22

Den restlichen Abend hockte ich auf meinem Bett und sah alle fünf Minuten auf mein Handy, in der Hoffnung, eine Nachricht von Zach erhalten zu haben.

Hatte ich einen Fehler begangen? Hätte ich die Klappe halten und ihm eine Lüge auftischen sollen? Aber welche Lüge hätte schon erklärt, dass Beth mit Sebastian auf der Terrasse rumgeturtelt hatte, als sei sie ihm hoffnungslos verfallen?

Als plötzlich mein Telefon klingelte, nahm ich den Anruf entgegen, noch bevor ich gelesen hatte, wer es war.

„Hallo?"

„Hey."

Zach! Gott sei Dank! Danke!

Es war still in der Leitung, aber das war mir egal, denn alleine die Tatsache, dass er mich anrief, konnte doch nichts allzu Schlechtes bedeuten, oder? Er rief mich doch wohl kaum an, um mir zu sagen, dass er zu dem Entschluss gekommen war, ich sei eine Lügnerin.

„Also?", fragte ich irgendwann ängstlich.

Er seufzte und sagte wieder lange nichts. Was hatte er bloß die letzten Stunden getan, wenn er jetzt nachdachte, was er mir sagen wollte?

„Möchtest du herkommen?"

Mir blieb das Herz für eine Sekunde stehen, nur, um dann doppelt so schnell weiter zu schlagen. Er hatte diese Worte genau so sanft ausgesprochen, wie er es getan hatte, bevor er mich gehasst hatte.

„Ja!" Ich lächelte so breit, dass mir meine Wangen davon wehtaten. „Ja."

Zwar war ich mir sicher, dass er noch eine Menge Fragen haben würde und mir noch nicht zu hundert Prozent glaubte, aber ich freute mich trotzdem mehr, als ich jemals gedacht hätte, im Stande zu sein.

„Ich bin in fünfzehn Minuten bei dir!", meinte ich, während ich aus dem Bett sprang und die Treppen nach unten rannte. Ich warf ihn aus der Leitung, legte mein Handy auf die Kücheninsel, sprang meine Schwester, die vor dem Herd stand, von hinten an und knuddelte sie. Sie erschrak, aber lachte.

„Lass mich raten. Zach hat sich gemeldet?" Sie drehte sich zu mir und lächelte mich an.

„Danke! Danke!" Ich drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange und rannte lachend aus dem Haus.

-

Ich blinzelte. Mir dröhnte der Schädel, wie bei einem richtig fiesen Kater, der bereits die Charakterzüge von Migräne annahm, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, etwas getrunken zu haben. Meine Sicht war ein bisschen verschwommen. Verwirrt sah ich mich um.

Wo bin ich?

Mein Kopf pochte und ich hatte das Gefühl, als hätte jemand meinen Kopf nur mit Watte vollgepackt, anstatt mit Gedanken.

Total verwirrt versuchte ich in der Dunkelheit auszumachen, wo ich war.

Es war eine enge Gasse. Mit Backsteinen gepflastert. In den Fenstern der hohen Häuser brannte kein Licht.

Ich stand gegen eine Wand gelehnt da und meine Beine fühlten sich schwach an.

Fröstelnd zog ich die Schultern hoch.

„Scheiße", bemerkte Beth. „Wo sind wir? Und wie sind wir hier her gekommen?"

„Ich weiß nicht." Ich schluckte und lief ans andere Ende der Gasse, kam aber nur in einer anderen Gasse raus. Dabei merkte ich, wie sehr mir meine Füße und mein Rücken wehtaten.

„Beth, wo sind wir?" Panisch sah ich mich um. Ich konnte keine Straßenschilder erkennen. Ich tastete meine Taschen ab, aber ich hatte mein Handy nicht dabei. Verdammt, ich hatte es auf dem Küchentisch liegen lassen, als ich das Haus verlassen hatte. Ich hatte nicht einmal meinen Ausweis oder Geld oder eine Fahrkarte dabei, weil ich nur zu Zach hatte gehen wollen. Ich hatte nicht gedacht, eines dieser Dinge zu brauchen. Meine Kehle schnürte sich zu und ich hätte am liebsten zu weinen begonnen.

„Hey", meinte Beth sanft. „Ganz ruhig. Alles wird gut. Langsam atmen."

Erst als sie es sagte, fiel mir auf, dass ich zu hektisch versuchte, Luft in meine Lungen zu pressen. Die ersten Tränen verließen meine Augen.

Es war dunkel.

Meine Füße taten weh.

Es war eiskalt. Mir war immer noch schwindelig und ich hatte das Gefühl, als glitten mir all meine Gedanken zwischen den Fingern hindurch. Eigentlich hätte ich Winterjacke, Schal und Mütze gebraucht, aber ich trug nur meinen Pulli und eine Jeanshose und konnte mir höchstens meine Kapuze über den Kopf ziehen.

Ich hatte keine Ahnung wo ich war, wie spät es war oder welches Datum wir hatten.

