33
Der nächste Tag verlief recht ähnlich wie der vorige. Jamie hatte noch immer nicht auf meine Fragen geantwortet. Da ich erst spät eingeschlafen war, war ich auch dementsprechend müde.
Dr. Cromwall suchte wieder nach einer verspäteten Haselnussallergie, die er nicht fand und langsam tat sich in mir der Verdacht auf, dass er tatsächlich nicht daran glaubte, dass ich die Wahrheit sagte. Dann wurden wieder Blutdruck und Herzschlag gemessen. Dann führte er mich in einen Raum, der wie ein Sportzimmer aussah. Zumindest standen ein Laufband und andere Foltergeräte darin, die ich nicht recht zuordnen konnte. Die Belastungsfähigkeit meines Körpers sollte getestet werden. Ich erwähnte nochmals, dass ich fast täglich joggen ging, aber Beth einfach länger durchhielt.
Eine junge Ärztin kam herein, die ich noch nie gesehen hatte.
„Das wird ein Wettbewerb", ließ Beth mich wissen, während die Frau mich verkabelte und einen komischen Clip an meinem Zeigefinger anbrachte.
„Hat bei sowas schon mal jemand einen Herzinfarkt bekommen?", fragte ich die Frau.
Sie lachte. „Nein, zum Glück noch nicht."
Und dann musste ich laufen. Zehn Minuten. Auf der Stelle. Und reden durfte ich auch nicht. Aber ich unterhielt mich mit Beth, die immer wieder meint, besser abzuschneiden als ich. Danach war ich auch dementsprechend schlecht gelaunt, weil ich wusste, dass sie recht behalten würde.
„Was denkst du, wollen Sie noch von mir?", fragte ich Zach, während wir in einem der Räume warteten. Er zuckte mit den Schultern.
„Ich dachte, wir könnten uns heute nach den ganzen Tests den Buckingham Palace ansehen. Wenn du möchtest." Damit war meine Laune wieder deutlich besser. „Morgen ist Weihnachten", bemerkte er dann noch.
„Ich weiß", seufzte ich. Morgen würden keine Tests gemacht werden. Morgen würden Zach und ich durch die Stadt wandern, eislaufen, Lebkuchen naschen und den Abend vor dem Kamin ausklingen lassen. Hoffentlich mit Sex, und hoffentlich würde Jamie nicht wieder dazwischenfunken. Und hoffentlich würde morgen nicht Beth aufwachen.
Bevor ich wieder entlassen wurde, wurde ich nochmal mit dem MID Psychologen in einen Raum gesteckt und hatte sofort das Gefühl, dass ich mich nach, was auch immer gleich passieren würde, wieder mies fühlen würde. Aber Beth genoss es.
„Haben Sie meine Resultate ausgewertet?", fragte ich und setzte mich an den Tisch.
Er nickte. „Ja, aber deshalb bin ich nicht hier."
„Warum müssen Sie diesen Test eigentlich auch bei Beth machen?"
Er seufzte, ließ sich mir gegenüber nieder und sah mich mit Unbehagen an. „Wollte ich anfangs nicht, aber Dr. Cromwall ist sich unsicher, wer von Ihnen beiden wirklich die richtige Persönlichkeit ist."
„Hat er mich gerade als falsche Persönlichkeit bezeichnet?", fragte Beth eingeschnappt.
„Verstehen Sie mich nicht falsch", meinte der Mann schnell, da er meinen irritierten Gesichtsausdruck offensichtlich bemerkt hatte. „Ich rede hier nicht von richtig und falsch. Ich rede davon, wer als erstes in diesem Körper war."
„Ich."
„Das glaube ich Ihnen", erwiderte er sofort. „Aber Dr. Cromwall tut das nicht."
Ich hatte doch gewusst, dass Dr. Cromwall ein misstrauischer Mensch war, der sich hinter seiner Brille als vertrauenswürdiges Häschen tarnte.
