21
Zachs Reaktion war gar keine Reaktion. Er sah mich einfach nur irritiert an.
„Du musst mir schon noch ein bisschen mehr Kontext geben."
„Manchmal, wenn... wenn ich schlafen gehe, wache ich nicht als Anna auf. Sondern als Beth." Ich ließ ihn nicht aus den Augen. „Wenn das passiert, dann habe ich keinerlei Kontrolle über mein Handeln. Beth verschwindet erst wieder, wenn sie einschläft." Mehr hatte ich fürs Erste nicht zu sagen, also wartete ich still und nervös Zachs Reaktion ab.
Nach einer Weile hob er die Augenbrauen. „Das ist mit Abstand die absurdeste Ausrede fürs Fremdgehen, die ich je gehört habe", meinte er langsam.
Ich stieß mutlos den Atem aus und sah aus dem Fenster. War doch klar, dass er mich wie alle anderen für verrückt halten würde. Tränen brannten mir in den Augen. Weil ich frustriert war und wütend und traurig und Zach mir nicht glaubte, obwohl ein klitzekleiner Teil von mir gehofft hatte, dass er es würde.
Deshalb hasste ich Hoffnung so sehr.
„Rede weiter."
Ich hob schlagartig den Kopf und sah ihn ungläubig an. Er musste bemerkt haben, dass ich gegen die Tränen ankämpfte, aber er ließ sich nichts anmerken. Aufgrund der Tatsache, dass er sich den ganzen Wahnsinn noch weiter anhören wollte, hätte ich glatt noch mehr heulen können. Aber ich riss mich zusammen und überlegte, wo ich beginnen sollte.
„Als wir uns das erste Mal getroffen haben -als du das Geschirr zertrümmert hast- war ich Anna. Die, die ich jetzt bin. Dann haben wir uns wieder getroffen. Im Biscotti&Cie. Da war ich auch Anna." Ich schluckte und versuchte, seinen wachsamen Blick zu deuten. „Aber als wir im Wald waren, war es Beth, mit der du dich getroffen hast." Mein Mund war trocken und meine Worte kratzten wie Tannenäste in meinem Hals, aber ich zwang mich dazu weiterzureden. „Ich habe ihr gesagt, dass sie sich mit dir treffen soll, weil ich dich wieder sehen wollte. Und sie hat größtenteils gesagt, was ich wollte. Aber ich hab ihr nicht gesagt, dass sie mit dir schlafen soll, das war ihre Entscheidung, damit das klar ist." Er bewegte sich immer noch nicht. Ich schluckte trocken. „Du hast nicht mit mir geschlafen, nicht wirklich. Es war Beth. Aber dann ist sie eingeschlafen und ich bin als ich aufgewacht. Deshalb wollte ich schnell verschwinden, weil ich..." Ich sah auf den lächerlich ordentlichen Schreibtisch. „Beth hat gesagt, dass du ohnehin nicht mehr als Sex wolltest und ich hab ihr geglaubt, deshalb hab ich deine Anrufe ignoriert. Als du dann vor meinem Haus gestanden bist, war es Beth, die die Türe geöffnet hat. Ich hab ihr gesagt, sie soll dich loswerden, aber dann hast du gesagt, dass du mich magst und ich mochte dich auch und hab gehofft, dass du von mir und nicht Beth geredet hast, also hab ich ihr gesagt, sie soll sich raushalten und mich das regeln lassen. Also hat sie dich weggeschickt und ich habe dir am nächsten Tag geschrieben. Seit dem hab ich versucht, mich nur dann mit dir zu treffen, wenn ich auch wirklich ich war. Das ist mein Leben und Beth hat sich, so gut sie konnte rausgehalten." Zachs Blick brannte förmlich auf meiner Haut und ich begann mir nervös die Hände zu kneten. „Aber dafür musste ich mich aus ihrem Leben raushalten. Sie ist eine kleine, sexfanatische Schlampe, das hast du vielleicht gemerkt, als ihr im Wald wart. Und dann in deinem Auto. Und dann in deinem Bett." Ich rieb mir die Stirn, weil ich das Gefühl hatte, dass diese Erklärung eine völlig falsche Richtung einschlug.
„Ich glaub, er hat verstanden, dass du ihm den Sex mit mir übel nimmst", schaltete sich Beth ein.
„Tu ich doch gar nicht", brummte ich. „Ich nehme ihn dir übel."
