Spaghetti mit Hot Dogs und Ketchup, ich ging mit Zach und meinen Geschwistern vier Mal auf ein zugeschneites Feld und veranstaltete Schneeballschlachten, weil Jamie geschrieben hatte, dass er das mochte. Wir bauten sogar Schneemänner und hatten wirklich eine lustige Zeit zusammen. So viel hatte ich sein Ewigkeiten nicht mehr gelacht, aber es hatte Jamie nicht aus seinem Schneckenhaus gelockt. Ich hatte nicht einmal seine Präsenz spüren können. Dann war Beth in meinem Körper aufgewacht und hatte sich natürlich geweigert, Teil unseres Plans zu sein. Anstatt Dr. Conway zu berichten, was wir bereits alles versucht hatten, um an Jamie heran zu kommen, flirtete sie ohne Punkt und Komma mit ihm. Und ich konnte es Conway wirklich nicht verübeln, dass er ihr Verhalten erwiderte. Beth ließ ihm schließlich kaum eine andere Wahl.
Jeden Morgen, wenn ich in meinem Körper aufwachte, trank heiße Schokolade, obwohl ich es hasste. Ich hing überall im Haus und in Zachs Zimmer bunte Post-It's auf, mit der Bitte, dass Jamie sich irgendwie melden sollte und auch keine Angst vor mir haben musste.
Doch nichts passierte.
„Das ist reine Zeitverschwendung", brummte ich, als ich mich am achten Tag auf Zachs Couch im Wohnzimmer schmiss und Conway sich -ganz der professionelle Psychiater- auf einen Stuhl daneben setzte. „Ich krieg schon Pickel von der ganzen heißen Schokolade und die Spaghetti setzen sich an meinem Hintern ab. Und was hat es gebracht? Gar nichts!"
„Vielleicht müssen wir das Problem anders angehen", meinte er halb nachdenklich, halb amüsiert über meine schlechte Laune. „Sie haben Ihre Traumata nie wirklich aufgearbeitet, oder?"
„Natürlich nicht!"
„Jamie scheint ziemlich stark auf bestimmt Situationen zu reagieren und diese Traumata wieder zu erleben."
Ich kniff die Augen zusammen. „Worauf wollen Sie hinaus?"
„Darf ich einen völlig verwerflichen, unprofessionellen, untherapeutischen Weg vorschlagen?"
„In bin an einem Punkt angelangt, an dem ich bereit bin, in einen Vulkan zu springen, um mit Jamie kommunizieren zu können", gestand ich, aber Conway ging nicht auf meinen kleinen Witz ein, der vielleicht gar kein Witz gewesen war.
„Wenn die positiven Reize Jamie nicht hervorlocken, dann tun es bestimmt die negativen."
Ich setzte mich ruckartig auf und starrte Conway ungläubig an, bis mir dämmerte, dass es vielleicht tatsächlich meine einzige Chance war, an Jamie heranzukommen.
Also nickte ich. „Okay. Wie machen wir das?"
Conway sah mich kurz überrascht an, vermutlich weil er nicht damit gerechnet hatte, mich so schnell zu überzeugen. „Wann ist Jamie zum ersten Mal aufgetaucht?"
„Thanks Giving."
„Wann genau? Was ist passiert?"
Nervös leckte ich mir über die Lippen. „Meine Schwester und ich sind in der Küche gestanden und haben Kürbisse geschnitzt... Wir haben über Weihnachten geredet... und, naja, der... der Keller... unser Keller kam kurz... zur Sprache", stotterte ich und versuchte mir einzureden, dass es gar nicht unser Keller war, von dem ich sprach, sondern ein anderer Keller. Nur klappte das nicht so ganz.
„Glauben Sie, dass es das ist, was Jamie solch eine Angst gemacht hat?"
Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Ich weiß nur, was ich dort unten erlebt habe." Ich hielt kurz inne, weil ich Conway noch nichts von Jamies Notiz erzählt hatte. „Als ich Jamie mit der Notiz gefragt habe, was er noch aus seiner Kindheit weiß, hat er Die Truhe geschrieben."
„Wissen Sie, was das bedeuten soll?"
Ich merkte selbst, dass mein Herz zu rasen begann und ich Blickkontakt mied und fand es sofort lächerlich, weil es schon so lange her war.
„Mein Vater... unser Vater hat uns... da manchmal eingesperrt. Nicht so wichtig. Das... kann unmöglich sein größtes Trauma sein."
„Warum sind Sie sich da so sicher?" Ich mochte es, dass Conway zumindest versuchte, keine große Sache daraus zu machen, weil er merkte, dass ich genau das vermeiden wollte.
„Weil ich es auch erlebt habe. Immer mal wieder ein paar Stunden, dann sind wir da wieder rausgekommen." Es war schrecklich gewesen. Schrecklich war eine Untertreibung. Jedes Mal hatte ich Panikbekommen, dass er mich vergessen würde. Dass ich an der dünnen Luft ersticken würde. „Beth will mich vor etwas beschützen, das ich nicht weiß. Was mich im Übrigen immer noch verwirrt, denn ich dachte, dass ich alles weiß, was Beth erlebt hat, wegen dieser ganz speziellen, kaum definierten Störung."
„In Ihrem komplexen Fall anscheinend nicht. Beth weiß zu jeder Zeit was welcher Teil von Ihnen allen macht. Sie jedoch nicht, wegen Ihrer DIS."
