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Wer einmal eine DIS entwickelt, lebt damit für immer.

Auch im späteren Leben können sich immer wieder neue Persönlichkeiten dank traumatischer Erfahrungen entwickeln. Denn das Gehirn hat gelernt, so mit Traumata umzugehen. Es weiß keinen anderen Verarbeitungsprozess, als die Persönlichkeit, die gerade ein Trauma erlebt und nicht damit zurechtkommt, abzuspalten und eine neue zu kreieren, die stark genug ist, um damit zurecht zu kommen, oder die Rolle der Persönlichkeit, die durch das Trauma geschädigt ist, im System zu übernehmen. Nicht selten sind diese neuen Persönlichkeiten verwandt mit jenen, die das Trauma erlebt haben, zumindest hat Ivory das einmal gesagt.

Aber es funktioniert auch anders herum. Wenn zwei oder mehrere Persönlichkeiten alleine nicht mehr existieren können oder wollen, kann eine Integration stattfinden -das Verschmelzen von Persönlichkeiten. Das kann entweder beabsichtigt und willentlich passieren oder unerwartet, ohne Vorwarnung.

Die neue Persönlichkeit ist dann weder die eine, noch die andere, hat aber Charakterzüge und Erinnerungen beider Persönlichkeiten. Als würde man ein grünes und rotes Gummibärchen schmelzen und zusammen in eine neue Form gießen. Es ist dann weder grün, noch rot, schmeckt weder nach Himbeere, noch Apfel, aber ist doch irgendwie beides. Nur eben neu und anders. Vielleicht sogar besser.

Integration ist oft das Ziel einer Therapie, wenn man an einer DIS leidet. Dieses Ziel ist erreicht, wenn alle Teile der ursprünglichen Persönlichkeit wieder zusammengeführt wurden. Integration ist jedoch nicht für alle Systeme eine Option. Manche können oder wollen sich gar nicht vorstellen, der Welt ohne die einzelnen, individuellen Teile ihres Systems gegenüberzutreten.

Doch selbst bei einer vollständigen Integration würde die DIS bestehen bleiben. Bei folgenden traumatischen Erfahrungen, würden wieder neue Persönlichkeiten kreiert werden. Und mal abgesehen davon, dass bei einer Integration aller Persönlichkeiten eine komplett neue herauskommen würde -es gibt einen Grund, warum die einzelnen Persönlichkeiten erschaffen wurden.

Ob ich mit Beth zu einer Persönlichkeit werden kann, weiß ich nicht, da meine Störung (die Beth betrifft) keine DIS zu sein scheint, allerding würde ich vermutlich auch nicht mit ihr verschmelzen wollen.

-

Knapp eine Woche später war ich wieder in Chelsea. Dr. Cromwall hatte mich am Gehen hindern wollen. Und Dr. Conway hatte es mir ebenfalls ausreden wollen, weil er sich einerseits sehr für Beth begeistern konnte, andererseits für die Tatsache, dass ich an mehr als einer einzigen dissoziativen Störung litt.

Aber ich hatte dicht gemacht und alle Einwände an mir abprallen lassen, also hatte Zach den nächsten Flug gebucht und wir waren nach Hause geflogen.

Ich hatte meinen Geschwistern noch am selben Abend alles erzählt. Und damit meine ich alles. Ich hatte ihnen von Beth und Jamie und Situationen aus meinem Leben erzählt, die Beth zu verschulden hatte. Zum ersten Mal ein meinem Leben war ich zu meinen Geschwistern schonungslos offen und ehrlich gewesen. Und zu meiner großen Überraschung hatte ich ihre volle Unterstützung. Wir waren zu viert im Wohnzimmer auf der Couch gesessen und hatten bis spät in die Nacht geredet. Sie hatten gefragt, wieso ich nicht früher darüber gesprochen und all das alleine mit mir herumgeschleppt hatte. Sie hatten wissen wollen, wie es mir jetzt ging. Ob und wie sie mir helfen konnten.

Jed hatte natürlich immer mal wieder ein paar blöde Kommentare fallen lassen, aber ich hatte ihm nicht böse sein können, weil ich wusste, dass er es nicht ernst gemeint hatte. Unsere Gespräche warfen eben viel aus unserer Kindheit auf und Jed war es nicht gewohnt, ernsthaft über diese Zeit zu sprechen. Mal abgesehen davon, konnte er sich an vieles nicht erinnern, weil doch einige Jahre zwischen ihm und uns langen.