Ich war handylos.

Ich war geldlos.

Ausweislos.

„Hör auf damit!", warnte Beth. „Wir müssen nach Hause. Dort kannst du von mir aus melodramatisch zusammenbrechen und dich unter der Dusche vor und zurück wiegen, wie eine Geistesgestörte. Komm schon!"

„Ich kann nicht... Ich kann nicht denken. Was ist hier los?", weinte ich.

„Kein Problem, dann denke ich eben für dich. Such erst mal nach der Hauptstraße."

Ich atmete noch ein paar Mal tief durch und folgte ihrem Rat.

Was war bloß passiert? Ich hatte das Haus verlassen und wäre fast bei Zach gewesen, als mir wieder schwarz vor Augen geworden war. Aber nie hätte ich gedacht, hier aufzuwachen.

Oh Gott, bin ich überhaupt noch in Kanada?

Nach etwa zwanzig Minuten und einem halben Nervenzusammenbruch, kam ich schließlich an einem helleren, belebteren Ort der Stadt an. Einige wenige Menschen tummelten sich hier herum.

„Hey, Moment mal... Das kommt mir hier echt bekannt vor!", rief Beth aufgeregt. „Geh mal da nach hinten!" Ich hörte brav auf sie und ging an dem Brunnen vorbei, zu der Hausecke, an der ein Gasthaus war. Mein Magen knurrte. Heute Nachmittag hatte ich zum letzten Mal gegessen. Das Vanilleeis, weil ich nach dem ganzen Stress mit Zach nichts hinunterbekommen hatte.

„Das ist die Gegend, in der Sebastian wohnt! Wir sind hier einmal spazieren gegangen! Ich denke, ich weiß, wie wir von hier aus nach Hause kommen!"

Glatt hätte ich heulen können. Ich hatte die Gegend nicht erkannt. Während ich Beth als Navi benutzte, fragte ich mich wieder, wie zum Teufel ich hier gelandet war.

Am Bushäuschen angekommen, sah ich mir die Uhrzeiten an der kleinen Tafel an.

„Wenn wir nur wüssten, wie spät es ist..." Ich sah mich um, aber hier war niemand mehr, den ich hätte fragen können. Das wiederum gab mir den bösen Verdacht, dass es vielleicht zu spät war, um mit dem Bus zu fahren. Ich verdrängte den Gedanken und setzte mich vor Kälte und Stress zitternd auf die Bank.

„Du holst dir ne Blasenentzündung. Das ist eine eiskalte Metallbank", meinte Beth, also stand ich wieder auf.

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich vor dieser blöden Bank stand, zitterte und nach dem Bus Ausschau hielt. Meine Gänsehaut begann bereits wehzutun und ich spürte meine Finger nicht mehr. Meine Lippen waren trocken und aufgesprungen. Der Wind war ekelhaft und obwohl sich meine Gedanken langsam manifestierten und der komische Wattenebel lichtete, hatte ich das Gefühl, gleich wieder umzukippen.

„Glaubst du, können wir nach Hause laufen?", fragte ich irgendwann.

„Machen deine Füße das denn mit? Es würde nämlich dauern", entgegnete Beth und ich hätte wieder fast zu weinen begonnen, wenn in diesem Moment nicht ein Taxi um die Ecke gebogen wäre. Eines, in dem außer dem Fahrer niemand saß. Ich sprang an den Straßenrand und winkte es zu mir. Das Fahrzeug hielt an und ich ließ mich auf die Rückbank gleiten. Kurz genoss ich die Wärme, bevor ich mich mit tauben Händen anzuschnallen versuchte und dem Fahrer meine Adresse nannte.

Nichts wünschte ich mir in diesem Augenblick mehr, als ein Schaumbad, Hühnersuppe und Zach. Warum ich nicht seine Adresse genannt hatte? Weil ich keine Ahnung hatte, welchen Tag wir hatten oder wie spät es war. Weil ich nicht Gefahr laufen wollte, vor dem Zaun stehen gelassen zu werden, weil er genug von mir hatte.

Der Gedanke daran, dass bei Menschen mit einer DIS Identitäten über Monate die Kontrolle behalten konnten, jagte mir eine Scheißangst ein. Klar, es war selten, aber selten heißt, dass die Wahrscheinlichkeit größer als Null ist und damit immer noch verdammt gut möglich.

Ich fuhr mir unter der Kapuze durch die Haare. Definitiv nicht mehr frisch gewaschen. Aber ich roch nicht wie eine Obdachlose, das war vielleicht ein gutes Zeichen. Ich bemerkte erst jetzt, dass die Sachen, die ich trug, gar nicht meine waren. Sie waren viel zu groß.

„Wo bist du nur gewesen?", flüsterte ich zu mir selbst und sah dann nach vorne zum Fahrer. „Können Sie mir sagen, wie spät es ist?" Das klang vermutlich weniger verrückt, als nach dem Tag zu fragen. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

„Fast drei."