Ich stieß den Atem aus. „Jedenfalls ist die ganze Beth-Sache auch der Grund, warum ich an Thanks Giving nicht mit dir nach New Jersey wollte", fuhr ich weiter fort. „Ich hab keine Angst vor dem Fliegen. Es lag daran, dass ich Angst hatte, genau an diesem einen Tag nicht Anna zu sein. Und Beth macht mir immer alles kaputt!"
„Hey!", rief Beth.
„Stimmt doch!", entgegnete ich, aus Versehen laut, und biss mir sofort auf die Zunge, weil es wirklich oberpeinlich war, vor Zach mit einer Stimme in meinem Kopf zu streiten. Er warf mir auch einen dementsprechend seltsamen Blick zu. Ich beschloss, nicht weiter auf diesen Ausrutscher einzugehen. „Wenn sie auch nur einen Tag die Kontrolle hat, baut sie so unfassbar viel Scheiße, dass ich einen Monat lang damit beschäftigt bin, alles wieder gerade zu biegen. Die Sache mit Sebastian war auch sie. Er ist ihr... nicht Freund, aber sie hatten was miteinander. In Wirklichkeit geht er ihr zwar am Arsch vorbei, aber-" Schon wieder die falsche Richtung. Angestrengt stöhnte ich auf und hob beschwichtigend die Hände. „Was ich sagen will: Ich hab dich nicht betrogen." Ich sah ihm fest in die Augen und hoffte, aufrichtig zu wirken. „Das würde ich niemals tun. Und ich weiß, dass es wie eine billige, verrückte Ausrede klingt, aber... Es war Beth." Ich zuckte mit den Schultern und brach den Blickkontakt wieder ab, weil ich Angst hatte, gleich denselben argwöhnischen Blick in ihnen zu erkennen, den ich in den Augen meiner Psychiater wahrgenommen hatte.
„Wer... Was ist Beth?", fragte Zach irgendwann. „Bist du... schizophren?" Es war keine spöttische Frage, sondern eine vollkommen ernst gemeinte, aber dennoch unsichere und verwirrte.
„Ich war schon bei so vielen Psychiatern, Psychologen, Neurologen, Ärzten und was weiß ich. Aber keiner kann mir wirklich helfen oder sagen, was es ist. Die meisten haben bei mir eine Schizophrenie diagnostiziert, ja. Aber das erklärt nicht, warum Beth die volle Funktion von meinem Körper übernehmen kann, wenn ich einschlafe. Die Medikamente, die Ärzte mir verschreiben, sind immer dieselben und helfen nicht." Ich wusste nicht einmal, ob ich wollte, dass sie halfen. Ja, Beth machte mir mein Leben schwer, und oft wünschte ich mir, sie wäre nicht da, aber eben nur für eine absehbare Zeit. Nicht für immer. „Ich bin auch schon mit dem Verdacht einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung zu Psychiatern gegangen, aber sie meinten alle, dass ich nicht die Kriterien einer DIS erfülle. Beth ist vier Jahre älter als ich. Wenn sie in den Spiegel sieht, ist das Bild für sie ein wenig befremdlich. Und sie hat eine Haselnussallergie. Ich hab keine. Sie mag Schokolade und Süßkram, und ich hasse das Zeug eigentlich. Sie kann die volle Kontrolle über mein Handeln übernehmen und ihre Entscheidungen durchsetzen. Sie trägt eine Brille oder Kontaktlinsen, ich nicht. Das alles spricht zwar für eine dissoziative Persönlichkeitsstörung, aber sie war noch nie zwei Tage hintereinander präsent und wechselt eben nur mit mir Position, wenn ich schlafe. Bei Menschen mit einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung, wechseln die Identitäten meist aufgrund von Schlüsselreizen, mehrmals am Tag. Und die Persönlichkeiten, die gerade nicht im Bewusstsein sind, weißen Amnesie und Gedächtnislücken auf. Manchmal wissen die unterschiedlichen Identitäten gar nichts voneinander. Manchmal bleibt eine DIS jahrelang unentdeckt, bis ein traumatisches Ereignis die bestehenden Persönlichkeiten dazu zwingt, in den Vordergrund zu treten und sich bemerkbar zu machen. Und Menschen mit einer DIS können nicht permanent mit all ihren Persönlichkeiten kommunizieren. Identitäten treten meist in den Hintergrund, wenn jemand anderes die Kontrolle hat, außer man ist mit im Bewusstsein, aber das ist bei mir nicht so, Beth ist immer da. Sie war immer