„Das heißt Beth ist durch DNNSB entstanden und Jamie durch eine DIS. Aber Beth und Jamie können trotzdem miteinander kommunizieren, weil sie auch irgendwie miteinander verbunden sind?" Ich hatte immer gedacht, dass es mein Gehirn und meine Störungen waren. Der Gedanke daran, dass Beth und Jamie auch unter denselben Störungen litten, war immer noch befremdlich.
„Ich hab doch gesagt, dass das Gehirn ein faszinierendes Organ ist", lächelte Conway.
„Aber warum wechseln Jamie und ich nur, wenn ich im Bewusstsein bin?"
„Vermutlich könnte er auch ins Bewusstsein treten, wenn Beth vorne ist. Es ist nur noch nie dazu gekommen. Möglicherweise kann sie ihn im Zaum halten, wenn ihre Kommunikation gut genug ist."
„Toll, meine Persönlichkeiten verschwören sich gegen mich", murmelte ich.
„Sie müssen die beiden akzeptieren", meinte Conway und klang wie ein nerviger Psychiater, woraufhin ich die Augenbrauen hob.
„Glauben Sie mir, ich hab die beiden akzeptiert. Nur nicht ihre Geheimnistuerei."
Conway sagte einen Moment lang nichts. „Kommen wir auf Jamie zurück. Nach Thanks Giving ist er immer wieder, recht willkürlich für ein paar Minuten oder Stunden an die Oberfläche geschwommen, haben Sie gesagt?"
Ich nickte. „Und dann bin ich drei Tage verschwunden."
Conway nickte. „Was ist passiert?"
Ich legte mich zurück auf die Couch. „Es war an dem Tag, an dem Zach herausgefunden hat, dass es neben mir auch noch Beth gibt. Ich habe auf seinen Anruf gewartet. Dann bin ich nach unten gelaufen, hab meine Schwester fast erdrückt und bin aus dem Haus gerannt. Und dann bin ich in einer Seitenstraße mitten in der Nacht wieder zu mir gekommen."
„Und das nächste Mal war in London?", hakte Conway nach und ich nickte. „Sie haben mir nie genau erzählt, wie es dazu kam."
„Muss ich?", fragte ich und verzog das Gesicht, weil es rummachen mit Zach beinhaltet hätte.
„Anna, Sie müssen mir absolut gar nichts sagen", erwiderte er belustigt. „Aber es ist hilfreich, wenn Sie ehrlich zu mir sein können."
„Ich soll ehrlich zu einem Kerl sein, den ich immer noch sieze und mit Dr. Conway anspreche?"
Er schmunzelte. „Ich hab Ihnen angeboten, mich Carter zu nennen."
„So heiße ich aber schon", entgegnete ich bockig und sah an die Decke. „Zach und ich waren zusammen im Pool und... wir wollten nach oben gehen", umschrieb ich unsere ungehemmte Knutscherei, jedoch in einem Tonfall, der mehr als deutlich machte, worauf ich hinaus wollte. „Aber dann habe ich wieder dieses Wattekopfgefühl bekommen. Und als ich aus dem Wasser schwimmen wollte, bin ich untergegangen und Jamie hatte den Flashback."
„Also drei völlig unterschiedliche Situationen", bemerkte Conway.
Es machte mir immer noch Angst, dass Jamie so unberechenbar die Kontrolle übernehmen konnte. Das war ich einfach nicht gewohnt.
„Ich möchte noch einmal mit Beth reden", sagte er plötzlich mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Wenn das für Sie beide in Ordnung ist."
„Ja!", rief mein zweites Drittel aufgeregt.
Nein! Für mich war es ganz und gar nicht okay, aber Beth war so aufgeregt und bettelte mich beinahe herzzerreißend an.
„Von mir aus", gab ich mich daher geschlagen. Ich hatte Conway schon vor Tagen das Versprechen abgenommen, mir nicht zu verraten, in welchem Hotel er wohnte, damit Beth ihn nicht besuchen konnte.
„Dir ist aber klar, dass er mit dir über Jamie reden will, oder?", meinte ich zu Beth.
„Na und? Das geht auch in einem Restaurant bei gutem Essen, oder nicht?"
„Du wirst nicht mit ihm ausgehen!", fauchte ich, worauf sie nichts mehr antwortete. Und damit war klar, dass die beiden ein echtes Date haben würden, egal wie sehr ich mich dagegen zu Wehr setzte.
-
Ich weiß immer noch nicht, was genau Beth an Carter so interessant gefunden hat. Er wich ziemlich stark von ihrem Beuteschema ab und trotzdem war sie ziemlich in ihn verschossen und ist es immer noch.
Ich habe ihr das Versprechen abgenommen, ihn nicht wieder zu küssen und ihre Hände gefälligst bei sich zu behalten. Zach war nicht sonderlich begeistert davon, dass Beth mit ihm ausgehen wollte. Er war zwar so weit, Beth und mich als unterschiedliche Personen anzuerkennen, aber wir waren immer noch im selben Körper. Und da Zach nun einmal mit der Person zusammen war, die sich am meisten mit dem Körper identifizierte und die meiste Zeit drinnen steckte, wollte er selbstverständlich nicht, dass ein anderer Mann diesem Körper so nahe kam wie er. Das hat Beth auch verstanden und ihm versichert, nichts Körperliches anzufangen. Und aus irgendeinem Grund glaubte ich eher, dass sie ihr Versprechen für Zach einhalten würde als für mich. Aber wer die letzten 240 Seiten aufgepasst hat, der weiß, dass Beth gut darin ist, Versprechen zu brechen und ihr Gewissen zu ignorieren.
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