Kein Wunder, dass die Busse keine Lust mehr zum Fahren gehabt hatten.

Nach einer knappen Stunde kamen wir bei mir zu Hause an. Bei dem Anblick des Hauses hätte ich direkt wieder zu Heulen beginnen können, aber ich riss mich zusammen.

Du bist zu Hause. Alles wird gut, versicherte ich mir.

Da ich absolut kein Geld in der Tasche hatte, bat ich den Fahrer kurz zu warten, kletterte aus dem Taxi und lief, so schnell mein Rücken und meine wunden Füße es zuließen, zu meinem Haus. Die Lichter im Wohnzimmer brannten noch, was mich verwunderte. In der Dunkelheit erkannte ich zwei Autos. Eines davon war Owens Mietwagen. Wem gehörte das zweite? War Zach hier? Ich konnte nicht erkennen, was für ein Wagen es war und hatte auch keine Lust auf nähere Inspektionen.

Sobald ich die Türe geöffnet hatte, fiel mir jemand um den Hals, den ich in dem Augenblick aber noch gar nicht identifizieren konnte. Ich sah Owen mit einem erleichterten Gesichtsausdruck vom Küchentisch aufstehen und Brielle rutschte von der Kücheninsel. Also war es Jed, der mich an sich drückte, als wolle er mich umbringen. Er war zwar jünger, aber um einiges stärker.

„Mach das nie wieder!", brachte er erstickt vor. Weinte er? „Ich dachte, du wärst weggelaufen, so wie Mom!"

„Wow", bemerkte Beth. „Die Pestbeule hat sich Sorgen um uns gemacht. Geschieht ihm recht."

Doch während sie sich in ihrer Schadenfreude suhlte, drückte ich Jed an mich und fragte ich mich, ob es das war, das mit unserer Mutter passiert war. Ob sie vielleicht dasselbe durchgemacht hatte wie ich, und eines Tages an einem fremden Ort aufgewacht war und entschieden hatte zu bleiben.

Aber ich hätte so etwas nie getan, und es machte mich traurig, dass Jedrek das dachte. Er hielt mich lange und mir wurde klar, dass ich manchmal vergaß, dass er immer noch ein Kind war. Als er mich schließlich losließ wischte er sich mit dem Ärmel über die Augen.

„Mach das nie wieder!", wiederholte er noch einmal. Entschuldigend drückte ich seinen Arm. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Ich wusste ja nicht einmal, was passiert war.

Aus unerfindlichen Gründen fiel mir Zach erst auf, als ich fragen wollte, wie lange ich weggewesen war. Ihn zu sehen, brach den Damm endgültig und ich brach in elende Schluchzer aus. Vielleicht, weil er hier war, obwohl er nicht hier hätte sein müssen. Vielleicht deshalb, weil er der Einzige war, der aufgrund meiner Erzählungen ahnen konnte, wo ich gewesen war, aber gleichzeitig eindeutig an meiner Treue zweifelte. Vielleicht, weil ich ihn, von allen Menschen der Welt, jetzt gerade am meisten hier haben wollte. Ich lief zu ihm, schlang meine Arme um seinen Hals und nach ein paar überwältigenden Schrecksekunden drückte er mich ebenfalls fest an sich.

„Ich liebe dich!" Es war wahrscheinlich der denkbar ungünstigste Zeitpunkt, diese Worte auszusprechen. Was heißt sprechen? Ich konnte gar nicht sprechen, vor lauter Tränen und Schluchzern, aber ich wiederholte die Worte immer und immer wieder, bis sie schon gar keinen Sinn mehr ergaben, weil ich Angst hatte, dass Zach sie nie zu hören bekommen würde, wenn ich auf den richtigen Moment warten würde. Weil ich Angst hatte, noch einmal zu verschwinden und nie wieder zurück zu kommen.

Irgendwann hupte das Taxi, das ich vollkommen vergessen hatte. Ich löste mich von Zach und wischte mir die Tränen weg, was ziemlich sinnlos war.

„Ich bin mit... dem Taxi... hergefahren", schniefte ich, immer noch nach Luft schnappend.

„Ich mach das", sagte Zach sofort und wollte nach draußen, aber Owen war schneller und bedeutete ihm, bei mir zu bleiben. Während er das Haus verließ, kam Brielle zu mir und drückte mich kurz.

„Wo bist du gewesen? Wir haben uns solche Sorgen gemacht!"

Ich schüttelte den Kopf und die Tränen verließen erneut meinen Augen. Noch nie war ich froher und erleichterter gewesen, wieder zu Hause zu sein.

„Keine Ahnung... Ich weiß nur noch, dass ich heute Nachmittag das Haus verlassen habe und-"

„Heute Nachmittag?", fragte Brielle und zog irritiert die Augenbrauen zusammen. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit, als ich auch die verwirrten Blicke von Jed und Zach bemerkte. „Anna, du warst drei Tage weg."

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