„Siehst du?", fragte Beth. „Deshalb mag ich diesen Typen viel lieber."
„Ja, langsam versteh ich's", gab ich zurück. „Warum bin ich hier?", fragte ich den Mann noch einmal. „Muss ich noch ein paar Fragebögen ausfüllen?"
„Nein." Er zog sein Schreibzeug heraus und ich fragte mich, was gleich auf mich zukommen würde. „Ich würde einfach gerne ein bisschen mehr über ihren Anfall und insbesondere Jamie erfahren."
Ich musste an gestern Abend denken, aber mir lag nichts ferner, als diesem Mann von Jamies plötzlichem Auftauchen zu berichten. Es wäre bei Dr. Cromwall gelandet, da war ich mir sicher. „Über Jamie weiß ich bis jetzt genauso viel wie Sie", log ich daher.
„Das kaufe ich Ihnen nicht ab." Gelassen lehnte er sich zurück und mir wurde klar, dass mich dieser Mann bestimmt nicht mit Samthandschuhen angreifen würde, auch wenn er beinahe permanent dieses charmante Grinsen im Gesicht trug, bei dem Beth fast in Ohnmacht fiel.
Mehr und mehr begriff ich, warum sie ihn mochte. Er war nicht wie der Kerl aus dem Krankenhaus. Er war nicht wie das Meryl Streep Duplikat. Und vielleicht war er auch nicht wie Dr. Cromwall. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass er mit den anderen Ärzten als Team arbeitete. Was ich diesem Kerl sagen würde, würde jeder andere auch erfahren. Und aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, Jamie schützen zu müssen, nachdem was ich gestern gesehen hatte.
„Also", begann der Mann. „Was können Sie mir über Jamie sagen?"
„Wird das hier ein Verhör?"
„Wenn Sie wollen, dass man Ihnen hilft, müssen Sie schon ein bisschen entgegenkommender werden", lächelte er amüsiert.
„Ich weiß noch nicht einmal Ihren Namen", bemerkte ich. „Den hab ich vergessen. Also warum sollte ich Ihnen meine tiefsten Abgründe zeigen?"
So abwertend redete ich normalerweise nicht. Was war nur mit mir los? Vermutlich waren das die Nachwirkungen des gestrigen Abends. Und ich wusste nicht, was ich von diesem Mann halten sollte. Das verwirrte mich. Und Beth machte es mit ihren permanenten Schwärmereien über seine zimtbraunen Augen, die dunklen Haare und das Hemd, das über seinen trainierten Oberkörper spannte, nicht gerade besser. Aber ich musste zugeben, dass mir sein britischer Akzent auch gefiel und ich vermutlich aufpassen musste, ihn mir nicht selber anzugewöhnen.
„Der Name, mit dem mich die meisten hier ansprechen, ist Dr. Conway. Sie können mich aber auch gerne Carter nennen."
Ich zog die Augenbrauen hoch. „Mein Nachname ist Ihr Vorname?", hakte ich nach, aber er lächelte wieder nur.
„Vertrauen Sie mir jetzt genug?"
Ich setzte mich auf und fixierte stur einen Punkt auf dem Tisch.
„Sie sehen heute müde aus", bemerkte er dann, aber ich sah nicht auf. Er klang ernst. „Ist etwas passiert?"
„Sag's ihm doch einfach", drängte Beth. „Es zu verheimlichen hat doch gar keinen Sinn."
„Und wenn er es Dr. Cromwall sagt?"
„Was soll schon passieren?"
„Ich traue Cromwall nicht!"
„Dann vertrau dem heißen Psychologen! Bitte!"
Angestrengt rieb ich mir das Gesicht. „Können Sie mir versprechen, dass Sie es niemandem sagen?" Dr. Conway nickte und ich glaubte nicht, dass er es sein Versprechen brechen würde.