da. Zumindest kann ich mich an keine Zeit ohne sie erinnern. Ich kann sie immer in meinem Kopf hören, deshalb denken die Ärzte, dass ich einfach nur schizophren bin. Aber bei einer Schizophrenie nehmen Betroffene Stimmen von außen wahr, nicht von innen. Deshalb bin ich mir sicher, nicht schizophren zu sein. Und eine DIS und Schizophrenie sind zwei völlig unterschiedliche Krankheitsbilder. Schizophrenie ist eine endogene Psychose. Eine chemische Imbalance im Gehirn, die Halluzinationen, Ich-Störungen oder Wahnvorstellungen wie Verfolgungsangst auslösen kann. Eine DIS wird durch die Unterbrechung der integrativen Funktion des Bewusstseins, der Identität, der Wahrnehmung und des Gedächtnisses ausgelöst. Durch Kindheitstraumata. Und da die Medikamente gegen eine Schizophrenie bei mir meine Symptome nicht lindern..." Ich brach ab, weil mir auffiel, dass ich Zach mit vielen medizinischen Details bombardierte. Aber ich hatte das Gefühl, Zach nur überzeugen zu können, wenn ich so lückenlos wie möglich berichtete.
Ich meine, ich war schon ein bisschen verrückt, aber nicht verrückt genug, um mir eine zweite Person in meinem Schädel auszudenken, damit Zach mich nicht verließ.
Natürlich war Beth so oder so nur eine Kreation meines Gehirns und beide Krankheiten -sowohl DIS als auch Schizophrenie- konnten gravierende Ausmaße annehmen. Aber sie war trotzdem real. Sie war real für mich. Sie war ein Teil von mir, ob sie nun eine Halluzination war, oder eine andere Persönlichkeit, oder sonst was. Für mich war sie real und ich denke nicht, dass jemand das Recht hatte, mir zu sagen, dass es anders war.
Aber jemand, der dieses Gefühl nicht kennt, versteht es nicht, deshalb hätte ich Zach keinen Vorwurf gemacht, wenn er mich aus seinem Büro gebeten hätte.
„Aber ja: Ich bin psychisch gestört, so oder so", nickte ich niedergeschlagen. „Eine Verrückte, mit der du eigentlich nicht deine Zeit vergeuden solltest. Und es ist super egoistisch von mir, hier zu sitzen und von dir zu erwarten, dass du mir diese Geschichte abkaufst, aber ich tu es, weil ich dich-" Liebe. Das Wort hatte mir bereits auf der Zunge gelegen, aber es war mir wie der völlig falsche Zeitpunkt vorgekommen, um es auszusprechen.
Zach atmete kontrolliert durch und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Was ist mit deinem Anfall? Hatte... Beth etwas damit zu tun?"
Ich schüttelte den Kopf. „Eine Freundin... Eine andere Persönlichkeit einer Freundin von mir denkt, dass es eine mir unbekannte Identität war, die ausgerastet ist. Die durch einen Schlüsselreiz an die Oberfläche geholt wurde. Aber um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was passiert ist."
„Ist sie...", begann er unsicher. „Ist Beth auch jetzt da? Ich meine... kannst du sie hören?"
„Ich bin immer da", lachte Beth, beinahe boshaft, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht die Augen zu verdrehen. Stattdessen nickte ich.
„Manchmal tut sie mir den Gefallen und hält die Klappe. Aber ich kann immer mit ihr kommunizieren." Es auszusprechen bereitete mir Bauchschmerzen. Plötzlich wirkte es um einiges realer, weil ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, dass ich diese Geschichte jemandem erzählte, der mich nicht für vollkommen daneben hielt.
„Glaubst du mir?", fragte ich schließlich und Zach fixierte einen Punkt auf seinem Schreibtisch.
„Ich weiß nicht."
Er hat nicht Nein gesagt!
In mir machte sich wieder widerliche Hoffnung breit.
„Es ist ziemlich verrückt. Ich muss drüber nachdenken..."
Ich liebte ihn und wollte nicht, dass er mich verließ. Aber ich hätte es ihm nie verübeln können, wenn er es getan hätte.
Ich nickte. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Seine abschließenden Worte verstand ich als Aufforderung zu gehen, also stand ich auf und verließ sein Büro.
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