Dafür verhielten sich Brielle und Owen wie die großen Geschwister, die ich mein Leben lang gebraucht, aber nie an mich herangelassen hatte.

Meine Geschwister kramten jedes noch so kleine Ereignis aus, und fragten, ob es Beth oder ich gewesen waren. An viele dieser Situationen konnte ich mich gar nicht mehr erinnern. Sie fragten, ob sie Beth morgen zum ersten Mal wirklich kennen lernen würden, aber das konnte ich ihnen nicht sagen.

So dankbar ich auch war, dass sie mich unterstützen wollten, so merkwürdig war es mir vorgekommen, dass sie mir ohne Wenn und Aber geglaubt hatten. Ich wusste, wie viele Kritiker es gegenüber dissoziativen Störungen gab und wie viele Leute nicht daran glaubten und es als Einbildung und überspitztes Schauspiel abtaten.

Bevor wir uns alle schlafen legten, meinte Brielle sogar, dass sie in der Kleider- und Schmuckboutique in der sie arbeitete nachfragen würde, ob sie noch jemanden brauchten, weil ich erzählt hatte, dass Beth durch das unaufhörliche Kunden-Anschnauzen gefeuert worden war. Beziehungsweise war ich diejenige gewesen, die rausgeschmissen worden war.

Jamie hatte nichts mehr von sich hören lassen. Abgesehen davon, dass er offenbar auch schlafwandelte, so wie ich es als Kind getan hatte und auf meine Notiz geantwortet, die Zach entsorgt hatte, wusste ich nichts über den kleinen Kerl, der in meinem Schädel wohnte. Ich wusste auch nicht, warum mein Gehirn das Bedürfnis verspürt hatte, ihn überhaupt erst zu erschaffen. Ich wusste nicht, was für einen Sinn er hatte und jetzt war er ohnehin wieder in die Tiefen meines Unterbewusstseins abgetaucht und das war mir nur recht so.

Jetzt saß ich an Zachs lächerlich großem Küchentisch und rührte in meinem Zitronentee herum. Ich wartete darauf, dass Zach nach Hause kam. Während ich in meine Gedanken versunken war und darüber nachdachte, ob es wohl einen Unterschied machte, ob ich in einem Café oder in einem Modeladen arbeitete, merkte ich gar nicht, dass Mr. Parsons den Raum betrat und auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches stehen blieb. Bis er etwas sagte.

„Anna? Oder Beth?"

Ich blinzelte mich aus meinen Tagträumereien und sah auf.

„Anna."

Er ließ sich auf dem Stuhl mir gegenüber nieder und wirkte dabei fast schon unsicher, was sehr befremdlich war.

„Zach hat mir erzählt, was passiert ist."

„Tja..." Die Verbitterung, die ich seit ein paar Tagen meinem Leben gegenüber verspürte, war mir vermutlich deutlich anzusehen. Ich schminkte mich nicht mehr, ich gab mir keine allzu große Mühe mit meiner Outfit-Wahl und zum Haarewaschen war ich auch zu faul geworden.

Viele Menschen dachten, dass Leute mit psychischen Erkrankungen genauso rumliefen, wie ich eben aussah. Aber die meisten Geistesgestörten, wie ich sie nenne, waren das komplette Gegenteil von mir. Sie versuchten an dem letzten bisschen gesundem Verstand festzuhalten, um zumindest normal auszusehen.

Ich wusste nicht, warum das bei mir anders war. Warum ich diese bittere Enttäuschung in mir spürte. Diese erdrückende, graue Müdigkeit und Lustlosigkeit, mich morgens auch nur aus dem Haus zu bewegen.

„Manchmal ist verrückt eben nur verrückt", bemerkte ich. „Jetzt haben Sie noch mehr Grund, mich zu hassen. Eine Verrückte, die mit Ihrem Sohn zusammen ist." Ich nippte an meinem Zitronentee, aber er schmeckte bitter.

„Eine Verrückte, die meinen Sohn glücklich macht", erwiderte Mr. Parsons und ich kam nicht um den Sarkasmus herum, den er in seine Worte legte. Dann seufzte er angestrengt. „Ich glaube, ich habe dich falsch eingeschätzt."

Ich schüttelte den Kopf. „Das denke ich nicht." Er hatte mich als geldgieriges Miststück eingeschätzt und genauso fühlte ich mich nach den letzten Wochen auch. All das Geld -zum Fenster rausgeschmissen, weil ich nicht die Eier dazu gehabt hatte, in London zu bleiben, in den sauren Apfel zu beißen und die Ärzte herausfinden zu lassen, was genau mir fehlte. Oder was zu viel an mir war.

