32
Ich finde es bis heute seltsam, dass sich die Symptome meiner DIS erst so viele Jahre nach meiner traumatischen Kindheit gezeigt haben. Aber Jamie hatte davor nie Lust gehabt, an die Oberfläche zu schwimmen.
Beth resultierte aus einer anderen dissoziativen Erkrankung, aber dazu kommen wir noch.
Ich weiß bis heute nicht, was Jamie in diesem Moment dazu gebracht hat, aus seiner Höhle zu klettern. Ich weiß nicht einmal, ob er es selbst so genau weiß. Aber irgendetwas an dieser Situation wird er bestimmt mit dem Trauma verbunden haben, sonst wäre Folgendes nicht passiert.
-
Egal wie sehr ich im Wasser strampelte ich kam nicht mehr an die Oberfläche.
„Mom!", rief eine schrille, brüchige Stimme panisch in meinem Kopf, aber ich konnte nicht ausmachen, wem sie gehörte. „Mom! Er ertrinkt!"
Kurz sah ich Bilder in meinem Kopf aufpoppen, aber ich konnte sie absolut nicht zuordnen.
„Bristol ertrinkt! Er ertrinkt! Mommy!"
Plötzlich tauchte ich auf und schnappte nach Luft, aber die Stimme wurde immer lauter, schrie nach meiner Mom und weinte hysterisch, weil sie meinte, dass Bristol ertrank. Ich sah unseren Garten. Ich sah die Wassertonne. Das Wasser rann an den Seiten herunter.
Meine Hände taten weh, ich wusste nur nicht, warum. Dann hörte ich ein hämmerndes Geräusch, als würde jemand gegen Glas schlagen. Bei genauerer Betrachtung merkte ich, dass es meine Fäuste waren, die gegen das Küchenfenster hämmerten. Ich sah, wie meint Vater den schweren Deckel auf die Tonne legte und wegging.
Ich bekam keine Luft mehr. War ich wieder unter getaucht?
In der Spiegelung der Glasscheibe konnte ich einen kleinen, braunhaarigen Jungen erkennen.
„Bristol ertrinkt! Bristol!"
„Anna!" Zachs Stimme drang in mein Bewusstsein, aber ich sah nur die Tonne. Die Tonne. Die Tonne. Ich spürte den Kloß in meinem Hals. Und die schweren Schritte vor der Haustüre als mein Vater sie aufriss und mich schreiend am Küchenfenster entdeckte.
„Anna, hör auf damit! Anna!"
Ich drückte mich in die Ecke. Mein Gesicht war ganz nass vor Tränen und ich schnappte tränenerstickt nach Luft.
„Mom!"
„Halt den Mund!", hörte ich ihn brüllen. „Hör auf wegen diesem Dreckskater zu heulen!" Mein Vater packte mich und ich wand mich in seinem Griff.
„Lass mich los!"
„Anna!" Wieder tauchte ich unter. Es war, als würde mein Kopf explodieren. Ich war in unserer Küche, aber dann auch nicht. Ich spürte die Kälte des Wassers auf meinem Gesicht und gleichzeitig den brennenden Schmerz, als er mir den ersten Schlag verpasste. Wieder tauchte ich auf und rang nach Luft.
„Beth?!", weinte ich. Sie antwortete nicht. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie da war.
„Anna!" Wieder Zachs Stimme. Aber ich konnte ihn nicht sehen, er war nicht da. Was war bloß los? Ich wollte, dass das aufhörte, aber ich wusste noch nicht einmal, was passierte.
„Anna, sag mir, was du sehen kannst, okay? Du musst mir sagen, was du sehen kannst, egal, was du glaubst zu sehen, ist nicht echt, okay? Es ist nicht echt."
Zitternd sah ich mich um. „Da... Da ist das Geschirr vom Mittagessen... und... und die Orangensaftpackung steht auf dem Tisch..." Sogar die kleinen Magnete auf dem Kühlschrank, die Brielle immer gesammelt hatte waren da. Es war so recht, es musste echt sein.
„Anna, du bist nicht dort." Jemand griff nach meiner Hand. Ich linste nach unten. Niemand hielt meine Hand. Mein Vater marschierte die Treppen nach oben, während er weiter schimpfte. „Konzentrier dich, was siehst du da hinten?"
Ich war mir nicht sicher, was Zach meinte, aber dann blinzelte ich verwirrt. Was hatte eine Marmorsäule in unserem Wohnzimmer zu suchen? Und seit wann waren unsere Wände mit griechischen Götterstatuen bemalt. Plötzlich wurde mein Sichtfeld von ziemlich viel Blau überschwemmt. Blau. Wasser. Zach.
Die Watte in meinem Kopf verzog sich.
„Was war das?", weinte ich und drückte mich an ihn. So hatte ich mich noch nie gefühlt. Es war der reinste Alptraum gewesen.
„Ich glaube, du hattest sowas wie ein Flashback", sagte er und klang selbst ein bisschen überwältigt. Während ich mit den Füßen noch nicht den Boden berühren konnte und mich wie ein Äffchen an ihn klammerte, konnte er bereits mühelos stehen und brachte mich aus dem Schwimmbecken. Erst bei den Liegen setzte er mich ab und wickelte erst mein und dann sein Handtuch um mich, bevor er mich wieder in die Arme nahm. Mir war nicht kalt, aber der Schreck saß mir in den Knochen und ich klapperte mit den Zähnen. Der Schock verdrängte das unangenehme Pochen in meinem Schädel, aber je länger ich da saß und mich zu beruhigen versuchte, desto schlimmer wurde der Schmerz.