Also erzählte ich davon, was gestern passiert war. Natürlich ließ ich die schlüpfrigen Details zwischen Zach und mir aus. Er unterbrach mich kein einziges Mal, nickte ab und zu und änderte seine Sitzposition.
Er schrieb nicht einmal mit.
Vielleicht war das der Grund, warum ich mich Sekunde für Sekunde wohler dabei fühlte, ehrlich zu sein.
„Was glauben Sie, was das war?"
Er verschränkte die Arme und betrachtete mich. „Was glauben Sie denn, was das war?" Ich schwieg. „Anna, ich weiß nicht sonderlich viel über Sie, aber nach allem, was ich über Beth und Sie soweit erfahren habe, glaube ich zu wissen, was da gestern mit Ihnen passiert ist. Aber ich würde lieber Ihre Vermutung hören."
„Warum?"
Er lächelte und hob die Augenbrauen. „Weil Psychologen und Ärzte schnell dazu tendieren zu glauben, sie seien Allwissend. Deswegen. Ich bin nicht in Ihrem Körper oder Kopf. Ich kenne nur Ihre Erzählungen."
Angestrengt atmete ich aus und ließ mir mit meiner Antwort Zeit. „Ich glaube, es war ein Flashback, gekoppelt mit einem Identitätswechsel."
Er nickte, als hätte er keine andere Antwort von mir erwartet. „Das denke ich auch. Sie sagten, Sie konnten Beth nicht erreichen. Wissen Sie warum?"
Ich schüttelte den Kopf. „Das ist noch nie passiert. Sie meinte, dass sie sich so gefühlt hat, als wäre sie ohnmächtig gewesen. So fühle ich mich normalerweise, wenn Jamie in den Vordergrund rückt. Aber diesmal nicht."
„Sie konnten Jamie hören."
Ich betrachtete den jungen Psychologen. „War das eine Erinnerung? Ich dachte ich habe auf die Erinnerungen anderer Identitäten keinen Zugriff..."
Er setzte sich umständlich auf und verschränkte die Finger ineinander, bevor er zu sprechen begann. „Alles, was ich Ihnen jetzt sage, ist bloße Theorie, okay?" Ich nickte und fragte mich, ob ich überhaupt hören wollte, was er zu sagen hatte. „Ich kann Ihnen, von meinem Standpunkt aus, mit hoher Wahrscheinlichkeit versichern, dass sie an einer dissoziativen Störung leiden. Allerdings glaube ich nicht, dass es nur eine einzige Form ist. Ich glaube, sie haben zwei Störungen separat entwickelt. Die eine beinhaltet Jamie und die andere Beth."
„Sowas geht?"
Er nickte. „Es sind nicht sonderlich viele Fälle bekannt, weil einige einfach völlig falsch diagnostiziert werden, aber wer weiß schon, was eine richtige und was eine falsche Diagnose ist? Die meisten Krankheitsbilder sind ohnehin nur vorrübergehend und werden mit den medizinischen Fortschritten abgeändert und neu definiert."
„Und... was denken Sie, welche zwei Störungen das sind?"
Er lehnte sich wieder zurück und betrachtete mich. „Wissen Sie, was das Schwierigste an meinem Job ist?", fragte er plötzlich und ich schüttelte den Kopf. „Die Diagnostik. Denn gerade Patienten, die lange im Ungewissen gelebt haben, tendieren dazu, jede Diagnose ohne Wenn und Aber hinzunehmen, und das ist gefährlich. Es gibt noch so vieles, das wir über das menschliche Gehirn nicht wissen. Dinge, die wir nicht verstehen. Alles, was wir Ärzte in schwierigen Fällen oft tun, ist vermuten. Und Patienten glauben, dass wir auf alles eine Antwort haben. Dass es -gerade bei psychischen Erkrankungen- eine simple Antwort gibt." Er schüttelte den Kopf. „Nichts an einem Gehirn und dessen Fähigkeiten ist simpel. Wenn ich Ihnen also von meinen Vermutungen erzähle, müssen Sie mir im Gegenzug versprechen, sich nicht zu sehr auf diese Theorie zu stützen. Ich will Sie nicht verurteilen, aber Sie haben jahrelang geglaubt, an einer DIS zu leiden, ohne dass diese Krankheit diagnostiziert wurde."