„Ganz oder gar nicht", sagte er plötzlich.

Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen. „Was?"

„Weißt du, wie man niemals glücklich wird, Anna? Oder erfolgreich?" Ich sah ihn abwartend an. „Durch Selbstmitleid. Du weißt nicht, was mit dir los ist? Dann finde es entweder heraus, oder lass es gut sein. Ganz oder gar nicht. Aber die Selbstmitleidschiene führt nur den Berg hinunter. Bergab ist zwar leichter als bergauf, aber glücklich wirst du nur am Gipfel." Er stand wieder auf und wirkte nun wieder wie das arrogante Arschloch, das ich kennen gelernt hatte. „Hör auf, dich selbst zu bemitleiden." Das war leichter gesagt als getan, aber Mr. Parsons verließ bereits wieder das Speisezimmer und ließ mich mit seinen Worten zurück, von denen ich vermutlich hätte Gebrauch machen sollen. Aber ich fühlte mich ganz wohl in meinem Selbstmitleid.

Etwa zehn Minuten später hörte ich wie die Wohnungstüre zuschlug und Zach meinen Namen durchs Haus rief.

„Hier!", rief ich zurück. Ein paar Sekunden später tauchte er im Türrahmen auf. Aber er war nicht alleine. Ich erstarrte.

„Jaaa!", rief Beth aufgeregt, als sie Dr. Conway hinter Zach eintreten sah, aber mein Gesichtsausdruck verfinsterte sich lediglich, als ich den Betrug witterte.

„Sie verfolgen mich?", fragte ich statt einer Begrüßung.

„Ich habe ihn hergebeten", erwiderte Zach ruhig.

„Ich liebe ihn!", rief Beth aus. „Sag Zach, dass ich ihn liebe!"

„Wieso machst du sowas?", fragte ich jedoch nur wütend.

„Anna-"

„Du kannst sowas nicht einfach hinter meinem Rücken machen!" Hatte ich Zach nicht deutlich genug gesagt, dass ich nichts mehr von dem ganzen Kram wissen wollte?

„Dafür sind wir doch nach London geflogen, oder nicht?" Zach hatte Nerven, so ruhig zu bleiben, während im Raum nebenan die Messer gebunkert waren. „Dass du eine dissoziative Störung hast, war doch nun wirklich nicht allzu überraschend. Aber du wolltest herausfinden, warum du ein so merkwürdiges Verhältnis zu Beth hast. Du denkst, dass dir niemand dabei helfen kann, aber du hast es doch noch nicht einmal versucht."

„Will ich auch nicht mehr!"

„Das kauf ich dir aber nicht ab."

Natürlich hatte er recht. Auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte. Ich wollte es wissen. Ich wollte alles wissen. Aber ich hatte das Gefühl, nur auf Enttäuschungen zu stoßen. Und der Gedanke daran, mir selbst ungerechtfertigte Hoffnungen zu machen, machte mir Angst.

„Anna, ich kann Ihnen helfen", mischte sich Dr. Conway ein und wagte einen Schritt in den Raum.

„Sie sind doch nur hier, weil Sie scharf auf Beth sind", brummte ich und verschränkte bockig die Arme vor der Brust.

„Na und?!", rief Beth empört aus. „Das wäre doch toll! Das wäre sogar besser, als wenn er nur wegen dir hier wäre!"

Dr. Conway schmunzelte. „Ja, genau aus dem Grund bin ich Psychiater geworden. Es hat rein gar nichts damit zu tun, dass ich Menschen helfen will, mit ihren psychischen Erkrankungen umzugehen und sie besser zu verstehen. Es ging mir einzig und allein um die verrückten Mädchen."

Ich war immer noch wütend, aber die Mischung aus Verbitterung und Belustigung machte sich in Form eines seltsamen Auflachens bemerkbar. Dann sah ich forschend zwischen Zach und Dr. Conway hin und her, während mir natürlich klar war, dass keiner der beiden böse Absichten hatte. Sie wollten mir nur helfen. Zach wusste, dass ich nie zu einem Psychiater in Chelsea gehen würde, weil alle abgrundtief schlecht waren und mir nie geglaubt hatten. Sie hatten sich noch nicht einmal näher mit meinen Symptomen beschäftigen wollen. Und wenn ich ehrlich war, vertraute ich Dr. Conway. Ich mochte den britischen Psychologen. Allerdings mochte Beth ihn auch. Und er mochte Beth. Und das wiederum mochte ich nicht.