Ich wäre beinahe ertrunken. Wie hatte ich nur das Schwimmen verlernen können?
„Beth?", versuchte ich es noch einmal.
„Ja?", fragte sie unsicher.
Warum war sie vorhin so plötzlich weggewesen? „Hast du das mitbekommen?"
„Was meinst du?"
„Wunderbar, Jamie hat dich weggekickt. Ich wusste gar nicht, dass er das kann..."
„Wovon redest du? Ich dachte du wärst auch weggewesen." Ich erzählte Beth was passiert war. Was ich gesehen hatte.
„Wer ist Bristol?", fragte Zach irgendwann, weil ich die ganze Zeit über geschwiegen hatte.
„Was?"
„Du hast immer wieder gesagt, dass Bristol ertrinkt."
Wieder stiegen mir Tränen in die Augen. „Er war mein Kater. Er ist weggelaufen, als ich klein war. Aber anscheinend doch nicht. Ich... Ich hab gerade gesehen, wie mein Vater..." Ich schnappte nach Luft. „Er hat Bristol in der Regentonne in unserem Garten ertränkt." In Anbetracht der Umstände schien es mir beinahe lächerlich, darüber zu weinen, weil es so lange her war, aber mein Herz für Tiere war unendlich groß und einem Tier wehzutun, oder es gar zu töten, war für mich unvorstellbar. Was ziemlich paradox war, denn ich war keine Vegetarierin, aber nachdem ich eben erlebt hatte, wie Bristol schreiend und fauchend in der Tonne ertrunken war, würde ich es vielleicht werden. „Er hat einfach den Deckel auf die Tonne gelegt", weinte ich. „Und Bristol hatte keine Chance zu entkommen. Er muss solche Angst..." Ich konnte nicht weiterreden. So sehr hatte ich diesen Kater geliebt und all die Jahre hatte ich gedacht, er sei weggelaufen. Ob meine Geschwister wohl wussten, was wirklich passiert war? Ob das, was ich eben gesehen hatte, Wirklichkeit war? Oder wurde ich wirklich verrückt? Hatte es Jamie erlebt? War er der Junge, den ich in der Reflektion im Spiegel gesehen hatte? Hatte er sich so in Erinnerung?
„Ich will ins Bett", murmelte ich gegen Zachs Brust. Er wollte mich erst nach oben tragen, aber ich musste meine Beine bewegen, um sicher zu stellen, dass ich wirklich wieder in der Realität gelandet war. Dabei zitterte ich so sehr, dass wir doppelt so lange wie sonst auf unser Zimmer brauchten.
Dort tat Zach das, was er immer tat, wenn ich am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand: Er ließ mir ein Schaumbad ein. Und obwohl ich diesmal keine Hühnersuppe bekam, war es trotzdem gut, weil Zach sich mit mir in die Wanne legte. Sie war so groß, dass wir problemlos darin Platz hatten. Ich blies ihm Schaum ins Gesicht und ließ mir von ihm die Haare waschen und eine zwanzigminütige Klopfmassage geben. Ich sag doch: Er verwöhnte mich viel zu sehr. Dann hielt er mich einfach nur von hinten umschlungen und legte sein Kinn auf meine Schulter. Die Stille, die dann aufkam, ließ meine Gedanken wieder zu Jamie wandern.
„Ich sollte dem Psychologen erzählen, was passiert ist", sagte ich leise.
„Welchem?"
„Dem, den Beth heiß findet." Ich hatte mir seinen Namen nicht gemerkt. „Er weiß schon von Jamie, aber ich hab ihn gebeten, sonst niemandem von ihm zu erzählen."
„Warum hast du ihm schon davon erzählt? Ich dachte, das wolltest du erst tun, wenn Jamie sich wieder meldet."
Ich zuckte mit den Schultern. „Weil er mir glaubt, dass ich irgendeine Form von dissoziativer Störung habe. Zumindest hat er das gesagt. Ich glaubte, er würde meine Bedenken am ehesten ernst nehmen."
Als ich meine Hände auf Zachs Unterarme legen wollte, erkannte ich Kratzspuren.
„Oh mein Gott, war ich das?", fragte ich schockiert und deutete auf seinen Unterarm.
„Mach dir keinen Kopf." Er küsste mich auf die Wange. „Du wärst fast ertrunken und dachtest, du bist in deinem Haus. Ist doch normal, dass du..."
„Mich verletzt?", fragte ich ungläubig und wand mich aus seiner Umarmung. „Hab ich dir sonst wo weh getan?" Besorgt wollte ich seinen Körper inspizieren, aber er schüttelte mich ab.
„Du hast mir nicht wehgetan." Er hielt seinen Unterarm hoch. „Ich bitte dich, das ist nichts. Mein Rücken hat schlimmer ausgesehen, als ich mit Beth geschlafen habe."
Mit der Bemerkung brachte er mich zu lachen und ich schmierte ihm wieder Schaum ins Gesicht.
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Damals war noch alles gut. Wir haben gelacht und herum gealbert. Doch schon da habe ich gemerkt, dass sich etwas verändert hat. Ich hab mich nicht mehr so unbeschwert gefühlt. Es kam mir fast vor, als läge ein dunkler Schleier über den Tagen und das lag nicht am Wetter.
Vielleicht lag es daran, dass mir bewusst geworden ist, dass Jamie, als Trauma-Träger, einige Dinge erlebt hat, die ich nicht einmal erahnen konnte.
In dieser Nacht konnte ich lange kein Auge zu tun, weil ich jedes Mal meinen Vater und Bristol und den kleinen Jungen gesehen, sobald ich meine Augen geschlossen habe.
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