Natürlich hatte Dr. Conway recht. Eine DIS war bei mir nie diagnostiziert worden. Ich war zwar bei vielen Ärzten gewesen, aber alle hatten mir eine Schizophrenie aufgedrückt, mir Medikamente verschrieben und mich abgeschoben.
Klar, man sollte auf seine Ärzte hören, denn sie wissen bestimmt ein bisschen mehr über Medizin und Krankheiten als man selbst. Aber ich kannte meinen Körper. Ich kannte Beth. Ich wusste, dass etwas an der Schizophrenie-Diagnose nicht stimmen konnte.
Und wie Dr. Conway schon gesagt hatte: Ärzte glaubten schnell mal, allwissend zu sein. Aber das ist niemand.
Ich hatte also das Recht, dass meine Bedenken, was die Schizophrenie-Diagnose anging, ernst genommen wurden. Nur war das nie passiert, deshalb hatte ich mich so in der DIS-Theorie verbissen, weil mir nichts Besseres hatte einfallen wollen.
Ich war nun mal keine Ärztin oder Psychologin. Ich hatte weder Medizin noch Psychologie studiert. Ich war nur ein Mensch, der wissen wollte, was mit ihm los war. Ich hatte nicht wissen können, dass man mehr als nur eine dissoziative Störung separat entwickeln konnte. Wie denn auch, wenn sogar Dr. Conway meinte, dass solche Fälle kaum bekannt waren, weil oft Fehldiagnosen in solchen Situationen gestellt wurden?
Aber da Dr. Conway wesentlich weiter dachte als alle Psychiater, bei denen ich je gewesen war, mir zuhörte, mich ernst nahm und vieles über dissoziative Störungen zu wissen schien, würde ich ihm auf jeden Fall zuhören.
„Also?", fragte ich noch einmal unsicher.
„Ich glaube, dass Jamie durch eine dissoziative Identitätsstörung entstanden ist. Beth aber nicht", meinte er. Beth gab keinen Ton von sich.
„Sie denken doch wohl nicht, dass ich schizophren bin, oder?"
„Nein." Er lehnte sich zurück. „Es gibt noch andere Formen dissoziativer Störungen. DIS ist die schwerwiegendste. Beth ist, denke ich, das Resultat einer DSNNB. Dissoziative Störung, nicht näher bezeichnet."
„Was für ein wissenschaftlicher Name", bemerkte ich sarkastisch, woraufhin Dr. Conway wieder schmunzeln musste.
„Sie wird auch als OSDD bezeichnet. Other Specified Dissociative Disorder. Sie ist ebenfalls Trauma folglich bedingt, und beinhaltet eine Vielzahl von Störungen. Leute, die nicht das volle... Profil für eine DIS vorweisen, werden oft mit DSNNB diagnostiziert. Ein Hauptmerkmal dafür wäre die nicht vorhandene Amnesie. Jede Persönlichkeit weiß zu jeder Zeit, was die andere macht. Merkwürdig bei Ihnen ist lediglich, dass Sie beide immer mitbewusst sind, aber völlig unfähig, zu agieren. Außerdem haben sie bei dem MID Test kaum weitere Anzeichen dissoziativer Störungen aufgewiesen, wie... dass eine vertraute Umgebung plötzlich fremd wirkt, oder Gegenstände kleiner oder größer erscheinen als sonst. Aber richtige Kriterien gibt es für diese Störung einfach noch nicht."
„Okay...?"