Doch schließlich gab mir einen Ruck, was nicht zuletzt an Beths nervtötendem Gebettel lag. „Na gut. Tut mir leid, dass ich so... unangemessen reagiert habe."

Zach trat hinter mich, legte seine Hände auf meine Schultern und drückte mir einen Kuss in die Haare. „Ich lass euch alleine", murmelte er in mein Ohr. „Ich bin im Wohnzimmer, falls etwas ist."

Ich nickte und Sekunden später war ich mit Dr. Conway alleine und spürte die Hitzewellen durch meinen Körper schwemmen, für die Beths Gefühle verantwortlich waren. Sie dachte an den Kuss.

„Was erhoffen Sie sich eigentlich davon, hier zu sein?", fragte ich, als er sich gegenüber von mir nieder ließ.

„Was erhoffen Sie sich davon, dass ich hier bin?", entgegnete er.

Ich seufzte und dachte nach. „Keine Ahnung... Ich wollte nicht, dass Sie herkommen."

„Aber jetzt bin ich hier."

Ich dachte nach. „Ich will... Ich schätze ich will wissen..." Ich seufzte wieder. Ich wollte nichts von alle dem. Ich wollte normal sein. Einfach normal. Aber da ich das nicht war, beschloss ich, mich an Mr. Parsons Worte zu halten.

Entweder ganz oder gar nicht.

Und das Gar-nicht hatte Zach mir weggenommen. Also blieb nur das Ganz.

„Ich will wissen, wer Jamie ist. Was er weiß. Was er erlebt hat. Warum es ihn gibt. Und warum Beth und ich ein so seltsames Verhältnis zueinander haben."

„Jamie ist ein Traumaträger", bemerkte Dr. Conway. „Es hat einen Grund, warum Sie nichts von ihm wissen. Und nichts von den Dingen, die er erlebt hat."

„Das weiß ich. Aber... Beth macht so ein Geheimnis daraus. Und Jamie ist so plötzlich in meinem Leben aufgetaucht, obwohl er augenscheinlich schon viel länger existiert." Bei dem Gedanken daran, dass ich vielleicht noch andere Persönlichkeiten in meinem Kopf, diese aber nie entdeckt hatte, begann ich auf meiner Unterlippe herum zu beißen. „Sie sind Psychiater. Schaffen Sie es, Jamie irgendwie... herauszulocken? Dann könnten Sie mit ihm reden."

Dr. Conway atmete amüsiert aus. „Ich glaube nicht, dass Jamie sich von einem Fremden so leicht heraus locken lassen wird."

Ich zuckte mit den Schultern. „Er hat drei Tage bei einem Freund von Beth gelebt, weil er in dem Körper festgesteckt ist."

„Schon mal daran gedacht, diesen Freund zu kontaktieren?"

Ich stieß angestrengt den Atem aus. Beth hatte Sebastian vor ein paar Wochen abgeschoben. So richtig konnte ich mir nicht vorstellen, dass er noch etwas mit uns zu tun haben wollte... Beth hatte zwar gemeint, dass er sich mit solchen Störungen auskannte, aber ich war mir nicht sicher, ob das ausreichend war, um mit ihm im selben Wohnzimmer sitzen zu können. Schließlich hatte sie ihn verletzt und das hatte nichts mit unserer Störung zu tun. Außerdem hatte ich ihn nackt gesehen, während Beth in meinem Körper die Oberhand gehabt hatte, ich wollte mich ihm gar nicht offiziell vorstellen. Das wäre... unangebracht gewesen. Oder?

„Sie haben meine Frage nicht beantwortet", erinnerte ich. „Warum sind Sie hier?"

Er zuckte mit den Schultern. „DIS ist eine bemerkenswert grauenhafte Überlebensstrategie des Gehirns. Und Ihre DIS ist mit einer anderen Störung verbunden und damit anders, als die jener Patienten, die ich sonst behandle. Ich bin nicht ganz uneigennützig hier, Anna. Ich will verstehen, wie Ihre dissoziativen Störungen miteinander funktionieren. Es ist wirklich interessant."

-

Das konnte ich ihm nicht verübeln. Er war neugierig. Aber er war auf eine andere Weise neugierig als Dr. Cromwall es gewesen ist. Dr. Cromwall hat in mir ein Versuchskaninchen gesehen. Carter wollte mir wirklich, aufrichtig helfen und nebenbei seinen Wissenskreis erweitern. Vielleicht ist das der Grund dafür, warum ich mich tatsächlich auf die ganze Sache eingelassen und Sebastian zwei Tage später kontaktiert habe.

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