„Aber wenn ich alle Faktoren berücksichtige, leiden Sie vermutlich an der Ego-State-Disorder. Diese Störung ist ein Teil der Diagnose für DSNNB. Alle Persönlichkeiten sind miteinander verknüpft, aber reagieren vollkommen eigenständig."
Das klang doch nach etwas, das auf Beth und mich zutreffen würde. Mal abgesehen von der Sache, dass wir nur im Schlaf wechselten.
„Menschen die an einer DIS leiden, merken vor einem Identitätswechsel zum Beispiel, dass ihre Sicht verschwimmt, wenn die wechselnde Persönlichkeit eine Brille trägt. Oder sie haben plötzlich Appetit auf ein Essen, das ihnen sonst nicht schmeckt. Oder ihr Akzent verändert sich. Oder sie fühlen sich, als würden ihnen ihre Gedanken abhandenkommen. Deshalb haben Sie auch nach und nach die Schwimmbewegungen verlernt. Jamie kann vermutlich nicht schwimmen. Und je näher er dem Bewusstsein gekommen ist, desto weiter sind Sie zurückgetreten und nur mitbewusst gewesen."
Ich nahm mir ein paar Sekunden, um das alles zu verarbeiten, aber meine nächste Frage stand schon in den Startlöchern.
„Okay, aber... diese Bristol-Geschichte. Ich habe keine Verbindung zu ihr. Bis gestern wusste ich nicht, dass das jemals passiert ist. Und auch jetzt habe ich so ein komisches Gefühl, wenn ich daran denke. Als wäre es nur ein Traum gewesen, aber doch nicht ganz, verstehen Sie?"
Er nickte. „In seltenen Fällen erleben Betroffene Flashbacks von Dingen, die sie nie selbst erlebt haben."
„Aber wenn Beth und ich immer wissen, was die andere tut, warum war sie dann gestern plötzlich weg?"
Dr. Conway sah mich mit einem undefinierbaren Blick an. „Ich würde an dieser Stelle lieber mit Beth weiterreden, wenn das für Sie beide okay ist." Das irritierte mich ein bisschen, aber ich war ganz froh über die Unterbrechung, denn mir rauchte der Schädel. Beth gab immer noch keinen Mucks von sich.
„Sie kennen sich ziemlich gut mit dissoziativen Störungen aus", bemerkte ich und Dr. Conway schmunzelte.
„Nun ja, ich habe mich darauf spezialisiert, ich will hoffen, dass ich mich gut auf diesem Gebiet auskenne."
„Dr. Cromwall hat Sie hergeholt", meinte ich dann und betrachtete den Psychiater forschend. „Warum?"
„Sie waren so sehr auf die Theorie fixiert, dass Sie an einer DIS leiden, dass er jemanden dabei haben wollte, der das entweder bestätigen oder widerlegen kann."
„Werden Sie Dr. Cromwall von Ihrem Verdacht erzählen?"
Nach kurzem Zögern schüttelte er den Kopf. „Ich möchte erst noch mit Beth reden. Außerdem bleibt diese Jamie-Sache erst einmal unter uns." Er zwinkerte und ich war erleichtert, dass er es wirklich ernst zu meinen schien.
„Ich habe trotzdem noch eine Frage..."
„Bitte."
„Ich... Dieser Flashback war so real." Allein bei dem Gedanken daran schnürte sich mir wieder die Kehle zu. „Ich sehe... wie mein Vater Bristol ertränkt, als wäre es buchstäblich gestern passiert. Warum ist das so? Wie kann sich eine bloße Erinnerung so real anfühlen?"
„Wissen Sie denn, wie Flashbacks entstehen?", fragte Dr. Conway mit zusammengezogenen Augenbrauen.
Ich neigte den Kopf hin und her. „Naja, ich hatte nie welche. Also habe ich mich nie mit ihnen auseinandersetzen müssen."
Er nickte langsam. „Okay, ich versuche es Ihnen so simpel wie möglich zu erklären." Dr. Conway dachte kurz nach. „Sie haben bestimmt schon von der berühmten Fight-or-Flight Situation gehört. Meistens fliehen Menschen vor schlimmen Situationen eher, als dass sie kämpfen. Entweder in dem Sinne, dass sie tatsächlich weglaufen, oder sich in Gedanken abseilen. Manche behaupten sogar, ihren Körper bei traumatischen Erlebnissen zu verlassen. Das Gehirn ist durch den Überlebensdrang und den Stress in solchen Momenten nicht in der Lage zu verarbeiten was passiert." Ich nickte, um ihm zu signalisieren, dass ich ihm noch folgen konnte. „Gut, jetzt stellen Sie sich folgende Situation vor. Es findet ein Autounfall statt, und das Opfer hat kurz vor dem Zusammenstoß mit einem anderen Fahrzeug grelle Lichter gesehen. Vielleicht die Scheinwerfer bei Nacht. Das Gehirn ist nur darauf programmiert, dicht zu machen und zu überleben und verarbeitet nicht, was passiert. Es saugt nur alle Informationen roh auf. Spulen wir jetzt ein paar Monate nach vorne. Das Opfer hat überlebt, ist aus dem Krankenhaus draußen und hat die Ereignisse erfolgreich verdrängt. Dann, eines nachts kommt dem Opfer auf der Straße ein großer Lastwagen mit grellen Scheinwerfern entgegen. Unser Gehirn nimmt sekündlich Informationen auf und sucht daher auch stetig nach Verbindungen und Kategorien, in die es diese Informationen packen kann. Was wird es in dem Fall als erstes zu fassen bekommen?"
„Den Autounfall."
„Genau. Es verbindet das riesige Fahrzeug oder die hellen Lichter mit der unverarbeiteten Information, die sozusagen noch in der Warteschlange steht. Das Gehirn denkt, dass jetzt der perfekte Zeitpunkt ist, diese Informationen zu verarbeiten. Und dann tut es das." Er lehnte sich wieder zurück. „Das ist es, was man unter posttraumatischer Belastungsstörung versteht. Die sogenannten Flashbacks. Nicht verarbeitete Eindrücke, die durch Schlüsselreize wieder hochkommen und vom Gehirn zu den meist ungünstigsten Zeitpunkten verarbeitet werden. Stunden, Tage, Wochen, Monate und sogar Jahre später. Dabei fühlt sich alles so real an, als würde es in diesem Moment wirklich passieren, weil die Umgebung und die Situation perfekt rekonstruiert werden, weil alle Eindrücke noch unverarbeitet vorhanden sind. Da hilft es auch nichts, wenn dem Opfer bewusst ist, dass diese Situation längst vorbei ist. Das Gehirn sagt, dass sie in diesem Moment stattfindet, um sie verarbeiten zu können. Sie haben gesehen, wie Ihr Vater ihr Haustier ermordet hat. Sie waren... wie alt?"
Ich dachte kurz nach. „Vielleicht... Siebeneinhalb?"
„Jamie war in Ihrer Erinnerung auch noch ein Kind. Sowas mitanzusehen wäre schon für Erwachsene schwer verdaulich. Natürlich war das traumatisierend für Jamie. Irgendetwas wird gestern passiert sein, das Jamie mit diesen schlimmen Eindrücken verbunden hat. Das Gehirn ist faszinierend, finden Sie nicht?"
Ich schnaubte. „Wenn ich gestern deshalb nicht beinahe ertrunken wäre, könnte ich Ihre Begeisterung vielleicht teilen. Aber heißt das, sowas kann noch häufiger passieren?"
Er nickte. „Ich gehe sogar davon aus, dass es passiert ist, als Sie Ihren Anfall hatten. Aber wie gesagt, darüber möchte ich lieber mit Beth reden."
Damit entließ er mich, und ich war fertig für heute.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top